Oberster Regulierer über Gassparen: „Wir sollten uns nicht täuschen“
Verbraucher sollten sich jetzt schon Gedanken machen, wie sie mit weniger Erdgas auskommen, rät Klaus Müller, Chef der Bundesnetzagentur.
taz: Herr Müller, Anfang der Woche kam etwa ein Viertel des hiesigen Gasverbrauchs aus Russland, jetzt sind es vielleicht noch 15 Prozent. Können wir auf diese überschaubare Menge verzichten, ohne dass hier alles zusammenbricht?
Klaus Müller: Nein, das schätzen wir anders ein. Der komplette Ausfall der russischen Lieferungen würde Deutschland vor gravierende Probleme stellen. Wir sollten uns nicht täuschen. Der Sommer ist warm, augenblicklich wird wenig Gas verbraucht, Unternehmen und Privathaushalte sparen schon gewisse Mengen. Kältere Temperaturen können das schnell ändern.
Der russische Konzern Gazprom hat am Mittwoch den Gasfluss durch die Pipeline Nord Stream 1 reduziert, kündigte aber größere Lieferungen über die Slowakei an. Wie sieht es damit aus?
Dabei handelte es sich erst mal nur um Ankündigungen. In den Leitungen sahen wir das am Mittwochvormittag noch nicht. Sollte es allerdings eintreten, wäre es bemerkenswert. Denn früher hat Gazprom Reduzierungen in einer Pipeline nicht an anderer Stelle kompensiert.
Der 51jährige leitet die Bundesnetzagentur in Bonn, die im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums unter anderem die deutschen Netze für Strom, Gas und Telekommunikation reguliert.
Angenommen, es gibt weiter die reduzierte Menge – kommen wir damit halbwegs durch den Winter?
Das würde schon sehr, sehr eng. Mit der 40-prozentigen Auslastung von Nord Stream 1 wie Anfang Juli kämen wir nach unseren Berechnungen einigermaßen zurecht. Voraussetzung: Wirtschaft und Haushalte sparen selbstständig etwa ein Fünftel ihres Gaskonsums ein, und der Winter wird nur durchschnittlich kalt, und unsere Nachbarn brauchen keine unerwartete Hilfe. Zur Not können wir auch mit einer halbierten Gasmenge aus Russland unsere Speicher noch etwas weiter auffüllen. Das ist sehr wichtig, um mit einem gewissen Vorrat ins nächste Jahr und den Winter 2023/24 zu gehen.
Haben Sie einen Plan, welche Unternehmen als erste weniger oder kein Gas mehr bekämen?
Die Bundesnetzagentur entscheidet erst, wenn die Bundesregierung per Verordnung eine Gasmangelnotlage ausruft. Mit den aktuell verfügbaren Tools und Daten würden wir dann in der von einer Notlage betroffenen Region das Gros der Letztverbraucher zu einer ratierlichen Verbrauchssenkung, also um einen gewissen Prozentwert des regulären Verbrauchs, auffordern. Bis voraussichtlich zum Oktober bauen wir eine Datenplattform auf, aus der wir ablesen können, wer wie viel Gas verbraucht und welche betriebs-, volkswirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen eine Einschränkung des Gasbezugs hätte. Hierdurch können wir für die großen Letztverbraucher zielgenaue Aufforderungen erlassen, welche die ratierlichen Vorgaben dort ersetzen. Wichtig ist das zum Beispiel, weil Anlagen in der Keramikindustrie zerstört werden, wenn dort nicht mehr genug Brennstoff ankommt. Auch die Grundstoffchemie, die unter anderem Vorprodukte an die Lebensmittel- und Arzneimittelindustrie liefert, muss unbedingt weiterlaufen.
Kann die Bundesregierung aufgrund des renovierten Energiesicherungsgesetzes auch den Verbrauch der Privathaushalte einschränken?
Nach europäischem Recht sind im Falle einer Gasmangellage zuerst Industriebetriebe abzuschalten. Privathaushalte, Krankenhäuser, Schulen oder Pflegeheime sind dagegen besonders geschützt. Es gibt aber kein Recht darauf, Gas beliebig zu verschwenden. Ich glaube, dass der Preis mit seiner unsozialen Härte die wirkungsvollste Maßnahme sein wird, damit auch die Privathaushalte Gas sparen.
Wäre denn im Notfall eine Festlegung auf beispielsweise 18 oder 19 Grad als maximale Raumtemperatur für Privatwohnungen möglich?
Eine verordnete Senkung der Raumtemperatur kann nicht kontrolliert werden. Aber es gilt der deutliche Appell, dass jede und jeder im Familienrat überlegen möge, wie jetzt schon Gas eingespart werden kann, und das Gespräch mit der Vermieter:in über Heizungsoptimierungen gesucht werden sollte.
Für viele Privathaushalte haben sich die Gaskosten im Vergleich zum Vorjahr bis jetzt verdoppelt. Eine Verdreifachung bis 2023 ist nicht ausgeschlossen. Wie können Haushalte mit niedrigem Einkommen diese Belastung stemmen?
Die Bundesregierung hat eine Wohngeldreform mit einem integrierten Heizkostenzuschuss angekündigt. Das zielt in diese Richtung. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass wir die Belastung nicht für alle Menschen in Deutschland auffangen können. Ich finde es sozial fair, sich auf bedürftige Haushalte zu konzentrieren.
Wann könnte Deutschland von russischen Gasimporten im besten Fall völlig unabhängig sein?
Wirtschaftsminister Robert Habeck hat den Sommer 2024 für die Unabhängigkeit von russischem Gas genannt. Das ist ein ambitioniertes Ziel. Aber wir stehen völkerrechtlich in der Pflicht, perspektivisch aus den fossilen Energien insgesamt auszusteigen. Daran sollten wir mit Hochdruck arbeiten.
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