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Ostdeutscher Blick auf Mauer-ZirkeltagIch bin ein „Wossi“

Unsere Autorin wurde vor dem Mauerfall im Osten geboren. Ihre Generation steckt immer noch im Dazwischen fest. Warum nur?

Die Mauer ist genauso lange weg, wie sie gestanden hat: 28 Jahre, 2 Monate und 26 Tage Foto: dpa

Genau 163 Tage. So viel Zeit lag zwischen meiner Geburt und dem Mauerfall. Meine Eltern pendelten damals mit dem Trabant zwischen ihrer Uni in Merseburg und Ostberlin. Sie hatten gerade eine Wohnung in einem schicken neuen Plattenbau zugeteilt bekommen. Meine Geburtsurkunde und mein Impfausweis tragen Hammer und Zirkel. Aber was hat das alles mit mir zu tun? Der Osten – bin ich das?

Der Montag, der 5. Februar 2018, ist der Tag, an dem die Mauer genauso lange weg ist, wie sie gestanden hat: 28 Jahre, 2 Monate und 26 Tage. Das davor, die DDR-Zeit, kenne ich nur aus Anek­doten. Meine Großmutter erzählt gern davon, wie sie einmal dank einer Geburtstagseinladung über die Grenze nach Westberlin durfte und dann mit meinem Großvater ein Wochenende in Paris verbrachte. Als Lehrling wurde meine Mutter jedes Jahr von der SED-Parteiführung eingeladen und aufgefordert, der Partei beizutreten. Die Geschichten meines Vaters handeln vom Militärdienst bei der Nationalen Volksarmee und gebrochenen Rippen. Sie alle können davon berichten, wie sie heimlich „Westfernsehen“ geguckt haben.

Wie passt das alles zusammen, diese vielen guten und schlechten Momente, die meine Familie erlebt hat, mit dem Unrecht, das so viele DDR-Bürger*innen erfahren haben? Wir haben damals vieles getan, um die Gesetze zu biegen, aber ansonsten hatten wir ja auch ein ganz angenehmes Leben: So funktioniert Vergangenheitsbewältigung in meiner Familie.

Zusammen mit Büchern, Filmen und Museen, die sich mit der DDR auseinandersetzen, ergibt sich für mich ein eher wirres Bild. Bin ich denn ein DDR-Kind, obwohl ich mich an diese Zeit nicht erinnere? Was weiß ich eigentlich über die Staatssicherheit? Wie würde es sich anfühlen, Stasi-Akten über meine Familie zu lesen? So gern ich mehr darüber erfahren würde, so sehr scheue ich es, meine Familie dazu zu drängen. Sie wollen lieber nicht genau wissen, wie sie belauscht und beobachtet wurden.

„Dunkeldeutschland“ – bin ich das eigentlich auch?

Die Vergangenheit ist für mich nicht richtig greifbar, und doch lässt sie mich bis heute nicht los. Sie äußert sich in der Diskussion um Kinderbetreuung, in der ich mit großen Augen angeguckt werde, weil meine Eltern mich in die Krippe geschickt haben, als ich gerade einmal sieben Monate alt war. Sie begegnet mir, wenn andere von ihrer Konfirmation erzählen und ich mich nicht traue, über meine Jugendweihe zu sprechen. Ganz besonders fühle ich die Vergangenheit, wenn pauschal über Ostdeutschland geurteilt wird. „Dunkeldeutschland“ – bin ich das eigentlich auch?

Natürlich weiß ich selbst, dass es massive Probleme in den neuen Bundesländern gibt. In dem Bezirk in Ostberlin, in dem ich aufgewachsen bin, gab es Auseinandersetzungen mit Rechtsextremen, seit ich denken kann. Erst kürzlich wurde ich beinahe nachts zusammengeschlagen, weil ich mit zwei Freund*innen aus Kolumbien unterwegs war. Leider ist das ein Erlebnis, das ich als typisch für die Gegend verbuche.

