Zwei Fotos, eine Hand mit einem Stift und ein Kopf mit einem Bauhelm

Foto: Thekla Ehling, Doro Zinn

Oben und unten:Klassenfahrt

Was passiert, wenn immer mehr Menschen studieren? Und was wird aus denen, die das nicht tun? Über zwei Gruppen, die einander fremd werden.

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21.2.2022, 16:53  Uhr

Man kann den Eindruck gewinnen, dass André Schier, Anfang 40, einen leichten Spleen mit seinem Doktorgrad hat. Neulich traf er alte Kumpel in der Gaststätte, ein Freitagabend, man wollte Bier trinken, das erste Wiedersehen nach Monaten der Pandemie. Schier hatte auf seinen Namen reserviert – und mit dem Titel, der ihm kraft akademischer Verleihung voransteht. Der Kellner begrüßte Schier in aller Form, und einer der Freunde, Fliesenleger von Beruf, verdrehte die ­Augen: Ja, ja, der Herr Doktor wieder, so, so. Wir wollen doch nur Karten spielen.

Entspann dich, sagte Schier, freundlich natürlich. So heiße ich nun mal.

Als André Schier die Promotion abgeschlossen hatte, eine Analyse von Werbemotiven auf 278 Seiten, Untertitel: „Generation und politische Kultur politische Kultur im Zeichen gewandelter Lebenswelten in Deutschland im Digitalitätsdiskurs in Werbung“, als er eine Widmung an die Mutter vorangestellt, die Ergebnisse an der Uni verteidigt und die Urkunde erhalten hatte, da fragte er einen Freund, Akademikerspross und Doktor der Gesundheitsökonomie, wie man denn nun mit dem so mühevoll erworbenen Grad verfahre. Was tut man, wenn man nach Jahren des Bildungsaufstiegs oben angekommen ist. In seiner Familie gab es niemanden, der sich mit so etwas auskannte.

Der Doktorgrad, antwortete der Freund, sei für ihn eher wie eine Krawatte, die man zu besonderen Anlässen trage, vielleicht mal bei schwierigen Telefonaten mit dem Amt heraushole. Dann kann der Doktor helfen. Ansonsten verschwinde der in der Schublade. Aufs Klingelschild schrieb der Freund den Doktor nicht.

André Schier über das Tragen seines Doktortitel

„Über andere erheben will ich mich nicht“

André Schier schon. Er ließ ihn im Personalausweis vermerken, das Impfzertifikat in der Corona-App weist ihn als Doktor aus. Wenn er als Dozent bei politischen Stiftungen arbeitet, ist er Doktor. Aber er hat sich auch mit Doktor bei seinem Bäcker in der Liste für die Sonntagsbrötchen eingetragen und auch beim Kinderturnen seiner Tochter. Wenn jemand es im Umgang förmlich will, so wie die Erzieherinnen in der Kita, die auf dem Sie bestehen, weil der Träger es ihnen so vorgibt, dann besteht Schier eben auch auf seinem Doktor.

„Ich habe zu sehr dafür gekämpft“, sagt Schier. Der Grad ist für ihn so etwas wie ein Beglaubigungsschein, es geschafft zu haben. Und auch eine Beschwörungsformel, die es Schier erlaubt, seinen Frieden mit sich zu machen. Über andere erheben, sagt er, wolle er sich damit nicht.

Ein Mann arbeitet an seinem Schreibtisch

Dr. André Schier im Homeoffice Foto: Thekla Ehling

Wie die Klassen in diesem Land einander sehen, wie unbefangen ihr Blick ist, und ob die Beteuerungen der jeweils einen Seite, dass er unbefangen sei, von der anderen so ohne Weiteres geglaubt werden können – das lässt sich vielleicht an einer Geschichte wie der von André Schier erkunden. In seiner Biografie fallen die Gegensätze zusammen: Er ist ein Arbeiterkind, das es zum promovierten Akademiker gebracht hat.

Dass ein solcher Weg unwahrscheinlich ist, ist hinreichend beklagt, die Zahlen sind bekannt, man kann sie zum Beispiel nachlesen in einer Studie des Stifterverbands. Von 100 Kindern, deren Eltern nicht studiert haben, wechseln nach der Grundschule nur 46 aufs Gymnasium oder eine ähnliche zum Abitur führende Schule. Von diesen 46 wiederum beginnen nur 27 ein Studium. 20 schaffen den Bachelor-, 11 den Masterabschluss. Und gerade einmal 2 Kindern gelingt am Ende die Promotion.

Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien gehen 83 aufs Gymnasium oder eine vergleichbare Schule, und fast alle von ihnen wechseln im Anschluss an eine Hochschule. Die große Mehrheit tut, was die Eltern taten: studieren. Nur 21 von 100 Akademikerkindern tun das nicht. Einer von ihnen ist Julian Diaz.

Wenn Diaz, Ende 20, die Arbeitsklamotten weggelegt hat und abends mit Freunden in Berliner Bars unterwegs ist, kommt irgendwann im Smalltalk die Frage, die ihn unter all den Germanistinnen, Pädagogen und Ökonominnen schlagartig zum Exoten macht: „Und was hast du studiert?“

Nix, sagt Diaz dann. Ich arbeite auf dem Bau. Kurze Irritation, das Gegenüber muss sich oft erst mal fangen, Diaz kennt das. Nee, wirklich?

Julian Diaz über seinen Job als Gleisbauer

„Die Arbeit ver­folgt dich nicht wie ein Schatten überall hin“

Dann nimmt das Gespräch, auch das kennt Diaz, einen ganz bestimmten Verlauf, es kommen Nachfragen, die den Gegensatz, den sie überbrücken sollen, doch vertiefen. Ob das nicht hart sei, so auf dem Bau? Ist es, sagt Diaz dann. Dafür sind die Regeln klar, am Ende des Monats kommt das Geld und du hast Feierabend, wenn Feierabend ist. Die Arbeit bringt vielleicht keine Selbstverwirklichung, dafür verfolgt sie dich nicht wie ein Schatten überall hin. Keine E-Mails von der Kollegin am Wochenende, die noch eine Präsentation fertigstellen will.

Auf der Baustelle musst du zupacken, aber auch präzise sein, so ein Gleis muss auf den Millimeter genau verlegt werden, damit ein Zug später sicher darauf fahren kann. Du machst etwas, was anderen nützt, auch wenn du dabei oft unsichtbar bleibst und nicht das Gefühl hast, deine Persönlichkeit in ein Werk zu gießen. Früher konntest du dir mit der Arbeit auf dem Bau ein gutes Mittelschichtsleben ermöglichen, eine Wohnung kaufen, ein Haus bauen, eine Familie versorgen, heute leider kaum. Mehr Geld wäre gut und eine kürzere Arbeitszeit, man kann versuchen, dafür zu kämpfen, in der Gewerkschaft, wie er das ja auch mache.

All das könnte Diaz erklären. Aber viele Studierte, sagt er, scheinen die Details gar nicht hören zu wollen, sie führen das Gespräch immer wieder auf den einen Punkt zurück, auf die Härte der Arbeit, so wie es die Kollegen vom Bau nie täten.

Die Gesprächspartner mit Hochschulsozialisation beginnen mit Mutmaßungen über die körperlichen Beanspruchungen, über den Rücken, die weiten Fahrten zu den Baustellen, den schlauchenden Schichtdienst. Ein bisschen, als sollte mit scheinbar mitfühlenden Fragen eigentlich nur Stoff zum Gruseln herausgekitzelt werden. Als wollten sie den echten Arbeiter tiefer ins Elend hineinfragen – weil es für sie so fremd ist. Vielleicht aber auch, weil es etwas ist, vor dem man aus einem sich wichtig wähnenden Wissensjob heraus tatsächlich Respekt zeigen kann. Weil man nach Ansatzpunkten für Achtung sucht in dem Moment, in dem eine Begegnung so unverhofft offenbart hat, dass sich die Gesellschaft doch in oben und unten teilt.

Eine Studentin, bei der gerade alles um die Bachelorarbeit kreiste, sagte: So ein körperlicher Job sei doch auch mal was Schönes, man habe den Kopf frei und könne einfach die Gedanken schweifen lassen. Der Satz ist Diaz besonders in Erinnerung geblieben: Als wäre er bei der Arbeit nur Muskelkraft und nicht auch Konzentration, Koordination, Aufmerksamkeit, Freude, Ärger.

Ein Mann in Arbeitskleidung steht auf einer Baustelle

Julian Diaz bei der Arbeit Foto: Doro Zinn

Ein Café am Berliner Hauptbahnhof, Julian Diaz war seit sieben Uhr in der Früh im Dienst, und während er nun am Nachmittag erzählt, wie er manchmal das Fremdeln der Akademiker spürt, fühlt man sich kurz ertappt: Hat man sich selbst nicht eben noch die Mühen auf dem Bau schildern lassen und sie eifrig im Block notiert? Wie es zum Beispiel ist, wenn man mit der Stopfmaschine am Gleis steht, um den Schotter unter die Schienen zu rütteln, wie die Vibra­tio­nen des Motors die Durchblutung verschlechtern und sich Stunden nach der Schicht Beine und Arme taub fühlen. Warum wollte man das wissen? Um sich seiner eigenen staubfreien Lage bewusst zu werden? Weil man ja selbst mal aufgestiegen ist aus einfachen Verhältnissen und sich seither heimlich dafür schämt, dass man sich so oft nicht mehr einfühlen möchte in die Welt, aus der man kommt?

Unter Soziologinnen und Soziologen wird seit einiger Zeit diskutiert, ob Akademiker und Nichtakademiker einander zunehmend fremd gegenüberstehen. Die Romanistin, die sich freiberuflich als Literaturübersetzerin durchschlägt, lebt zwar mit ähnlich prekärem Kontostand wie die Reinigungskraft. Trotzdem kämen beide nicht auf die Idee, zur selben Klasse zu gehören. Die Mittelschicht von früher gerät kulturell in die Defensive. Die Steuergehilfen, Facharbeiter und Autohändler merken, dass das Geld für sie vielleicht noch reicht, aber ihre mittlere Reife den Wert verloren hat.

Die Mittelschicht von früher gerät kulturell in die Defensive, seit immer mehr Menschen Hochschul­abschlüsse anstreben

Seit immer mehr Menschen höhere Bildungsabschlüsse anstreben, hat sich eine neue akademische Mittelklasse herausgebildet, die nun tonangebend wird. Sie prägt die Debatten, lebt in der Großstadt, ist in der Welt zuhause, verwirklicht sich im Beruf und wählt bewusst einen Lebensstil, der Einzigartigkeit verheißen und bloß nicht gewöhnlich sein soll. Man glaubt, den eigenen gehobenen so­zia­len Status durch Klausuren, Zeugnisse und Abschlussarbeiten verdient zu haben.

Der Aufgestiegene selbst ist dabei das beste Beispiel, dass man es durch Anstrengung und Fleiß schaffen kann, und gut möglich, dass manch ein Aufgestiegener sogar noch ein bisschen mehr an Leistung und Eigeninitiative glaubt, gerade weil ihn trotz allem Erfolg das Gefühl nie loslässt, sich immerzu beweisen zu müssen.

Und die, die nicht aufsteigen? Welche Deutung können die ihrem Leben geben?

Julian Diaz ist am Bodensee aufgewachsen, die Mutter Lehrerin, der Vater Ingenieur, akademisches Milieu. Es galt als gesetzt, dass er es ihnen nachtun würde. Das Grundschulzeugnis fiel gut aus, natürlich sollte es danach aufs Gymnasium gehen, so schildert er es im Bahnhofscafé.

Diaz entschied sich für eine Schule mit dem Schwerpunkt auf moderne Fremdsprachen, Französisch ab der 5. Klasse, Englisch ab der 7. Klasse. Auf den Zeugnissen sammelte er Einser wie andere Sticker im Panini-Album, Eins in Englisch, Eins in Französisch, Eins in Deutsch. In Mathematik vielleicht einmal eine Zwei, das waren lange Zeit die größten Ausrutscher.

Am Küchentisch entwarfen sie manchmal die Zukunft, ganz vage. Wie wäre es mit einem Job in der Botschaft, später. Erst mal das Studium, eine Sprache vielleicht, dann sieht man schon.

Manchmal erzählte die Mutter von ihrer Zeit an der Uni. Dass sie die Freiheit des Studentenlebens ein wenig zu sehr genossen hatte, etwas zu oft feiern ging und es dann, als die Abschlussprüfungen näher rückten, leider unschön anstrengend geworden sei. Geh das etwas ernster an als deine Mutter. Dann wird das schon.

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Für den Vater hatte das Studium eine besondere Bedeutung, es war sein Weg aus der Armut gewesen. Er war in Venezuela aufgewachsen, hatte dort schon mit 10, 11 Jahren auf einer Tabakplantage mithelfen müssen, schleppte nach dem Unterricht Säcke, Tag für Tag, Jahr für Jahr, bis er schließlich ein Stipendium bekam, das ihm ein Studium in Deutschland erlaubte.

In Venezuela hätte er sich womöglich nicht einmal die Busfahrt zu einer Uni leisten können. Und jetzt saß er im Hörsaal in Lübeck, später in Ulm und Konstanz, musste die Sprache lernen und biss sich durch die Seminare und Vorlesungen in einer Zeit, als Professoren ihren Erfolg noch an einer hohen Durchfallquote maßen und ihr Desinteresse an den Studierenden für ein Qualitätssiegel hielten. Für seinen Vater, so erzählt Diaz, bedeutete das Studium die Befreiung von harter körperlicher Arbeit. Man verdient ordentlich, wird geachtet. So sollte es dem Sohn auch ergehen.

Dem aber kam mit 15, 16 Jahren plötzlich die Lust abhanden. Julian Diaz ging lieber zur Antifa-Gruppe, stellte sich Naziaufmärschen entgegen, besuchte Punkkonzerte und las Marx, statt weiter gute Noten für die Zukunft zu sammeln. „Ich hatte das Gefühl, dass ich mich in meiner Freizeit mit wichtigeren Dingen beschäftige als in der Schule“, sagt er.

Es gab eine Mahnung, die sie manchmal in der Familie aussprachen. Julian Diaz hatte früher als kleiner Junge, wenn sie zu den Verwandten nach Venezuela reisten, immer mit kindlicher Faszination am Frankfurter Flughafen den Mann beobachtet, der draußen auf dem Rollfeld den Wagen mit all dem Gepäck zur Maschine fuhr. Wenn das mit dem Abitur nicht klappt, hieß es nun, musst du Koffer fahren.

Das war ein Scherz, aus der sozialen Halbdistanz einer Familie, die sich Kontinentalflüge leisten kann. Aber mit der Zeit wurde daraus eher ein leiser Verzweiflungsschrei.

Die Eltern buchten Nachhilfe, und Diaz ging nach der zweiten Sitzung nicht mehr hin. Mit 18, endlich volljährig, schrieb er die Entschuldigungen für die Schule selbst und fehlte bald fast die Hälfte der Zeit. Er setzte in der 12. Klasse aus, jobbte ein paar Monate bei einem Veranstaltungstechniker in Berlin, Auf- und Abbauen bei Konzerten, um nach den Sommerferien einen neuen Anlauf zu nehmen. Er nahm sich vor aufzupassen, aber die Formeln und Gleichungssysteme da vorne an der Tafel wollten einfach keinen Sinn ergeben.

Und dann kam „dieser krasse Tag“, wie Diaz sagt. Er war wieder nicht in der Schule gewesen, als der Rektor zu Hause anrief und Julian Diaz mit dessen Mutter zu sich bestellte. Da saßen sie nun, und der Schulleiter sagte, nicht böse, eher bedauernd: Es gibt zwei Möglichkeiten, entweder du gehst jetzt freiwillig oder wir müssen dich von der Schule werfen.

André Schier steigt die ­Stufen zum Eingang hinauf, ein Sechziger-Jahre-Funktionsbau mit Flachdach, Bildungs­expansions­beton. Es sind Ferien, und die leeren Fahrradständer stehen auf dem Schulhof wie Gerippe in der Wüste. Vor der Glastür verweist Schier auf die Platte, die hier direkt im Pflaster eingelassen ist: ein hellroter marmorner Stern wie auf dem Walk of Fame in Hollywood, in goldenen Buchstaben steht darin: „Abi 2000“. Sein Jahrgang.

Jeden Sommer verewigen sich die Abiturientinnen und Abiturienten auf dem Schulhof, meistens mit kleinen Plaketten. Das Denkmal der 2000er fiel besonders groß aus und besonders teuer. Vielleicht 4.000 Mark habe der Stern damals gekostet, sagt Schier. In der Stufe war umstritten, ob man so viel ausgeben sollte, und bei den Versammlungen war André Schier einer derjenigen, die besonders vehement dafür warben. „Weil es mir wichtig war, der Schule einen Stempel aufzudrücken“, sagt er. Hier sind wir. Hier bin auch ich. Der Erste in meiner Familie, der das Abitur geschafft hat.

Großvater in der Papierfabrik, Großmutter Haushälterin

Seine Mutter hatte ihn früh bekommen, mit 17, da machte sie ihre Bürolehre. Schier wuchs bei den Großeltern auf, mit dem Großvater, der in einer Papierfabrik arbeitete, mit der Großmutter, die Haushälterin war, mit den beiden jüngeren Brüdern seiner Mutter, seinen Onkeln, die wie größere Brüder für ihn waren. Zu ihnen blickte er auf.

Und jetzt plötzlich: Sollte er aufs Gymnasium, ausgerechnet er, obwohl sie alle nur die Hauptschule besucht hatten? Er ist halt anders, sagte die Mutter zu ihren Brüdern. Er ist halt anders, fanden auch die Studienräte, die ihn da plötzlich in ihrer Klasse entdeckten. Ein Junge mit Klamotten vom Aldi unter lauter Markenkleidungsträgern. Ein dickes, stotterndes Kind mit Kassengestell auf der Nase und Gläsern, die ihre neun Dioptrien nicht im Geringsten zu verbergen versuchten.

Der Klassenlehrer, ein Bildungsbürger mit der Fächerkombination Altgriechisch und Latein, erklärte der Mutter, wenn er sie in die Schule bestellte, dass ihr Sohn hier nicht hingehöre. Die Mutter, eine junge Frau, noch keine 30 und allein deswegen so anders als die Erziehungsberechtigten der wohlbehüteten Häuser, ließ sich nicht beirren, woher auch immer sie die Entschlossenheit nahm.

Sind seine Noten denn schlecht? Nein? Dann bleibt er selbstverständlich.

Spürt man, dass man ein Außenseiter ist, dann ist die naheliegende Reaktion: sich unsichtbar machen, versinken vor lauter Herkunftsscham, abgehen, die Realschule ist ja keine Schande. Oder man ergreift die Flucht nach vorn, man kämpft, und wahrscheinlich ist es oft nur eine Frage von Zufällen und Feinheiten der Situation, welchen Weg man wählt.

André Schier verfasste ein Pamphlet für die Schülerzeitung, in dem er den Druck unter den Jugendlichen anprangerte, mit teurer Markenkleidung in den Unterricht kommen zu müssen. Die Mitschüler triezten ihn, aber er kandidierte als ihr Klassensprecher, später sogar als Schülersprecher, trotzdem. Oder deswegen. „Ich habe mich in der Achtung der anderen emporarbeiten müssen“, sagt er. „Du musst einen viel stärkeren Willen haben, wenn du aus einer bildungsfernen Schicht kommst.“

Als er ein Schulpraktikum bei einem Gas- und Wasserinstallateur machte, einem Bekannten der Familie, sagte die Großmutter am Mittagstisch: Ist das nicht schön? Da könntest du doch nächstes Jahr deine Ausbildung anfangen. Ich mache aber Abi, sagte Schier. Es braucht Kraft, wenn man als Arbeiterkind einen Bildungsweg einschlägt, der so nicht vorgesehen war. Und es braucht wohl ebenso eine bestimmte Art von Kraft, wenn man als Akademikerkind heute das Abitur hinwirft. Man muss seinen Stolz wahren, wenn die Hälfte eines Altersjahrgangs die Schule mit der Hochschulreife verlässt und man selbst nicht. Wenn immer mehr junge Menschen studieren, zuletzt waren 2,7 Millionen an den Hochschulen eingeschrieben. Wenn schon die eigenen Eltern die Uni besucht haben.

Eine Baustelle in einem U-Bahn-Schacht. Man hört auf dem Bahnsteig dumpf den Maschinenlärm, der herüberwabernde Staub macht die Luft diesig. Man muss hinter die Gitter, dort wo gerade ein neues Abstellgleis verlegt wird, auf dem die Bahn nachts parken kann. Schotterberge, wackelige Holzschwellen, unterbrochene Schienen, Männer mit orangfarbenen Warnwesten und Helmen aus weißem Hartschalenplastik. Ganz am Ende des Tunnels steht Julian Diaz, über ihm, in 10 Metern Höhe, ein langes rechteckiges Loch im dicken Dachbeton. Man sieht den grauen Himmel und schräg hineinragend einen gelben Kran.

