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Oktoberfest und ExzessZu Hause sitzen ist auch keine Art

Das Oktoberfest hat bei vielen einen zweifelhaften Ruf. Aber es ist ein guter Ort, um zu checken, dass Gaudi nicht zur Abgrenzung gegen andere taugt.

Münchner Wiesn: Der Zustand der Welt zeigt sich da, wo verschiedene Menschen zusammenkommen Foto: Michael Probst/ap

E rinnern Sie sich noch? „Die Welt nach Corona wird eine andere sein“, hieß es. Und ich war vermutlich nicht die Einzige, die das mit einem wohligen Gefühl von Hoffnung geglaubt hat. Zwei Jahre Verzicht und Verlangsamung müssen doch ein bisschen Besinnung bewirken können – klima- und sozialpolitisch, oder? Hinter der Entschleunigung, den Grenzerfahrungen musste doch das große Ganze: Solidarität, Mitgefühl, umso heller einleuchten.

Mich haben die Lockdowns an das erinnert, was wir in der 9. Klasse unseres bayerischen Gymnasiums Besinnungstage nannten: eine Woche in einem alten Kloster, wo wir uns in gruppendynamischen Spielen emotional ein bisschen nackig machen mussten. War natürlich super anstrengend und peinlich, aber tatsächlich waren wir als Klasse nachher ein Team, keine Cliquen mehr.

Gut, wir hatten natürlich Glück, dass mein Freund M. beim Kiffen nur beinahe aus dem Fenster des dritten Stocks gefallen ist. Weil aber alles gut ging, sind selbst schüchterne Leute wie ich ein bisschen größer nach Hause gegangen.

Aber hey, die Welt ist kein bayerisches Gymnasium – und deshalb nach Corona genau wie vor Corona. Herbstsonnenklarer als jetzt kann es gar nicht sein, denn derzeit läuft die erste Wiesn aka Oktoberfest nach der Pandemie. Und klar läuft der „Mein Exzess ist besser als deiner“-Contest schon seit Wochen auf Hochtouren.

Ist die Wiesn Abschaum?

Denn wir können uns zwar weder auf einen vernünftigen Umgang mit Putin, ordentliche Waffenlieferungen an die Ukraine, Unterstützung für die Frauen Irans, die ihr unterdrückerisches Kopftuch ablegen wollen (und dafür sterben), eine faire Gasumlage und schon gar nicht auf ein bisschen echten Verzicht fürs Klima (oder auch: unser Überleben) einigen, aber darauf: Die Wiesn ist nicht Bier-, sondern Abschaum. Da werfen sich Menschen in seltsame Kostüme und tun unter Einfluss von Drogen enthemmte Dinge, pfui. Ganz anders als beim Karneval oder im Berliner Kitkat-Club, klar.

Ich will nichts beschönigen und schon gar keine Verbrechen rechtfertigen. Sexuelle und gewaltvolle Übergriffe sind genau das: Verbrechen, und niemals einfach Kollateralschäden von Exzess. Rassistische und sexistische Lieder, Sprüche haben nirgends etwas verloren auf keiner Party, zu keiner Zeit. Das ist doch auch klar.

Aber es ist auch lächerlich, so zu tun, als wäre all das Alleinstellungsmerkmal der Wiesn und nicht überall zu finden: in Fußballstadien, beim Karneval, beim Spring Break. Macht es das besser? Rechtfertigt das irgendwas? Nö. Aber es ist halt so: Der Zustand der Welt zeigt sich am deutlichsten da, wo viele Menschen aus verschiedenen Blasen zusammenkommen. Und siehe da: Die Welt ist schlecht.

Steckerlfisch und Kotze

Aber zugleich auch schrill, bunt und aufregend. Manchmal riecht sie nach gebrannten Mandeln, manchmal nach Steckerlfisch und Lebkuchen, manchmal nach Kotze. Gut, in Berlin meist nach Hundescheiße, aber auch das gehört halt dazu.