Aber das ist nicht mein Ostberlin. Es gibt auch eine starke linke Bewegung, die bunte Gegendemos organisiert, wenn wieder einmal ein Neonaziaufmarsch geplant ist, die Straßenfeste veranstaltet und sich für Geflüchtete einsetzt. Das ist mein Ostberlin.

Und trotz alledem gibt es da dieses Zusammengehörigkeitsgefühl. Eine Verbindung – nicht mit den Neonazis, aber doch irgendwie mit all jenen, die wie ich nach dem Fall der Mauer in Ostdeutschland mit ostdeutschen Eltern aufgewachsen sind. Warum eigentlich? Ich habe mit Menschen, die in Westberlin groß geworden sind, womöglich mehr gemeinsam als mit jemandem aus Rostock oder Halle. Ehrlich gesagt habe ich viel mehr Freund*innen aus Westdeutschland als aus Ostdeutschland.

Wahrscheinlich liegt es an dem Stempel: ostdeutsch. Man sieht ihn mir nicht an, aber er ist trotzdem da. Er macht sich kurz bemerkbar, wenn ich feststelle, wie viel jünger meine Eltern sind als die meiner westdeutschen Freund*innen. Oder wenn wir gemeinsam ein Geburtstagsständchen singen wollen und uns nur auf „Happy Birthday“ einigen können. Wenn meine Familie über „die Wessis“ spricht, und wenn ich im Internet etwas über „die Ossis“ lese.

Die Stimme, die sagt: Jetzt geht es in den Westen

Ich bin ein „Wossi“, hat meine Mutter früher immer gescherzt. Eine Mischung aus „Ossi“ und „Wessi“, irgendwo dazwischen. Ich gehöre zur Generation „danach“. Wenn ich von Treptow nach Kreuzberg fahre, ist die Grenze nur noch in meinem Kopf da. Aber ich höre trotzdem die kleine Stimme, die sagt: Jetzt geht es in den Westen. Da ist ein bisschen Freude darüber, wie einfach das heute ist. Erleichterung, verbunden mit dem Wissen, dass die Überquerung für meine Familie lange Zeit keine Selbstverständlichkeit war.

Damals, als es zum ersten Mal in „den Westen“ ging, haben wir Ostdeutschen alle 100 D-Mark Begrüßungsgeld bekommen – sogar ich mit meinen fünf Monaten. Meine Eltern haben mir davon einen Ring gekauft, der heute in einer Schublade verstaubt. Ich trage ihn nicht. Aber er steht symbolisch für etwas, das schwer in Worte zu fassen ist. Für eine Hoffnung, für einen Neuanfang, für all die Versprechen, die „der Westen“ bot.

Vergangenheitsaufarbeitung ist immer auch die Aufgabe der nachfolgenden Generationen. Wollen wir in 28 Jahren immer noch über „die Wessis“ und „die Ossis“ sprechen? Die kleinen kulturellen Unterschiede wird es wohl immer geben – aber die gibt es auch zwischen Nord- und Süddeutschland.

Umso mehr ist es unsere Aufgabe, offen darüber zu sprechen. Ist es wirklich so lächerlich, dass wir auch in den 90ern noch Jugendweihe gefeiert haben? Was haben wir in Ost- und Westdeutschland gemeinsam, was trennt uns nach wie vor? Auch 28 Jahre nach dem Mauerfall fehlt uns oft die gemeinsame Erzählung. Aber die brauchen wir dringend – und es ist an uns, der Generation danach, sie zu entwickeln.

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8 Kommentare

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  • Wenn die Ossis schon so große Probleme haben, sich gesamtdeutsch zu fühlen, kann man nachvollziehen, dass es richtigen Einwanderern noch schwerer fallen muss.

  • Wenn man das ohne schlechtes Gewissen hinbekommt, werter REINHOLD SCHRAMM, "keine Rücksicht [zu] nehmen", dann hat man es geschafft. Dann ist man kein Wossi und schon gar kein Ossi mehr, sondern ein waschechter Wessi.