„Julian, bitte melden.“ Der Kranführer. Diaz zieht das Funkgerät aus der Tasche am linken Oberschenkel. Das ist hier seine Aufgabe: Herunternavigieren, was auf der Baustelle benötigt wird. Heraufnavigieren, was weg muss. Vor, zurück, links, rechts. Neues Material rein, altes Material raus. 200 verschiedene Einzelteile brauchen sie hier unten. Die Schienen sind besonders knifflig: 16 Meter misst eine, sie schaukelt, dreht, schwenkt aus, wenn sie am Kran hängt. 16,5 Meter misst die Dachluke, durch die sie muss. Was noch hindurch muss: Container mit Schotter, verschiedene Schrauben, Muttern, Betonblöcke. An diesem Vormittag lotste Julian Diaz 18 Holzschwellen, 2 Weichenschienen und außerdem Diesel für den Bagger nach ­unten.

Mittlere Reife, und die Noten auch allenfalls mittel

Aus dem Funkgerät berlinert der Kranführer. „Is heut noch wat oder kann ick absteigen?“ „Sind durch“, spricht Diaz ins Gerät. „Mach dich mal schleunigst auf die Socken. Sehen wir uns morgen?“ „Hab morgen einen Arzttermin. Is auch nich so lustig.“

Der Schulleiter hatte Julian Diaz damals ein Abgangszeugnis gegeben, Mittlere Reife, die Noten auch allenfalls mittel, und Diaz war lange ratlos, was er damit anfangen sollte. Er wollte vor allem weg vom Bodensee, sagt er, weg von dem Gefühl des Misserfolgs. Er ging nach Berlin, probierte es erst mit einer Ausbildung als Rettungsassistent und schaute schließlich nach Lehren bei den Verkehrsbetrieben: Kfz-Mechatroniker, Bürokaufmann, Elektroniker, das Übliche. Aber dann gab es da noch etwas: Gleisbauer.

Wenn schon kein Allerweltsdiplom von der Uni in Jura oder Medizin oder Betriebswirtschaftslehre, warum dann nicht einen möglichst speziellen Lehrberuf? Das Schöne an dem Job sei ja, sagt Julian Diaz, dass er so unbekannt ist. Und damit etwas, was einem auch als Arbeiter, wenn man so will, einen Distinktionsgewinn verschafft, ein Stückchen von der Einzigartigkeit, mit der doch sonst vor allem die neue Akademikerklasse ihr Leben zu dekorieren versucht.

Für sein Selbstwertgefühl, sagt Diaz, sei das jedenfalls wichtig gewesen. Arbeiter ist nichts Unehrenhaftes, so liest man es ja auch bei Marx, und du stehst damit definitiv auf der richtigen Seite. Und trotzdem blieb das Gefühl, fremd zu sein. Etwa als er feststellte, dass die neuen Klassenbrüder oft gar nicht so kämpferisch sind, wie er sich das ausgemalt hatte, sondern sich vor allem Ärger vom Hals halten wollen. Oder wenn einer in der Frühstückspause vom Urlaub schwärmt. Pauschalreise, Mallorca, all inclusive, Ballermann-Musik, Hotelbüfett und Sangria mit den Kumpels, und Julian Diaz stumm dabeisitzt und denkt: Aber vom Land hast du nichts gesehen – warum verstehst du nicht, dass es viel schöner ist, auf eigene Faust zu ­reisen?

Er verspüre dann, sagt Diaz, tatsächlich so einen leichten Anflug von Arroganz bei sich: dass die Art, wie er zu reisen und zu leben gelernt hat, die irgendwie bessere ist. „Das ist ein Zwiespalt, und der wird wahrscheinlich auch nie weggehen.“

In den vergangenen Jahren haben sich Initiativen gebildet, die Arbeiterkindern an den Unis Mut machen wollen, Stiftungen investieren ihr Geld in die Bildungsförderung benachteiligter Gruppen, und autobiografisch geprägte Erzählungen haben die Buchläden geflutet, die vom Aufstieg aus einfachen Verhältnissen berichten.

Nur 27 von 100 Nichtakademikerkinder schaffen es an die Hochschulen, aber weil es immer noch so viel Nichtakademikereltern gibt, sind die Aufsteiger längst zu einer stimmgewaltigen Gruppe geworden. Der Weg durch die Bildungsinstitutionen hat sie mit den Mitteln und Begriffen ausgestattet, ihre Geschichte zu erzählen. Sie erzählen dann Heldenreisen mit Hürden, in denen die Herkunft trotz allem am Ende kein Schicksal bleibt.Für jede und jeden Einzelnen sind das wunderbare Erfolge, für die Gesellschaft sind all die Aufsteigergeschichte wie gemacht dafür, sie mit der in ihr klaffenden Ungleichheit zu versöhnen, ohne dass die unangenehme Tatsache dafür eigens angesprochen werden müsste.