Werde ich also mit meiner Tochter, wenn sie ein kleines bisschen älter ist, zur Wiesn gehen? Sicher. Sie ist in diese und keine andere Welt geboren, und alles, was ich mir für sie wünsche, ist, dass sie sie auch erfahren kann. Dass sie möglichst viel von dem erleben kann, was es zu erleben gibt – und das Kitzeln im Bauch auf dem Kettenkarussell gehört unbedingt dazu.

Und wie soll sie mithelfen, die Welt zu einer besseren zu machen, wenn sie nicht erlebt, dass auch Menschen mit ganz anderen Hintergründen, Agendas und schrägen Klamotten und Weltanschauungen auch meistens nur eines wollen: eine gute Zeit haben.

Ist das Oktoberfest der beste Ort, um das zu lernen? Wahrscheinlich nicht. Aber es ist auch nicht der schlechteste Ort, um zu checken, dass Gaudi nicht zur Abgrenzung taugt. Dass es arm ist, Leute für die Art zu dissen, auf die sie Spaß haben. Vorausgesetzt natürlich immer, der Spaß schadet niemandem.

Wenn wir eins gelernt haben in der Pandemie, dann doch wohl, dass still zu Hause sitzen auf Dauer auch keine Art ist, auf den Tod zu warten.

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Ariane Lemme
Redakteurin
schreibt vor allem zu den Themen Nahost, Antisemitismus, Gesellschaft und Soziales
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7 Kommentare

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  • Also, ich könnte mich schon auf meinen Umgang mit Putin, muß weg!, ordentliche Waffenlieferungen an die Ukraine ,sofort Leo 2!, Unterstützung für die Frauen i. Iran, Irans Regim muß weg!(Israelis, da gibt es doch Möglichkeiten!) festlegen.



    Dieser Pipifax Oktoberfest, Kit Cat Club oder Berghain haben in DIESEM Zusammenhang "Ausgschamt"(Rechte gesichert)!



    Und wer 14,50 Euro für ein halbes Hendl ausgibt nun. ja..!



    Erst kommt das Fressen dann die Moral!

    • @Ringelnatz1:

      Wenn Sie schon den bayerischen Begriff "Ausgschamt" benützen, dann machen Sie sich doch bitte auch die Mühe erstmal zu ergründen was er bedeutet.



      Soviel sei verraten: Sie liegen meilenweit daneben.



      Und der Rest: Ja mei - Ich weiß schon warum ich derartigen Massensufforgien in weiten Bogen aus dem Wege geh: Es ist ausgschamt teuer und was dabei rauskommt ist ein Massenexitus grauer Zellen im Kopf - wie man unschwer erkennen kann.

      • @LittleRedRooster:

        Ja, ja was so ein richtiger Noagerlzuzler ist!

        • @Ringelnatz1:

          "Jaja, was so ein richtiger Noagerlzuzler ist!"... (Ringelnatz1)

          ...der treibt sich natürlich in den Bierzelten rum. Wie und wo sollte er sonst auch an seine Noagerl kommen?

  • "die ihr unterdrückerisches Kopftuch ablegen wollen (und dafür sterben)"

    Jetzt müssen also ermordete iranische Frauen für einen zünftigen Kommentar über das Oktoberfest herhalten.

    "Ausgschamt" nennt man das dann wohl.

    Prost.

  • Alternativ zeigt man seinen Kindern wie man Spaß hat ohne Exzesse, das funktioniert nämlich ganz wunderbar.

  • In Anlehnung an Eugen Roth mit einem augenzwinkernden Schmunzeln: "Die besten Feste, das steht fest, sind die oft, die man sausen läßt." Klar wollen alle ihr altes Leben zurück, aber schon bei den Energiekosten für Fahrgeschäfte ist ein Quantensprung zu erwarten. Schiffschaukel und Kettenkarussell, das ist noch immer reizvoll. Also dann eine dufte Sause in München!