  • Keine Rücksicht nehmen auf die verlogenen Rechtfertigungsversuche eurer Eltern und Großeltern zum System- und Konsumwechsel!

     

    " Meine Großmutter erzählt gern davon, wie sie einmal ... über die Grenze nach Westberlin durfte"

     

    Die Nachgeborenen der DDR sollten die Legenden und Rechtfertigungen ihrer Eltern und Großeltern ebenso wenig glauben, wie die Nachgeborenen, gegen Ende und nach dem Ende des Kapitalfaschismus 1945.

     

    Wenn sich die Eltern (und Großeltern) für ihre örtliche Flucht ins bundesdeutsche Wirtschafts- und Konsumparadies entschieden haben, dann haben sie wohl kaum ein Interesse, auch nicht gegenüber ihren Kindern, über die eigentlichen und wahren wirtschaftlichen Gründe (für ihre Flucht) offen zu sprechen. Auch nicht die Großeltern, über ihre Erwartung einer angenehmen und auskömmlichen Altersrente, durch Zuteilung der westdeutschen politischen Klasse, die den freien und großzügigen Zugang zum Konsummarkt und nach Mallorca ermöglicht. Da wirft man ein durchaus mögliches und damit offenes Bekenntnis über die eigene Motivation zum Systemwechsel gerne in die unterste Schublade des (moralisch verlogenen) kapitalkonformen Bewusstseins.

     

    Möchte man doch nicht vor den Enkeln und Kindern als Schnorrer bzw. ostdeutscher -standortgebundener- Wirtschaftsflüchtling gelten. Was man so allzu oft und gerne den heutigen Wirtschaftsflüchtlingen unter die Nase reibt.

     

    Es bleibt noch die magere Hoffnung, dass auch die ostdeutsche Jugend noch ein verspätetes “1968" der rudimentären bürgerlichen Aufklärung vor sich haben möge! (?)

    • @Reinhold Schramm:

      „Es bleibt noch die magere Hoffnung, dass auch die ostdeutsche Jugend noch ein verspätetes “1968" der rudimentären bürgerlichen Aufklärung vor sich haben möge! (?).“

       

      Sie sollten die „ostdeutsche Jugend“ von damals (=1968) nicht für dümmer erklären, als sie war! Denn nicht nur im „Westen“ gab es Unruhen, die von den West-Medien begierig aufgegriffen und verbreitet wurden, sondern auch im „Osten“, die von den DDR-Sicherheitsorganen im Keim erstickt und von den DDR-Medien totgeschwiegen wurden!

       

      Mein Vater, damals Student an der Humboldt-Uni, berichtete mir von einer zufälligen Begegnung von ihm und einigen Kommilitonen mit AStA-Mitgliedern der FU West-Berlin in Ost-Berlin im Sommer 1968. Die „West“-Studenten, vollgestopft mit Bücherwissen von Marx/Engels/Lenin/Mao waren gekommen, um die Umsetzung dieser Lehren in der Praxis zu studieren. Mein Vater und seine Freunde kannten dagegen die Realität und konnten auf die schreienden Widersprüche zwischen Theorie und Praxis verweisen. Gewissermaßen strebten die "Westler" den Sozialismus/Kommunismus an, den die "Ostler" endlich vomm Halse haben wollten!

       

      Und die „Ost“-Jugend von heute? Sie hat nie etwas anderes als die BRD-Realität kennengelernt, über die sich ein großer Teil immer nur ärgert. Viele von ihnen glauben, mangels Information, gar nicht, dass es auch noch schlimmer gehen könnte. Sie fallen dann vielfach auf die linken und rechten Populisten herein und wünschen sich entweder die DDR zurück, die sie nie erlebt haben, oder den „starken Mann“, der ihnen erspart blieb, oder beides.