Manchmal fällt zwar ein Schatten auf die Heldenerzählungen, sie handeln dann vom Schmerz, ein altes Umfeld verloren zu haben und sich im neuen nicht so richtig zugehörig zu fühlen. Und trotzdem hinterfragen die Geschichten selten ihre Voraussetzungen: dass schon im Begriff des Aufstiegs immer die Abwertung mitschwingt für das, was zurückgelassen wird. Dass man für das, was nicht Aufstieg ist, ein Wort in den Mund nehmen müsste, das eigentlich zu brutal ist, um es Leuten an den Kopf zu werfen. Dass es ein Geltungsgefälle gibt, das sich nicht einfach mit gutem Willen und beiderseitigem Wohlwollen auflösen lässt.

Oben und unten bleiben oben und unten, auch wenn man versucht, verständnisvoller aufeinander zu blicken.

Bergisch Gladbach, die alte Siedlung für Arbeiter

Bergisch Gladbach, die alte Siedlung für die Arbeiter der Papierfabrik, grau-weiß verputzte Häuser. André Schier steht mit seiner Mutter vor der Nummer 14, dem Haus der Großeltern, in dem er geblieben ist, als sie auszog. „Wann war das?“, fragt André Schier. „Als ich die Ausbildung gemacht habe“, sagt die Mutter. „Nicht erst später, als du den Lottoladen übernommen hast?“

Die Mutter erzählt, wie es dann für sie war, als Jahre später der Sohn auszog und sie zum Helfen kam. Sie standen hier und haben die Sachen ins Auto gepackt. Ein Jurastudium in Gießen also. So unbegreiflich weit weg von der kleinen Kleinstadtwelt, man hätte es sich nicht träumen lassen. „Wir standen hier und haben Rotz und Wasser geheult“, sagt sie.

Der Bruder der Mutter, Werkzeugmacher, sagte: Jura? Na ja, dann wirst du immerhin Anwalt, machst Kohle und kannst mich als deinen Fahrer einstellen. So erinnert sich Schier an seine Worte.

Nach einem Semester wechselte er dann. Politik, Geschichte, Philosophie und keine Aussicht mehr auf eine Kanzlei. Die Großmutter gab André Schier eine Stellenanzeige vom Finanzamt, das gerade Azubis suchte. Und der Bruder, so erzählt es die Mutter, verstand überhaupt nicht: Was man anfängt, macht man zu Ende, er hatte seine Lehre ja auch durchgezogen, vielleicht hat der André sich einfach übernommen. Und was arbeitet man eigentlich mit diesen Fächern?

Nach dem Abschluss, als er in der Erwachsenenbildung arbeitete, umgeben von dem ein oder anderen Doktor, rang Schier mit sich, ob er promovieren sollte, ein Jahr, zwei Jahre, mehrere Jahre brauchte er für das Eingeständnis, dass er es wollte.

Und der Bruder der Mutter wird vermutlich gedacht haben: Jetzt ist er völlig übergeschnappt. Der Kontakt wurde mit den Jahren loser, die Mutter erzählt, ihr Bruder habe hin und wieder mal bei Familienfeiern nachgefragt, wie es denn beim André gerade laufe. Ob er immer noch an der Doktorarbeit sitze. Vielleicht in der stillen Hoffnung, dass irgendwann sein Scheitern bekundet wurde.

Zur Geburt seiner Tochter, erzählt André Schier, habe der Bruder gratuliert, ein kleines Präsent inklusive. Zur erfolgreich verteidigten Dissertation kein Wort. Vermutlich, so schildern Schier und seine Mutter es, denkt der Bruder: Wir sind zusammen groß geworden, und jetzt hält der sich für was Besseres. Ist einer von denen da oben.

Die Anstrengungen, die Mühen, die Zweifel, die für die Doktorarbeit abgerungenen Gedanken stoßen bei einem Menschen, der mir wichtig ist, auf völliges Desinteresse. So empfindet André Schier es. Seinen Onkel kann man dazu nicht befragen. Seit Jahren haben sie nicht mehr miteinander geredet.

Es gab wohl, sagt Schier, zu viele Missverständnisse. Auf beiden Seiten.

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