Oktoberfest und Exzess: Zu Hause sitzen ist auch keine Art
Das Oktoberfest hat bei vielen einen zweifelhaften Ruf. Aber es ist ein guter Ort, um zu checken, dass Gaudi nicht zur Abgrenzung gegen andere taugt.
E rinnern Sie sich noch? „Die Welt nach Corona wird eine andere sein“, hieß es. Und ich war vermutlich nicht die Einzige, die das mit einem wohligen Gefühl von Hoffnung geglaubt hat. Zwei Jahre Verzicht und Verlangsamung müssen doch ein bisschen Besinnung bewirken können – klima- und sozialpolitisch, oder? Hinter der Entschleunigung, den Grenzerfahrungen musste doch das große Ganze: Solidarität, Mitgefühl, umso heller einleuchten.
Mich haben die Lockdowns an das erinnert, was wir in der 9. Klasse unseres bayerischen Gymnasiums Besinnungstage nannten: eine Woche in einem alten Kloster, wo wir uns in gruppendynamischen Spielen emotional ein bisschen nackig machen mussten. War natürlich super anstrengend und peinlich, aber tatsächlich waren wir als Klasse nachher ein Team, keine Cliquen mehr.
Gut, wir hatten natürlich Glück, dass mein Freund M. beim Kiffen nur beinahe aus dem Fenster des dritten Stocks gefallen ist. Weil aber alles gut ging, sind selbst schüchterne Leute wie ich ein bisschen größer nach Hause gegangen.
Aber hey, die Welt ist kein bayerisches Gymnasium – und deshalb nach Corona genau wie vor Corona. Herbstsonnenklarer als jetzt kann es gar nicht sein, denn derzeit läuft die erste Wiesn aka Oktoberfest nach der Pandemie. Und klar läuft der „Mein Exzess ist besser als deiner“-Contest schon seit Wochen auf Hochtouren.
Ist die Wiesn Abschaum?
Denn wir können uns zwar weder auf einen vernünftigen Umgang mit Putin, ordentliche Waffenlieferungen an die Ukraine, Unterstützung für die Frauen Irans, die ihr unterdrückerisches Kopftuch ablegen wollen (und dafür sterben), eine faire Gasumlage und schon gar nicht auf ein bisschen echten Verzicht fürs Klima (oder auch: unser Überleben) einigen, aber darauf: Die Wiesn ist nicht Bier-, sondern Abschaum. Da werfen sich Menschen in seltsame Kostüme und tun unter Einfluss von Drogen enthemmte Dinge, pfui. Ganz anders als beim Karneval oder im Berliner Kitkat-Club, klar.
Ich will nichts beschönigen und schon gar keine Verbrechen rechtfertigen. Sexuelle und gewaltvolle Übergriffe sind genau das: Verbrechen, und niemals einfach Kollateralschäden von Exzess. Rassistische und sexistische Lieder, Sprüche haben nirgends etwas verloren auf keiner Party, zu keiner Zeit. Das ist doch auch klar.
Aber es ist auch lächerlich, so zu tun, als wäre all das Alleinstellungsmerkmal der Wiesn und nicht überall zu finden: in Fußballstadien, beim Karneval, beim Spring Break. Macht es das besser? Rechtfertigt das irgendwas? Nö. Aber es ist halt so: Der Zustand der Welt zeigt sich am deutlichsten da, wo viele Menschen aus verschiedenen Blasen zusammenkommen. Und siehe da: Die Welt ist schlecht.
Steckerlfisch und Kotze
Aber zugleich auch schrill, bunt und aufregend. Manchmal riecht sie nach gebrannten Mandeln, manchmal nach Steckerlfisch und Lebkuchen, manchmal nach Kotze. Gut, in Berlin meist nach Hundescheiße, aber auch das gehört halt dazu.
Werde ich also mit meiner Tochter, wenn sie ein kleines bisschen älter ist, zur Wiesn gehen? Sicher. Sie ist in diese und keine andere Welt geboren, und alles, was ich mir für sie wünsche, ist, dass sie sie auch erfahren kann. Dass sie möglichst viel von dem erleben kann, was es zu erleben gibt – und das Kitzeln im Bauch auf dem Kettenkarussell gehört unbedingt dazu.
Und wie soll sie mithelfen, die Welt zu einer besseren zu machen, wenn sie nicht erlebt, dass auch Menschen mit ganz anderen Hintergründen, Agendas und schrägen Klamotten und Weltanschauungen auch meistens nur eines wollen: eine gute Zeit haben.
Ist das Oktoberfest der beste Ort, um das zu lernen? Wahrscheinlich nicht. Aber es ist auch nicht der schlechteste Ort, um zu checken, dass Gaudi nicht zur Abgrenzung taugt. Dass es arm ist, Leute für die Art zu dissen, auf die sie Spaß haben. Vorausgesetzt natürlich immer, der Spaß schadet niemandem.
Wenn wir eins gelernt haben in der Pandemie, dann doch wohl, dass still zu Hause sitzen auf Dauer auch keine Art ist, auf den Tod zu warten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“