Ökonom über Konjunkturprobleme: „Das ist der Weg zur Industrie 4.0“
Trotz Stagnation sei die Angst vor eine Deindustrialisierung unbegründet, sagt Ökonom Rudolf Hickel. Doch die EZB solle sich fürs Klima engagieren.
taz: Ob Fachkräftemangel, Bürokratie oder hohe Steuern – die Klagen der Unternehmen mehren sich wieder. Vor allem die hohen Energiepreise setzen ihnen angeblich zu. Droht eine Deindustrialisierung der deutschen Wirtschaft?
Rudolf Hickel: Der Begriff der Deindustrialisierung ist völlig unzutreffend. Diese apokalyptische Beschwörung vom Absturz Deutschlands lenkt von den aktuellen Krisenursachen ab. Sicherlich sind die Herausforderungen infolge des ökologischen Umbaus gigantisch. Aber der derzeitige Prozess hat wenig mit einem Verschwinden der Industrie zu tun.
Welcher Prozess ist das?
Nicht die Deindustrialisierung treibt die Wirtschaft an. Im Gegenteil, wir durchleben den politisch voranzutreibenden Umbau in das Industriezeitalter der Klimaneutralität. Ein Beispiel: In der Stahlindustrie werden die alten Hochöfen demontiert. Aufgebaut wird dafür die Greensteel-Industrie mit CO2-minimalen Mega-Anlagen auf Wasserstoffbasis. Natürlich wird dieser Umbau auch zu Übergangsschwierigkeiten führen. Das ist jedoch nicht das Ende der Industrie, sondern der Weg zur Industrie 4.0 – ein Beleg für Schumpeters „schöpferische Zerstörung“!
Rudolf Hickel
Jahrgang 1942, lehrte an der Uni Bremen politische Ökonomie und war 1975 Gründungsmitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik.
Besteht nicht die Gefahr, dass Unternehmen wegen zu hoher Energiepreise abwandern?
Natürlich sind die importieren Energiepreise noch immer sehr hoch und lösen Wettbewerbsnachteile für energieintensive Unternehmen aus. Dennoch entpuppt sich oftmals die Warnung vor der Abwanderung als reine Drohgebärde.
Nach einer leichten Winterrezession hat die deutsche Wirtschaft zuletzt nur noch stagniert. Der Internationale Währungsfonds geht mittlerweile davon aus, dass sie dieses Jahr insgesamt um 0,3 Prozent schrumpfen wird. Da machen sich doch schon die Transformationsprobleme bemerkbar.
Die Wirtschaft ist derzeit noch mit ganz anderen Problemen konfrontiert: die importierten Energiepreise sind ein treibender Kostenfaktor, die Exporte sinken wegen mangelnder Nachfrage aus dem Ausland, vor allem bei einkommensschwachen Haushalten drückt die Inflation auf die Konsumnachfrage und durch die reaktivierte Schuldenbremse entstehen staatliche Finanzierungsengpässe. Beschleunigt wird die Absturzgefahr der Wirtschaft zudem durch die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrer vor einem Jahr gestarteten Zinswende.
Die EZB hat vergangene Woche eine Erhöhung des Leitzinses beschlossen. Er liegt nun bei 4,25 Prozent. So hoch war er zuletzt zu Beginn der Finanzkrise 2008. Ist das zu viel?
Die erneute Erhöhung der Leitzinsen ist aus mehreren Gründen falsch. Das fängt bereits mit der Diagnose der EZB an: Die hartnäckige Geldentwertung ist nicht auf eine hausgemachte Übernachfrage zurückzuführen. Stattdessen wird sie immer noch von den hohen Energiepreisen angetrieben. Hinzugekommen sind die steigenden Lebensmittelpreise. Wie soeben der Internationale Währungsfonds gezeigt hat, treiben im Euroraum auch marktbeherrschende Unternehmen die Preise zur Profitsteigerung in die Höhe. Diese Preistreiberei kann die EZB mit ihrer Geldpolitik nicht bekämpfen. Stattdessen sind die Schäden der Zinswende zum Beispiel in der Bauindustrie bereits unübersehbar.
Kritik an der EZB kommt nun auch von ungewöhnlicher Seite. Die Umweltorganisation Greenpeace wirft ihr vor, nicht genug für den Klimaschutz zu tun.
Damit hat Greenpeace recht. Die EZB hat im Juni dieses Jahres ihren Beschluss vom letzten Oktober, zumindest die Erlöse aus Tilgungen im Rahmen des APP-Anleihekaufprogramms wieder anzulegen, zurückgenommen. Damit stehen die im Zuge der Tilgung freiwerdenden Mittel nicht mehr zum Aufkauf von Anleihen klimafreundlicher Unternehmen zur Verfügung. Mit der Konzentration auf eine auch noch erfolglose Antiinflationspolitik hat sich die EZB aus dem Greening ihrer Bilanz verabschiedet.
Ist es überhaupt Aufgabe der EZB, Klimapolitik zu betreiben?
Geldpolitik ohne Verantwortung für den Klimawandel geht heute nicht mehr. Die EZB hatte das ja mit ihren vorbildlichen Anforderungen in ihrer sogenannten Klimaagenda vom 4. Juli 2022 begriffen. Demnach will die EZB eigentlich ihre Geldpolitik mit dem Klimaschutz in Einklang bringen.
Wie nutzt es dem Klima, wenn die EZB Unternehmensanleihen kauft?
Zunächst muss festgehalten werden, dass die EZB nur auf dem sogenannten Sekundärmarkt Anleihen kaufen darf, also nicht direkt von Staaten und Unternehmen. Wenn sie aber auf den Wertpapiermärkten zum Beispiel gezielt Anleihen eines Windanlagenherstellers kauft, dann verbessert sie dessen Finanzierungslage, verschafft ihm also einen Vorteil gegenüber einem Erdölkonzern, der mit seinem Geschäftsmodell dem Klima schadet.
Die EZB verstößt gegen ihr Neutralitätsgebot, wenn sie klimafreundliche Unternehmen bevorzugt.
Natürlich ist die Zentralbank nicht mehr nach dem Motto „egal welche Unternehmen, Hauptsache die Geldmenge wird bewegt“ neutral. Zumindest bei den Anleihen aber sollte die Priorisierung der Geschäfte nach ökologischen Mindeststandards erfolgen. Die Klimakrise hat diese Neutralität, die bisher auch CO2-ausstoßenden Unternehmen genutzt hat, aufgekündigt.
Und was ist mit dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank von zwei Prozent?
Die EZB steht vor einem viel zu wenig diskutierten Tabubruch. Die Zielinflationsrate von zwei Prozent wird trotz massiven Strukturwandels seit Jahrzehnten für unantastbar gehalten. Doch wird dies zunehmend in Widerspruch mit dem gewollten ökologischen Umbau geraten, der über die gesamte Wirtschaft hinweg zu höheren Preisen für CO2-Emissionen führt. Die ökologisch unvermeidbare höhere Inflationsrate in der Umbauphase darf aber geldpolitisch nicht mit der klimablinden Zwei-Prozent-Grenze auch noch mit der Folge der konjunkturellen Schwächung bekämpft werden. Gegen sozial ungerechte Folgen muss dann der Klimabonus eingesetzt werden. Zu diesen Herausforderungen schweigt die EZB.
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