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Ostdeutsche und die deutsche EinheitOstalgie ist gefährlich

Simone Schmollack
Kommentar von Simone Schmollack

In wenigen Tagen wird die deutsche Einheit gefeiert. Manche Ostdeutsche fühlen sich als Bür­ge­r:in zweiter Klasse. Kann Gefühl ein Maßstab sein?

Gehen oder stehen: Wohin will der Osten? Foto: Kristian Tuxen Ladegaard Berg/imago

D er Osten gilt mittlerweile als Labor: Auch 35 Jahre nach dem Mauerfall bleibt der Osten stoisch anders, er wählt grauenhaft und gefährdet so die Demokratie, wie die Ergebnisse der Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen, Brandenburg zeigen. Was ist nur los mit den Menschen zwischen Ostsee und Thüringer Wald?

Eine Frage, die selbst klügste Po­li­tik­be­ob­ach­te­r:in­nen nur mühsam beantworten können. Da wundert es nicht, dass der Ostbeauftragte Carsten Schneider im aktuellen Bericht zur deutschen Einheit eine tiefgründigere Analyse meidet und Gast­au­to­r:in­nen schreiben lässt.

Was soll er schon sagen, wenn seine Landsleute mit ihrem Zuspruch für die AfD ihrem Unmut Luft machen darüber, dass Ostdeutsche bei den Eliten unterrepräsentiert sind, und dass sich die Einkommensverhältnisse in Ost und West nach wie vor unterscheiden. Etwa die Hälfte der Ostdeutschen fühlt sich als Bür­ge­r:in zweiter Klasse.

Fragt man sie nach der Demokratie, antworten nicht wenige mit einer Gegenfrage: „Welche Demokratie?“ Rechtfertigt allein das Gefühl des Abgehängtseins eine ostalgische Retrospektive, wie sie unterdessen sogar nach 1989 Geborene an den Tag legen?

Der Realitätscheck zeigt: Den meisten Menschen im Osten geht es heute materiell besser als in der DDR, selbst die Ärmeren müssen nachts nicht mehr aufs Außenklo, jede und jeder kann seine Meinung herausschreien. Haben die ostdeutschen Rea­li­täts­ver­wei­ge­r:in­nen vergessen, dass sie ihren Nachbarn und Ar­beits­kol­le­g:in­nen einst nicht selten misstrauten, weil überall die Stasi-Spitzel saßen? Dass sie abends in der Kaufhalle keine Milch mehr bekamen und auf ihren fucking Trabant 10 Jahre warten mussten? Dass sie Russisch hassten und nach vielen Jahren Schulunterricht nicht einmal до свидания übersetzen können?

Trotzdem hilft es nicht, den Osten abzuwerten, gar abzuschreiben. Das gefährdet die Demokratie mehr, als sich ständig mit ihm hart auseinanderzusetzen, meinetwegen auch als Labor.

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Simone Schmollack
Ressortleiterin Meinung
Ressortleiterin Meinung. Zuvor Ressortleiterin taz.de / Regie, Gender-Redakteurin der taz und stellvertretende Ressortleiterin taz-Inland. Dazwischen Chefredakteurin der Wochenzeitung "Der Freitag". Amtierende Vize-DDR-Meisterin im Rennrodeln der Sportjournalist:innen. Autorin zahlreicher Bücher, zuletzt: "Und er wird es wieder tun" über Partnerschaftsgewalt.
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21 Kommentare

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  • Moderation , Moderator
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  • Woher die sog. „Eliten“ kommen, ist mir Wurscht, sie sind ohnehin nicht so viele. Als im öffentlichen Dienst angestellte Person war es vor 30 Jahren schon interessant zu sehen, dass wir sehr schnell sehr viele sehr gut bezahlte Beamte aus dem Osten „über“ uns hatten. Das war nicht immer angenehm, da doch bei einigen Stasi Vergangenheiten angenommen wurden.



    In vielen Lebensbereichen habe ich die Erfahrung gemacht, dass es eine große Anspruchshaltung der Bürger:innen aus dem Osten gab und diese auch z. T. Über ordentlich viel Geld verfügten um mehrere Flugreisen im Jahr zu machen und neue Autos zu kaufen.



    Da musste man sich, um nicht neidisch zu sein -zumindest mir ging es so- schon klar machen, dass Fehler in der Politik im Sozialen ausgetragen werden. Bei unserer einzigen familenreise damals nach Dresden mit vier Kindern wurden wir vor dem Hostel mit aufgeschlagener Flasche und „Scheiß-Wessis“ Rufen bedroht. Es gab im laufe der Jahre noch mehrere einschlägige Erfahrungen mit Menschen aus dem Osten.



    Aber Glücklicherweise auch einige integre und sehr gute Kollegen aus Berlin.

  • "... der Ostene... wählt grauenhaft und gefährdet so die Demokratie."

    Eine Wahl ist Demokratie, sie gefährdet sie nicht - zumindest in der heutigen Zeit und in Deutschland. Eine andere Frage ist, ob die Parteien mit den Ergebnissen einer demokratischen Wahl umgehen können.



    Erstaunlicherweise hat gerade das BSW (der man häufig das "Demokratische" abspricht) einen pragmatischen Ansatz: man muss nicht mit einer Partei eine Koalition eingehen, kann aber im Einzelfall durchaus Ihnen zustimmen. Eine solche Haltung macht eine Demokratie auch bei schwierigeren Wahlergebnissen handlungsfähig. Die sog. "Demokratischen Parteien" blockieren sich durch die unverhältnismäßig hohe "Brandmauer" selbst. Wenn dann ein Regieren kaum mehr möglich ist, kann sogar die Demokratie gefährdet werden. Ein Treppenwitz der Geschichte.

  • Besser Ostalgie als Ostaldi!



    Es kommt zusammen, was zusammen gehört!



    So lautete es in Wendezeiten.



    Viel Wasser ist seitdem Rhein und Oder herunter geflossen.



    Bevor wir uns gesellschaftlich über die Corona Zeit auseinander setzen ( ohne mich!) sollten wir die Wiedervereinigung aufarbeiten.



    Hier hätte die CDU/ CSU tatsächlich mal Wirtschaftskompetenz beweisen können, hat viel Geld verbrannt und ist kläglich gescheitert.



    Dennoch setzte man im Osten weiter auf die CDU.



    Nun setzt man außerdem auf die "afd", deren Inkompetenz doch vor der Europawahl bereits europaweit klar wurde.



    Der größte, überraschende, demokratische Impuls war die Wahl in Brandenburg.



    Hier hat sich gezeigt, dass die Menschen bereit sind, für die Demokratie aufzustehen und einen "afd" Wahlsieg zu verhindern.



    Darüber freue ich mich und bin den DemokratInnen, die diese Wende in der Wahl geschafft haben, sehr dankbar.



    Offenbar werden demokratische Erfolge im Osten aber gerne übergangen. So schildern viele KommentatorInnen gerne die kommenden Probleme, statt ein klares



    antifaschistisches Statement zu feiern.



    Am Tag der Einheit werde ich an diese Menschen denken, die Hoffnung machen und die Revolutionäre von '89 !

  • Sorry, aber der Treiber für die Wahlererfolge der AfD im Osten ist in erster Linie der Unmut über die Migrationspolitik und nicht die Unterrepräsentanz der Eliten. Auch hier geht es zwar oftmals mehr ums Gefühl als um Realitäten, da hat die Autorin einen Punkt. Aber sie betreibt Realitätsverweigerung wenn sie die Migrationspolitik und damit einhergehende Probleme nicht nennt und Anderes in den Vordergrund stellt. Es ist genau diese Realitätsverweigerung die ihren Teil zum Erfolg der AfD im Osten beiträgt. Der „grauenhafte“ Thüringer hat ja kein Problem damit für Björn Höcke zu stimmen, der auch ein Westimport ist. Galt im Übrigen vorher auch für Ramelow.

  • Begriff Osten im Geltungsbereich Grundgesetz löst in osteuropäischen Ländern Irritation aus, wenn die Osten sind, ohne Deutsche zu sein, was sind dann wir, wenn ja, wie lange noch?



    Der Osten war noch stets Labor. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, Siedlungsgebiet für Raub Stände Dynastie , z. B. Hohenzollern Ostteile zum Lehn durch Kaiser Karl V erhileten, das Volk christlich gemetzelt gefügig in Bann zu halten, in dem sie von Feinden umgeben waren. In 20er Jahren galten Berlin die Thüringer als ungebändigtes Volk, das sich anmaßte, sein Thüringen in Linkskoalition zu regieren, was exekutiv beendet gehörte wie es dann geschah. 1945 flog Walter Ulbricht Gruppe von Moskau in Berlin ein, die unter sowjetischer Besatzung stehende Bevölkerung im Osten kommissarisch in Verwaltungslabor unter feindliche Beobachtung zu nehmen



    Der Osten gilt lange als Labor: Auch 2024 gilt Osten Beitrittsgebiet lt. Art. 23 GG weiter als Labor für Wagniskapital Schockstrategie Milton Friedman Chicago Boys, wie1973 Chile, 1976 Argentinien, Polen 1988, Russland 1992, Schlimmerem gerade noch entronnen durch DM/MDN Währungsunion 3 Monats Sauseschritt 1990 EU Beitrittsverfahren ohne Kandidatenstatus

  • Kann Gefühl ein Maẞstab sein? Hmm, diese Frage sollte man vielleicht eher in die Geschlechterdebatte bzw. die rückwirkende Diskussion um das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz einbringen. Eine Demokratie, die sich in Programmiersprache wie :innen ergeht, erscheint spukhaft und nur dem Zeitgeist verhaftet, nicht universalistisch gültig. Die Ostdeutschen haben schon ein gutes Gespür dafür, dass da nach Kaiserzeit, Weimarer Republik, Drittem Reich und Honeckers Paradies mehr möglich sein muss als das momentane Procedere.

  • Die Wiedervereinigung war ein Fehler, den man sich immer noch nicht eingestehen will. Der Osten will mehrheitlich ein anderes Deutschland. Das respektiert der Westen aber nicht, weil er es besser weiß.

    • @Michael84:

      So, wie sie letztlich durchgeführt wurde, war sie ein Fehler. Der Osten war anders. Aber auch innerhalb der damaligen BRD war vieles zueinander anders (arm/reich, Zugewanderte/Eingesessene, Linke/Konservative,...).



      Es gab damals auch andere Ideen in den medialen und politischen Debatten zu der Zeit (Ende 1989 und Anfang 1990) zum Umgang mit der DDR.

      So war die Idee hinter der Treuhandanstalt beispielsweise, dass alle Ostdeutschen Anteilsscheine der DDR-Betriebe bekommen würden.



      Ein Beitritt der DDR zum Bundesgebiet war auch nicht von vorherein das Ziel der Mehrheit. Hier z.B. ein Spiegel-Artikel vom 03.12.1989, wo von einer (Kon-)Föderation aus DDR und BRD die Rede ist.



      www.spiegel.de/pol...-0000-000013496248

    • @Michael84:

      Das wird durch dauerndes Wiederholen auch nicht wahrer.

      Wenn ich die Gelegenheit habe, mit AfD Wählern darüber zu sprechen, was sie denn konkret anders wollen, dann kommt da einfach nichts. Das wirkt auf mich nur noch wie bloßer destruktiver Trotz. Man lebt in Freiheit und zumindest relativem Wohlstand, zeichnet aber dauernd das Bild davon, nichts sagen zu dürfen und in einem Land des totalen Niedergangs zu leben.

      Vieles kann man besser machen. Aber dann muss man halt auch mal mitmachen und nicht immer nur grundsätzlich gegen alles sein.

      • @Helmut Fuchs:

        bin ganz Ihrer Meinung

      • @Helmut Fuchs:

        "Das wird durch dauerndes Wiederholen auch nicht wahrer."

        Ich habe das in 30 Jahren von niemanden ein einziges mal gehört.

      • @Helmut Fuchs:

        Wie sieht denn das andere Deutschland aus, dass der Osten sich mehrheitlich wünscht? Also konkret und nicht als bloße Negativschablone.

        • @Helmut Fuchs:

          Das wäre dann eine deutlich homogenere und besonders ökonomisch viel egalitärere Gesellschaft als heute. Zudem ist die ostdeutsche Gesellschaft viel proletarischer geprägt. Es gäbe also mehr direkte Demokratie und Gleichheit und das was unsere derzeitige akademische Funktionselite wohl als Pöbelherrschaft bezeichnen würde. Die Revolution 89 hat ja auch nur wegen der Homogenität der Bevölkerung funktioniert. So wie damals 89 mal eben 70% der Bevölkerung meiner Heimatstadt zu einer Demo zu vereinen, ist heute völlig ausgeschlossen. Kein Wunder das Wirtschaft und Oberschicht Diversity so abfeiern.

        • @Helmut Fuchs:

          Nuja, DDR (also weitgehend ausländerfrei) mit Reisefreiheit, Konsum und natürlich einem Staat, der auch beim Hintern abwischen tätig wird.

        • @Helmut Fuchs:

          Grund und Boden im Osten sollte den Ossis gehören. Wenn auch leider nicht allen, so doch zumindest einem regional verankerten "Mittelbürgertum", nicht aber großen Kapitaleignern aus dem Westen und Briefkastenfirmen mit Sitz in Steueroasen.

          Solange das so ist wie es ist (und es wird in 30 Jahren nicht anders sein), geht uns bitte nicht mit eurer Kolonialherrenattitüde auf die Nerven.

          It's the property, stupid ...

      • @Helmut Fuchs:

        Meine Aussage hat mit der AfD nichts zu tun.

    • @Michael84:

      Nein war Sie nicht, denn die Trennlinie läuft nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Stadt und Land. Denn auch im Westen sind die Positionen vom Osten auf dem Land anschlussfähig.

      Wenn etwas ein Fehler war, dann Berlin nach der wende zur Hauptstadt zu machen. Eine Stadt die kulturell vollkommen vom Rest Deutschlands entkoppelt ist.

  • "Den meisten Menschen im Osten geht es heute materiell besser als in der DDR"

    Ja Mensch. Da gehts den meisten Leuten doch tatsächlich besser, als noch vor 35 Jahren in einem völlig heruntergewirtschafteten Staat, wo die Menschen teilweise für Grundnachrungsmittel anstehen mussten und man Angst haben musste, für abweichende Meinungen im Knast zu lanen. Und Bananen gibts im Überfluss.



    Was gibts denn da noch zu wollen?

    • @Deep South:

      Also ich kann mich nicht daran erinnern, für Grundnahrungsmittel angestanden zu haben. Dafür gab's öfters mal Kämpfe um Farbfernseher, diverse Südfrüchte und andere spezielle Dinge, wie bestimmte Bücher, Kleidungsstücke etc.



      Übrigens ist die Bananensituation immer noch nicht befriedigend, egal wo im Osten ich einkaufen gehe, die Dinger sind immer grasgrün. 😁

      • @Wurstfinger Joe:

        @WURSTFINGER JOE

        "…, die Dinger sind immer grasgrün."

        Ach deshalb der Hass auf die Grünen, verstehe.