Osten der Ukraine rüstet sich: Der Widerstand von Charkiw
Die Stadt in der Ostukraine könnte neues Ziel eines russischen Großangriffs werden. Und die Menschen? Eindrücke aus einer Frontstadt.
![Eine alte Frau geht am Stock, hält Tassen in den Händen, schummriger Keller Eine alte Frau geht am Stock, hält Tassen in den Händen, schummriger Keller](https://taz.de/picture/5495620/14/29881979-1.jpeg)
Charkiw gehört bereits heute zu den Städten in der Ukraine, die am schlimmsten von den russischen Angriffen betroffen sind. Offiziellen Angaben zufolge wurden hier seit Beginn des Krieges mehr als 300 Zivilist*innen verletzt und Dutzende getötet. Die genaue Anzahl, auch derer, die spurlos verschwunden sind, ist unbekannt. Nach Angaben der Stadtverwaltung sind in Charkiw von 8.000 mehrstöckigen Wohnhäusern mehr als 1.200 teilweise oder komplett zerstört. Das Gleiche gilt für 69 Schulen, 53 Kindergärten und 15 Krankenhäuser.
Doch obwohl die Menschen die Nachrichten vom neuerlichen russischen Vormarsch hören, bricht keine Panik aus. In der vergangenen Woche ist sogar wieder Leben nach Charkiw zurückgekehrt. Die Anzahl der Autos auf den Straßen ist so groß, dass einige Ampeln, die im Februar abgeschaltet worden waren, wieder in Betrieb genommen werden müssen.
Fast alle Tankstellen haben wieder geöffnet. Die Preise sind dank Subventionen durch den ukrainischen Regierungschef Denis Schmygal stark gesunken. Es gibt verschiedene Sorten Treibstoff und sogar Gas, das einen Monat praktisch überhaupt nirgends zu bekommen war.
Im Norden der Stadt sieht es anders aus
Auch die Versorgung mit Essen hat sich verbessert. Anfang April traf in Charkiw eine Hilfslieferung der polnischen Regierung ein, 600 Tonnen Lebensmittel. Diese Güter werden aufgeteilt und, je nach Bedarf, in verschiedene Bezirke von Charkiw sowie nahe gelegene Gemeinden im Charkiwer Gebiet geschickt. Die polnische Regierung hat angekündigt, ab jetzt regelmäßig Hilfslieferungen in die Region zu schicken.
Supermärkte und kleine Geschäfte sind wieder geöffnet. Die Regale sind gut gefüllt, das Angebot ist wieder so, wie vor dem Krieg. Auch der Dienstleistungssektor, darunter Restaurants, Cafés und Pizzerien, erwacht zu neuem Leben.
Zudem hat sich das Angebot an Medikamenten deutlich verbessert. Lieferketten, die durch die Angriffe unterbrochen waren, sind wiederhergestellt. War es noch vor zehn Tagen unmöglich, Arzneien gegen Bluthochdruck oder für Herzkranke zu finden, so ist das Angebot für diese Präparate wieder stabil. Dennoch sind die Schlangen vor den Apotheken lang, weil sich die Menschen auf Monate im voraus mit Medikamenten eindecken.
Doch so sieht es nur im Zentrum und einigen westlichen und südlichen Stadtteilen aus. Die nördlichen Bezirke Charkiws – Severnaja Saltowka, Pjatichatki und teilweise das Dorf Schukowski, die massiv bombardiert worden waren, sind menschenleer. Hier ist die Stadt wegen fortdauernden Beschusses und ständiger Überfälle wie ausgestorben. Das Geschützfeuer verstummt nie. Es ist nicht übertrieben zu sagen: Diese Teile der Stadt wurden dem Erdboden gleichgemacht.
Schätzungen von Freiwilligen vom Dienstag zufolge sind im Norden Charkiws nur 20 Prozent der Bevölkerung übrig geblieben. Sie alle sitzen in Kellern und Luftschutzbunkern. Auf den Straßen trifft man nur Soldaten und Anwohner*innen, die auf der Suche nach etwas zu essen sind.
