Ostdeutscher Blick auf Mauer-Zirkeltag: Ich bin ein „Wossi“
Unsere Autorin wurde vor dem Mauerfall im Osten geboren. Ihre Generation steckt immer noch im Dazwischen fest. Warum nur?
Genau 163 Tage. So viel Zeit lag zwischen meiner Geburt und dem Mauerfall. Meine Eltern pendelten damals mit dem Trabant zwischen ihrer Uni in Merseburg und Ostberlin. Sie hatten gerade eine Wohnung in einem schicken neuen Plattenbau zugeteilt bekommen. Meine Geburtsurkunde und mein Impfausweis tragen Hammer und Zirkel. Aber was hat das alles mit mir zu tun? Der Osten – bin ich das?
Der Montag, der 5. Februar 2018, ist der Tag, an dem die Mauer genauso lange weg ist, wie sie gestanden hat: 28 Jahre, 2 Monate und 26 Tage. Das davor, die DDR-Zeit, kenne ich nur aus Anekdoten. Meine Großmutter erzählt gern davon, wie sie einmal dank einer Geburtstagseinladung über die Grenze nach Westberlin durfte und dann mit meinem Großvater ein Wochenende in Paris verbrachte. Als Lehrling wurde meine Mutter jedes Jahr von der SED-Parteiführung eingeladen und aufgefordert, der Partei beizutreten. Die Geschichten meines Vaters handeln vom Militärdienst bei der Nationalen Volksarmee und gebrochenen Rippen. Sie alle können davon berichten, wie sie heimlich „Westfernsehen“ geguckt haben.
Wie passt das alles zusammen, diese vielen guten und schlechten Momente, die meine Familie erlebt hat, mit dem Unrecht, das so viele DDR-Bürger*innen erfahren haben? Wir haben damals vieles getan, um die Gesetze zu biegen, aber ansonsten hatten wir ja auch ein ganz angenehmes Leben: So funktioniert Vergangenheitsbewältigung in meiner Familie.
Zusammen mit Büchern, Filmen und Museen, die sich mit der DDR auseinandersetzen, ergibt sich für mich ein eher wirres Bild. Bin ich denn ein DDR-Kind, obwohl ich mich an diese Zeit nicht erinnere? Was weiß ich eigentlich über die Staatssicherheit? Wie würde es sich anfühlen, Stasi-Akten über meine Familie zu lesen? So gern ich mehr darüber erfahren würde, so sehr scheue ich es, meine Familie dazu zu drängen. Sie wollen lieber nicht genau wissen, wie sie belauscht und beobachtet wurden.
„Dunkeldeutschland“ – bin ich das eigentlich auch?
Die Vergangenheit ist für mich nicht richtig greifbar, und doch lässt sie mich bis heute nicht los. Sie äußert sich in der Diskussion um Kinderbetreuung, in der ich mit großen Augen angeguckt werde, weil meine Eltern mich in die Krippe geschickt haben, als ich gerade einmal sieben Monate alt war. Sie begegnet mir, wenn andere von ihrer Konfirmation erzählen und ich mich nicht traue, über meine Jugendweihe zu sprechen. Ganz besonders fühle ich die Vergangenheit, wenn pauschal über Ostdeutschland geurteilt wird. „Dunkeldeutschland“ – bin ich das eigentlich auch?
Natürlich weiß ich selbst, dass es massive Probleme in den neuen Bundesländern gibt. In dem Bezirk in Ostberlin, in dem ich aufgewachsen bin, gab es Auseinandersetzungen mit Rechtsextremen, seit ich denken kann. Erst kürzlich wurde ich beinahe nachts zusammengeschlagen, weil ich mit zwei Freund*innen aus Kolumbien unterwegs war. Leider ist das ein Erlebnis, das ich als typisch für die Gegend verbuche.
Aber das ist nicht mein Ostberlin. Es gibt auch eine starke linke Bewegung, die bunte Gegendemos organisiert, wenn wieder einmal ein Neonaziaufmarsch geplant ist, die Straßenfeste veranstaltet und sich für Geflüchtete einsetzt. Das ist mein Ostberlin.
Und trotz alledem gibt es da dieses Zusammengehörigkeitsgefühl. Eine Verbindung – nicht mit den Neonazis, aber doch irgendwie mit all jenen, die wie ich nach dem Fall der Mauer in Ostdeutschland mit ostdeutschen Eltern aufgewachsen sind. Warum eigentlich? Ich habe mit Menschen, die in Westberlin groß geworden sind, womöglich mehr gemeinsam als mit jemandem aus Rostock oder Halle. Ehrlich gesagt habe ich viel mehr Freund*innen aus Westdeutschland als aus Ostdeutschland.
Wahrscheinlich liegt es an dem Stempel: ostdeutsch. Man sieht ihn mir nicht an, aber er ist trotzdem da. Er macht sich kurz bemerkbar, wenn ich feststelle, wie viel jünger meine Eltern sind als die meiner westdeutschen Freund*innen. Oder wenn wir gemeinsam ein Geburtstagsständchen singen wollen und uns nur auf „Happy Birthday“ einigen können. Wenn meine Familie über „die Wessis“ spricht, und wenn ich im Internet etwas über „die Ossis“ lese.
Die Stimme, die sagt: Jetzt geht es in den Westen
Ich bin ein „Wossi“, hat meine Mutter früher immer gescherzt. Eine Mischung aus „Ossi“ und „Wessi“, irgendwo dazwischen. Ich gehöre zur Generation „danach“. Wenn ich von Treptow nach Kreuzberg fahre, ist die Grenze nur noch in meinem Kopf da. Aber ich höre trotzdem die kleine Stimme, die sagt: Jetzt geht es in den Westen. Da ist ein bisschen Freude darüber, wie einfach das heute ist. Erleichterung, verbunden mit dem Wissen, dass die Überquerung für meine Familie lange Zeit keine Selbstverständlichkeit war.
Damals, als es zum ersten Mal in „den Westen“ ging, haben wir Ostdeutschen alle 100 D-Mark Begrüßungsgeld bekommen – sogar ich mit meinen fünf Monaten. Meine Eltern haben mir davon einen Ring gekauft, der heute in einer Schublade verstaubt. Ich trage ihn nicht. Aber er steht symbolisch für etwas, das schwer in Worte zu fassen ist. Für eine Hoffnung, für einen Neuanfang, für all die Versprechen, die „der Westen“ bot.
Vergangenheitsaufarbeitung ist immer auch die Aufgabe der nachfolgenden Generationen. Wollen wir in 28 Jahren immer noch über „die Wessis“ und „die Ossis“ sprechen? Die kleinen kulturellen Unterschiede wird es wohl immer geben – aber die gibt es auch zwischen Nord- und Süddeutschland.
Umso mehr ist es unsere Aufgabe, offen darüber zu sprechen. Ist es wirklich so lächerlich, dass wir auch in den 90ern noch Jugendweihe gefeiert haben? Was haben wir in Ost- und Westdeutschland gemeinsam, was trennt uns nach wie vor? Auch 28 Jahre nach dem Mauerfall fehlt uns oft die gemeinsame Erzählung. Aber die brauchen wir dringend – und es ist an uns, der Generation danach, sie zu entwickeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen