Ökonom warnt vor Energiekrise in Italien: „Für mich ist das Wahnsinn“
Italien gewinnt die Hälfte seines Stroms aus Gas – und weder Politik noch Bürger planen für den Winter. Das gehe nicht gut, meint Davide Tabarelli.
taz: Herr Tabarelli, in Deutschland herrscht angesichts der drohenden Lieferausfälle beim Gas aus Russland Panik, Angst vor kalten Wohnungen im Winter, vor stillstehenden Fabriken. Wie ist die Stimmung in Italien, bei den Bürger*innen, aber auch in der Politik?
Davide Tabarelli: Sehr fröhlich, Ferienlaune eben. Musikalisch ausgedrückt: In Deutschland wird gerade Wagner intoniert, während in Italien heitere Weisen von Giuseppe Verdi erklingen. In La Fontaines Fabel „Die Grille und die Ameise“ würde Italien in diesem Moment die Grille geben, die entspannt den Sommer genießt, ohne ans Morgen zu denken. Und Deutschland hätte den Part der Ameise, die sich voller Sorge auf den nächsten Winter vorzubereiten sucht. Diese entspannte Haltung ist leider durch die Fakten nicht gerechtfertigt.
62, ist Präsident der italienischen Denkfabrik Nomisma Energia, die sich mit Energie- und Umweltthemen beschäftigt. Außerdem lehrt er an der Ingenieursfakultät der Universität Bologna. Wenn es nach ihm ginge, müsste Italien seine nicht ausgelasteten italienischen Gasreservoire anzapfen – wogegen Umweltschützer*innen protestieren.
Wie erklären Sie sich das?
Die Politik hat große Furcht davor, den Bürgern reinen Wein einzuschenken und ihnen zu erklären, was auf uns zukommt. Das fängt bei der Regierung Draghi an. Sie scheint von der Angst geleitet, sie könne Panik erzeugen und so breiten Protest provozieren. Und jetzt stehen auch noch die Parlamentswahlen ins Haus. Dabei hängt auch Italien beim Gas am seidenen Faden der Entscheidungen, die Putin trifft und treffen wird.
Was würde ein russischer Lieferstopp für Italien bedeuten?
Auch wir müssten unweigerlich zur Rationierung bei der Gasversorgung schreiten, ganz so wie Deutschland.
Objektiv sehen Sie zwischen Deutschland und Italien keinen großen Unterschied, was ihre Verwundbarkeit angeht?
Absolut nicht. Gewiss, Deutschland importiert mehr Gas aus Russland. Aber wenn wir auf den Mix bei der Stromerzeugung schauen, ist Italien viel exponierter. Fast die Hälfte unseres Stroms kommt aus Gaskraftwerken. Wir haben kaum noch Kohle- und keine Kernkraftwerke. Der Kohleanteil beim Strom erreicht gerade einmal 6 Prozent. Rationierung beim Gas hieße deshalb womöglich auch, dass wir Kraftwerke stilllegen müssen.
Wie müssen wir uns eventuelle Notlagen im Winter konkret vorstellen?
An wirklich kalten Tagen braucht Italien 400 Millionen Kubikmeter Gas pro Tag. Über die Pipeline aus Russland kommen 90 Millionen. Wenn die plötzlich fehlen, schaffen wir es auch mit gefüllten Gasspeichern nicht. Wenn Russland ausfällt, hätten wir womöglich schon im Dezember Probleme, an Tagen mit Spitzenverbrauch den nötigen Druck in den Pipelines zu erreichen.
Die Europäische Union will ihren Gasverbrauch im Vergleich zum Durchschnittsverbrauch der vergangenen Jahre um 15 Prozent reduzieren. Das sind rund 45 Milliarden Kubikmeter. Der Beschluss setzt zunächst auf Freiwilligkeit.
Absolut am meisten reduzieren müssten dafür Deutschland und Italien. Nach Berechnungen der EU-Kommission ist Deutschland angehalten, von August bis März 2023 gut 10 Milliarden Kubikmeter Gas zu sparen – in etwa der Durchschnittsverbrauch von fünf Millionen vierköpfigen Haushalten im Jahr. Italien benötigt eine Einsparung von etwas über 8 Milliarden Kubikmetern.
Was müsste die Regierung jetzt unternehmen?
Sie müsste sofort einen Rationierungsplan ausarbeiten für jene Tage, an denen aufgrund mangelnden Drucks in den Leitungen die Versorgung gefährdet ist, vorneweg also sich erst einmal einen detaillierten Überblick über die Großverbraucher verschaffen. Nur so kann man vermeiden, dass den Haushalten das Gas, das sie zum Heizen brauchen, abgedreht wird. Aber allein die Industrie kann nötige Schnitte nicht abdecken. Das Einsparpotenzial liegt bei etwa 20 Millionen Kubikmeter täglich – aber aus Russland beziehen wir 90 Millionen. Man wird deshalb auch über die Kraftwerke reden müssen und über Einschränkungen beim Heizen.
Aber die Regierung rührt sich nicht?
Mir sagte heute ein Abgeordneter, dass in Rom schier gar nichts passiert. Ich verstehe das einfach nicht. Ich denke, auch Deutschland, auch der Rest Europas müsste sich ernsthaft Sorgen um Italien machen. Ich jedenfalls werde mir einen Heizstrahler zulegen, wie das viele Deutsche tun. Sie fahren sogar bis nach Bozen, um die Dinger zu kaufen. Bei uns nämlich sind sie noch verfügbar – auch das macht ein wenig den Unterschied zwischen den beiden Ländern deutlich.
Die Regierung macht geltend, sie habe neue Gaslieferanten aus anderen Ländern erschlossen.
Gewiss, aber bis die das russische Gas ersetzen können, wird es mindestens ein, zwei Jahre dauern. Aus Algerien kommen jetzt zusätzlich vier Millionen Kubikmeter täglich, das reicht vorne und hinten nicht. Außerdem haben wir das Problem, dass wir einen Engpass in der Pipeline von Süd- nach Norditalien haben. Und wir reden jetzt so viel von Algerien. Aber was ist mit Libyen los? Die Lieferungen von dort gehen gegenwärtig wegen des Bürgerkriegs zurück.
Der Minister für ökologische Transformation, Roberto Cingolani, erklärt, bei den Erneuerbaren habe sich dieses Jahr viel bewegt. Er spricht von 8 Gigawatt neu installierter Leistung bei der Stromversorgung, die in den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 hinzugekommen seien.
Wirklich zählen die Zahlen des nationalen Stromnetzbetreibers Terna. Die neueste Statistik ist gerade jetzt herausgekommen und demnach gingen 1,1 Gigawatt aus Wind- und Solarkraft im ersten Halbjahr 2022 effektiv ans Netz. Gegenüber möglichen Ausfällen beim russischen Gas ist das ein Tropfen auf den heißen Stein.
Der Minister schließt zugleich aus, dass dazu geeignete Kraftwerke wieder zur Nutzung von Kohle zurückkehren oder stillgelegte Kraftwerke wieder in Betrieb genommen werden könnten.
Für mich ist das Wahnsinn. Das steht für die Oberflächlichkeit, von der ich schon sprach. Das Problem, vor dem wir stehen, wirklich ernst zu nehmen hieße nicht zuletzt: die Bereitschaft aufzubringen, sich die Hände schmutzig zu machen – zur Not auch mit Kohle.
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