Der öffentliche Nahverkehr funktioniert immer noch nicht, genauso wenig wie die U-Bahn, die den Menschen als Zufluchtsstätte vor Bombenangriffen dient. Hier leben zehntausende Menschen, manche von ihnen haben sich schon lange nicht auf die Straße getraut. Sich im Zentrum zu bewegen, ist nur zu Fuß, mit einem Privatwagen oder Taxi möglich. Die Preise, wenn man nicht gerade an die „Frontlinie“ in den nördlichen Bezirken fahren will, sind erträglich: nur rund anderthalb mal teurer als vor dem Krieg.
Nach Angaben der Stadtverwaltung von Charkiw werden in den Krankenhäusern, trotz Kämpfen und Dauerbeschuss, Patienten versorgt. Bombardierte Krankenhäuser seien geräumt worden oder in andere Gebäude verlegt – genauso wie die Patient*innen.
Igor Terechow, Bürgermeister
In der Krankenhäusern werde normal „gearbeitet“, heißt es aus der Stadtverwaltung. Doch der Krieg erfordert, dass umgeplant wird. Menschen brauchen jetzt medizinische Hilfe, derer sie zuvor nicht bedurften. Die Behörden arbeiteten und versuchten alles zu tun, was die Menschen brauchten, erklärte Swetlana Gorbunowa-Ruban, Vize-Bürgermeisterin Charkiws und zuständig für Gesundheit und Soziales. So werden die Stromrechnungen der Einwohner*innen bis zum Ende des Krieges übernommen. Jedoch mangele es in der Stadt an einer Reihe medizinischer Präparate und anderen Gegenständen des täglichen Bedarfs.
Dennoch: Die Schockstarre der ersten Tagen des Krieges hat sich in Charkiw gelegt. Die Menschen haben gelernt, die Geräusche von Geschossen zu unterscheiden, von wo sie abgefeuert werden und wo sie einschlagen. Dieses Wissen erleichtert es, sich in der Stadt zu bewegen. Die Mehrheit hat begriffen, welche Schüsse ungefährlich sind und in welcher Region man spazieren gehen kann.
Niemand weiß, wie viele Menschen geflohen sind
Wie sagte Charkiws Bürgermeister Igor Terechow so schön: „Charkiw am Tag des Kriegsbeginns und heute – das sind, was die Fähigkeit sich zu verteidigen angeht, zwei verschiedene Städte.“ Das Zentrum habe die Verteidigungslinien massiv verstärkt und sei mit Nahrungsmitteln sowie Waffen versorgt. Terechow sagte auch, dass die Charkiwer*innen schon immer für die Stärke ihres Geistes und ihre Moral bekannt gewesen seien. Die Besatzer würden nicht in der Lage sein, die Stadt zu erobern, daran würden auch zusätzliche russische Kräfte, die aus dem Großraum Kiew in die Region verlegt würden, nichts ändern. „Ich bitte Sie, verfallen Sie nicht in Panik, glauben Sie an unsere Armee. Charkiw war, ist und wird ukrainisch sein“, sagte er am Dienstag in einer Videobotschaft.
Viele bewaffnete Männer in der Stadt, ukrainische Soldaten, strahlen für die Bevölkerung Stabilität und Ruhe aus. Einige Menschen kehrten gar nach ihrer Flucht wieder in die Stadt zurück. Viele scheinen ein ausreichendes Maß an Gleichgültigkeit zu besitzen, um Risiken einzugehen und etwa im Zentrum eine Tasse Kaffee zu trinken und so, zumindest gedanklich, zu ihrem Leben vor dem Krieg zurück zu kehren.
Unterdessen weiß niemand, wie viele Menschen Charkiw bislang verlassen haben. Zahlreiche Menschen ergreifen auch nun wegen der Gefahr der bevorstehende Einkesselung und Besetzung Charkiws die Flucht. Davon einige wohl für immer.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
Der Autor war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören
Jens Bisky über historische Vergleiche
Wie Weimar ist die Gegenwart?
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird