piwik no script img

Sexuelle Gewalt an KindernEin deutschlandweiter Komplex

Unter „Bergisch Gladbach“ wurden Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder bekannt. Ermittler*innen sprechen jetzt von unvorstellbaren Ausmaßen.

Alsdorf, NRW, im November: Hausdurchsuchung bei einem Verdächtigen im Komplex Bergisch Gladbach Foto: Dagmar Meyer-Roeger/dpa

Es ist womöglich der größte der in jüngster Zeit bekanntgewordenen Fälle sexueller Gewalt an Kindern: Bergisch Gladbach. Benannt ist der Komplex nach dem Ort der ersten Hausdurchsuchung. Im Oktober 2019 stieß die Polizei in Nordrhein-Westfalen bei einer Durchsuchung eines Verdächtigen auf einen regelrechten Ring organisierter Kriminalität. Ermittler*innen folgen Tausenden Datenspuren: Videos, (Gruppen-)Chats im In- und Ausland. Jetzt wird klar: Es gibt rund 30.000 Täterspuren, also potenzielle Täter*innen – in allen Bundesländern.

Einer der grausamsten Aspekte dabei ist die Kommunikation der Beteiligten. Diesen scheint jegliches Maß an Selbstzweifel und Reflexion darüber, was sie da im Netz tun, abhandengekommen zu sein. „Die Selbstverständlichkeit, wie in diesen netzbezogenen Kommunikationsforen über Kinderpornografie und Missbrauch gesprochen wird, lässt erahnen, dass aufgrund des ständigen Darüber-Sprechens viele Beteiligte ihr Verhalten als normale sexuelle Präferenz empfinden“, fasst Markus Hartmann, Leiter der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen, die Ermittlungsergebnisse in den Chats zusammen.

Weniger professionell und zugespitzt ausgedrückt, lässt sich das so umschreiben: Die Beteiligten geilen sich an den Bildern brutaler Gewalt an Kindern und an ihren eigenen in Worte gefassten Fantasien auf. Sie genießen das Leiden der zum Teil sehr kleinen Kinder und scheinen am Ende komplett vergessen zu haben, dass jede sexuelle Handlung an Kindern ein absolutes Tabu ist. Kurz: Sex mit Kindern halten sie für das Normalste der Welt.

Über die Täter*innen ist (noch) nicht viel bekannt, weil sie im Netz anonymisiert kommunizieren. Wobei gemäß kriminalistischen Erkenntnissen davon ausgegangen werden darf, dass sie zum größten Teil männlich sind. Nur ein Teil von ihnen dürfte an einer „Störung der Sexualpräferenz“ leiden, wie die Weltgesundheitsorganisation das Phänomen bezeichnet – sprich, für die Neigung, Sex mit Kindern haben zu wollen, nichts können.

Lieber einmal zu viel mutmaßen, als ein weiteres Kind gefährden

Wie viele Menschen davon betroffen sind, ist nicht genau bekannt. Manche Expert*innen schätzen, dass etwa ein Prozent der (männlichen) Bevölkerung entsprechende Neigungen haben könnte. Man kann also getrost davon ausgehen, dass die meisten der Beteiligten der „Causa Bergisch Gladbach“ über eine Sexualität verfügen wie fast alle anderen Männer auch.

Als Gesellschaft damit umgehen

Damit erlangt dieser Fall, der selbst den hartgesottensten Ermittler*innen die Sprache verschlagen hatte, eine neue Dimension. Behörden und Justiz haben es mit Menschen zu tun, die an Skrupellosigkeit und Machtgebaren gegenüber Wehrlosen kaum zu übertreffen sind. Die menschliche Regungen offenbar kaum noch verspüren, sich aber – durch die Anonymität des Netzes – in Sicherheit und vor allem Selbstsicherheit wiegen.

Wie geht eine Gesellschaft damit um? Mit schärferen Gesetzen allein ist es in diesem Fall nicht getan. Wenngleich harte Strafen bei jeglicher sexueller Gewalt als Signalwirkung grundsätzlich nicht falsch sind. Vielmehr steht die Frage im Raum, wie Kinder, Jugendliche und andere Wehrlose vor sexueller Gewalt besser geschützt und auf Gefahren dieser Art im Netz vorbereitet werden können? Kitas, Schulen, Sportvereinen, Kirchen, Eltern kommt hier eine noch größere Verantwortung zu.