  • 9G
    97760 (Profil gelöscht)

    Liebe Autorin, Deine Eltern waren verhaltenstechnisch Teil der DDR. Nach diesen Kriterien wurdest Du erzogen. Die DDR gab es, weil viele/alle mitgemacht haben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit waren die Eltern Deiner östlichen Spielkameraden bei der Stasi. Es war Kult, andere zu bespitzeln. Ich hoffe nicht,dass Du das mit der Muttermilch aufgesogen hast. Bitte denke immer daran, wenn Du aus dem Hinterhalt auf irgendeiner Landstraße geblitzt wirst, irgendwo auf dieser Welt, das gleiche latente, millionenfach vervielfachbare Gedankengut dahinter steckt.

  • Ich bin auch Ende der 80er geboren (allerdings in West-Berlin) und sehe mich damit de facto als "Nach-Wende-Generation". Natürlich wirkt da die Ost- oder West-Herkunft noch nach, das erlebe ich auch bei vielen anderen in meinem Alter. Aber das halte ich eher für eine hintergründige Prägung.

  • "Ist es wirklich so lächerlich, dass wir auch in den 90ern noch Jugendweihe gefeiert haben?"

     

    Nein!!

    Ich war vier als die Mauer fiel, aber auch ich hatte noch eine Jugendweihe... Später, in meiner Ausbildungszeit in Westdeutschland (Norddeutschland) waren viele meiner Mitazubis regelrecht neidisch auf die Jugendweihe, weil's dort überall nur Konfirmation oder halt nix gab...

    Mein Freundeskreis setzt sich tatsächlich eher aus (ehemaligen) Ossis zusammen, selbst in Westdeutschland fanden wir uns (ungewollt) immer... Es ist halt die gemeinsame Mentalität aus der Erziehung, vermute ich...

    • @Ano Nym:

      Das, was Sie "Mentalität" nennen, werte*r ANO NYM, entsteht, wenn viele Menschen durch ähnliche Erfahrungen geprägt werden. Wenn man Eltern, Großeltern, Erzieher, Lehrer und Nachbarn hat, deren Leben in eine Zeit vor und eine nach der „Wende“ zerfällt, erfährt man Erziehung anders, als wenn durch solche Menschen, in deren Biografie es keine derartigen Brüche gibt. Von „Meilensteinen“ wie der Jugendweihe noch gar nicht zu reden.

       

      Die menschliche Persönlichkeit wird nur zu einem Teil durch genetische Dispositionen bestimmt. Einen anderen Teil „erbt“ man sozial. Erst das Wechselspiel zwischen der Disposition und der Reaktion unserer Umwelt darauf formt unsere Persönlichkeit. Ost- und Westdeutsche mögen biologisch überaus ähnlich sein. Sozial aber sind sie durch sehr verschiedene kollektive und individuelle Erfahrungen geprägt.

       

      Wer behauptet, dieser Umstand müsste überwunden werden, tut niemandem einen Gefallen. So jemand denkt totalitär und kurzsichtig. Manchmal, ohne es auch nur zu ahnen, weil man als „Wessi“ ja angeblich nur ein in der Wolle gefärbter Demokrat sein kann.

       

      Nein, wir Deutschen müssen keine gemeinsame „Mentalität“ entwickeln, die uns die Auseinandersetzung mit unseren unterschiedlichen Prägungen erspart. Wir müssen miteinander reden. Nur so können wir herausfinden, wie unsere gemeinsame Zukunft aussehen kann. Für die Ostdeutschen bedeutet das, uns nicht ständig entschuldigen zu wollen für unsere angebliche oder tatsächliche Andersartigkeit. Und für die Westdeutschen bedeutet es, sich nicht ständig als verdiente Sieger der Geschichte fühlen zu wollen.

       

      Es gibt genug zu tun. Auch heute noch. Alleine werden weder Ost- noch Westdeutsche die Probleme lösen, die wir derzeit haben. Zusammen haben wir womöglich eine (kleine) Chance. Nein, es war nicht alles schlecht. Weder im Osten, noch im Westen. Schlecht ist nur, die eigene Vergangenheit für wertvoller zu halten, als die aller anderen.