Aber das reicht bei Weitem noch nicht. Jugendämter müssen mehr speziell geschultes Personal haben, um schon bei den ersten Anzeichen in einer Familie, in einem Heim, einer Schulklasse eingreifen zu können. Polizei und Justiz brauchen mehr eigens für sexuelle Gewalt ausgebildete Mitarbeiter*innen, die solche Fälle nachhaltig verfolgen.

Jedes Bundesland braucht sogenannte Missbrauchsbeauftragte und mehr Beratungsstellen. Und zu guter Letzt hängt es von der eigenen Sensibilität ab, ob jemand die zumeist vorsichtigen Zeichen betroffener Kinder erkennt, diese ernst nimmt und offen damit umgeht: einen Verdacht offen aussprechen, Nachbarn, Lehr- und Kitakräfte benachrichtigen, Behörden einschalten. Lieber einmal zu viel „mutmaßen“, als ein weiteres Kind zu gefährden.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

19 Kommentare

 / 
  • Wenn wir dafür sorgen würden, dass weniger Kinder in prekären Lebens- Wohn- und Bildungsverhältnissen aufwachsen müssen, könnten wir auch (neben der Bekämpfung dieses Unwesens) die Kinder stärken, sich zur Wehr zu setzen und ein Umfeld für Vertrauen zu Gesprächen schaffen.

  • "Lieber einmal zu viel „mutmaßen“, als ein weiteres Kind zu gefährden."

    Diese Herangehensweise kann aber auch ganz schnell in böse Richtung entgleiten. Siehe bspw. das unterschwellige Misstrauen, dem sich viele männliche Erzieher ausgesetzt fühlen.

    • @Malte Kuller:

      ganz wichtiger Punkt. Eine solche Gesellschaft, in der jeder stets verdächtig ist, die schlimmsten Dinge im Schilde zu führen, wenn es um Kinder geht, wäre ein Horror.



      Zumal selbst dann die häufigste Variante - dass der Missbrauch im häuslich-familiären Umfeld stattfindet - nicht ausgeschlossen wäre.

  • "[...] Man kann also getrost davon ausgehen, dass die meisten der Beteiligten der „Causa Bergisch Gladbach“ über eine Sexualität verfügen wie fast alle anderen Männer auch."

    Wieso das?



    Woran machen Sie das fest?



    Ist der Gedanke nicht wesentlich logischer, dass gerade Männer mit dieser Störung der Sexualpräferenz solche Gruppen suchen? Gerade wenn über die Täter noch nicht viel bekannt ist. Es kann natürlich gut sein, dass unter den Tätern auch Leute ohne diese Störung sind, aber ob man davon "getrost ausgehen kann" finde ich fragwürdig.

  • Da frage ich mich doch leise, wo die, die jetzt so schockiert sind, die letzten Jahrzehnte wohl gelebt haben mögen. Über Szene und Vernetzungen der Pädokriminellen kann sich spätestens seit den frühen 80ern informieren, wer möchte/sich dem gewachsen fühlen oder muss.



    An deren Skrupel- und Rücksichtslosigkeit dürfte sich nichts geändert haben. Sehr wohl aber an den Kommunikationsmöglichkeiten, seit ihnen das Internet zur Verfügung steht.



    Wo ist da die große Überraschung?



    Und ich frage mich auch seit Jahrzehnten, wann dieses Wissen und die Einsicht der Notwendigkeit zu konsequentem Handeln dagegen endlich mal in der Mitte der Gesellschaft ankommen mag.



    An schlechten Tagen fürchte ich allerdings, dass die sexuelle Ausbeutung von Kindern so sehr zu dieser Gesellschaft gehört, dass das nie der Fall sein wird.

  • Für den deutschlandweiten Komplex wurde in den 80ern der Grundstein gelegt:



    www.welt.de/politi...rklaerungsnot.html

    • @Günter:

      Das ist seit langem bekannt, - Grüne und viele Linke aus den 70gern dürfen als Wegbereiter gesehen werden. z.B Herr Trittin.



      Obskure Ideen aus der 68ger Generation, die jeder gesunde Menschenverstand ablehnt, wurden salonfähig.



      Ideologisch legitimiert, hat sich durch das Internet nun ein Schneeballeffekt ergeben.

    • @Günter:

      Das ist sachlich falsch. Pädokriminelle versuchen bereits seit langer Zeit, ihren Anspruch auf Kinder zu legalisieren. Die Grünen wurdennur ausgenutzt. Siehe auch die "Knabenliebe" der alten Griechen. Nachzulesen bei Florence Rush " Das bestgehütete Geheimnis",

  • "Wie geht eine Gesellschaft damit um? Mit schärferen Gesetzen allein ist es in diesem Fall nicht getan."

    Nein, das ist nicht effektiv.

    Aber es gibt andere technische Möglichkeiten, solchen Unmenschen auf die Spur zu kommen.

    Das Problem ist, die würden nicht bei diesem Verbrechen bleiben.

    Wenn man dem Fischer ein besseres Netz gibt, wird er immer mehr "Beifang" haben, siehe aktuelle Corona Datenblätter in Lokalen und deren gewünschte Nutzung.

    Die Frage ist, was ist uns der eine Kampf wert und was die Verluste auf der anderen Seite?

    • @Sven Günther:

      Bei den Corona Datenblätter ging es nicht um Beifang sondern um Hilfsfischer (Zeugen) zwecks besserer Bestimmung des Fangguts.

      Bei der Verbesserung der technischen Möglichkeiten in Punkto Verfolgung von Kindesmissbrauch stellt sich mir die Frage, was das sein soll. Gegen mehr Personal und besserer technischer Ausrüstung für diesen Bereich gibt es m.E. nichts einzuwenden.

    • @Sven Günther:

      wo wir beim Thema sind - vor wenigen Tagen gab es ein hervorragendes Interview hier in der Taz mit einer Professorin, die sich klar gegen verschärfte Strafen aussprach, ich meine es war Frau Frommelt.

      Was aber aus meiner Sicht sehr wichtig ist, dass das Entdeckungsrisiko erhöht wird und das braucht bessere strafprozessuale Maßnahmen. Sonst werden die "armen Schweine" erwischt und immer höher bestraft und die Schwerkriminellen, die systematisch und kommerziell Kinder ausbeuten, kommen ungeschoren davon.

  • Das alles ist entsetzlich.

    Dieser Artikel verzichtet leider komplett auf die Betrachtung der Täter. Was ist in ihren Biographien passiert? Wie kann ein solches Verhalten erklärt werden. Ich fühle mich manchmal wie in der Steinzeit, wenn über Menschen wie eiskalte, gezüchtete und unveränderliche Dämonen gesprochen wird. So ist doch schon lange belegt, dass Gewalt, Aggression, Demütigung, Hass usw. eine Ursache haben. Und diese Ursachen lassen sich finden, bekämpfen und eindämmen. So kann man das furchtbare Leid unterbinden und reduzieren, welches den Kindern widerfährt. Welche im übrigen selbst beste Chancen haben, diesen ganzen Scheiß selbst einmal auszuleben.

    • @jaybob:

      Klingt für mich ein bisschen wie "Metzger sind auch nur arme Schweine".



      Auch wenn der Vergleich natürlich unpassend ist.

    • @jaybob:

      Die Täter haben sich bei allen Prägungen auch für die Ausübung von Gewalt entschieden und sind für diese Entscheidung verantwortlich. Besonders dann, wenn sie damit Profit machen. Übrigens werden Betroffene von sexueller Gewalt beileibe nicht so automatisch TäterInnen, wie man meinen könnte. Vielmehr schlagen wir uns mit Konzentrationsschwierigkeiten, Suchtproblemen und anderen Spätfolgen herum.

    • @jaybob:

      Der Artikel beschäftigt sich doch mit den Tätern, etwa der Frage, wie viele von ihnen wirklich pädophile Neigungen haben.

      • @Dr. McSchreck:

        Ich nehme an, Jaybob geht es dabei vornehmlich um die Frage, wie Präventationsarbeit aussehen kann, die die Zahl der zukünftigen TäterInnen verringert.

        Anstatt, was natürlich durchaus nachvollziehbar ist, vornehmlich oder gar ausschliesslich Präventationsarbeit zur Verringerung der Opferzahlen zu betreiben.

  • Dass Pädokriminelle den Zugriffsanspruch auf Säuglinge und Kinder für ihr Recht halten, ist ein sehr alter Sachverhalt. Diese Mentalität wird lediglich durch die Chats offensichtlich. Wenn denn tatsächlich schärfere Strafen und erhöhter Ermittlungsdruck entstehen sollten, wird auch der Backlash nicht lange auf sich warten lassen. Erinnert sich noch jemand an die Artikel von Frau Rutschky oder den "Missbrauch mit dem Missbrauch " ?

    • @aujau:

      auch den gab und gibt es nach wie vor, gerade in Scheidungsverfahren. Mir hat mal eine Mutter in einem Verfahren erzählt, ihr wäre das "geraten" worden....(zum Glück nicht von ihrer Anwältin, sondern online).