Notizen aus dem Krieg: Gedanken an das Ende des Krieges
Unsere Autorin hat immer gehofft. Angesichts des Erfolgs der ukrainischen Gegenoffensive ist ihr nun nach Lachen und Weinen.
Kürzlich schrieb Iryna Kramarenko in ihren Notizen aus dem Krieg, dass sie nicht sicher ist, ob Menschen in der Ukraine noch Träume haben. Seit gute Nachrichten von der Ostfront verkündet werden, hofft die 34-Jährige, die früher als Übersetzerin arbeitete und jetzt in einem Hotel in der Westukraine jobbt, dass Träume doch zurückkommen werden.
2. August
Sie sagen, die Menschen gewöhnen sich an alles. Ich habe mich schon an Fliegeralarm gewöhnt. Auch an schlechte Nachrichten aus dem Krieg und an die Beerdigungen. Manchmal ist es schwer zu glauben, dass es je anders gewesen ist.
Wenn ich Filme schaue oder Bücher lese, in denen der Held durch nächtliche Straßen geht, denke ich: „Was ist mit der Ausgangssperre? Er kann nachts nicht rumlaufen!“ Unsere Straßen werden um 22 Uhr leer. Nur wenige Menschen haben eine Erlaubnis, sich dann noch draußen aufzuhalten. Keine späten Abendessen mehr und kein Abhängen mit Freunden in Nachtclubs.
Natürlich ist das kein hoher Preis, den wir in diesem Krieg zahlen. Wissen wir doch alle, dass Menschen im Osten und Süden unseres Landes sterben, jede Stunde, jeden Tag, selbst wenn wir ihre Schreie nicht hören.
Heute habe ich festgestellt, dass viele Menschen in der Ukraine nicht wissen, wie es ist, in einer friedlichen Zeit zu leben, weil sie zu jung waren, um sich daran zu erinnern oder weil sie nach 2014 geboren wurden. Alle, deren bewusstes oder erinnerungsfähiges Leben nach diesem Jahr begann, kennen nur die Kriegswelt. Mein Sohn ist einer von ihnen. Er kam im Mai 2013 zur Welt, nur sechs Monate vor den Maidan-Protesten, der Revolution der Würde und dem Krieg in der Ostukraine, der danach begann. Nur sechs Monate friedlichen Lebens.
Als Mutter kann ich nicht ganz verstehen, wie sich das auswirkt, aber ich weiß mit Sicherheit, dass wir nach Kriegsende eine ganze Generation von Kindern ohne richtige Kindheit haben werden.
Wie ich schon sagte, man kann sich an Luftschutzsirenen und an die Soldaten mit Waffen auf den Straßen gewöhnen, aber man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Du wirst keine zweite Chance haben, diese acht Jahre noch einmal zu leben, mein Kind. Russische Soldaten haben sich Zeit unseres Lebens genommen und uns stattdessen Traumata gegeben. Das Trauma, nachts das eigene Haus verlassen zu müssen. Das Trauma, unter der Besatzung zu überleben. Das Trauma, geliebte Menschen zu verlieren. Das Trauma, Zeuge abscheulicher Verbrechen zu sein.
15. August
Heute habe ich mit einer Freundin gesprochen. Inna ist schwerhörig, ihr Mann gehörlos. Vor Kriegsbeginn lebte sie mit ihrer Familie in Kiew. Sie sind gleich zu Anfang des Krieges geflohen. Zuerst aufs Dorf zu ihrer Mutter, die auch die Nachbarin meiner Tante ist. Unsere Kinder spielten zusammen, wenn ich meine Verwandten besuchte. Inna war sehr besorgt um eine ihrer Töchter, die ebenfalls gehörlos ist und nicht einmal die Fliegeralarmsirenen hören kann. Sie hatte solche Angst um ihre Familie, dass sie weiter nach Polen flüchtete. Als Gehörloser musste ihr Mann nicht in die Armee und durfte die Grenze überqueren.
Anfangs sei es schwierig gewesen, im Haus fremder Menschen zu leben, aber die polnische Familie war gastfreundlich und die Situation entspannte sich, nachdem ihre Mädchen in die Schule gehen konnten und ihr Mann einen Job fand. Sie selbst arbeitete von Polen aus als Lehrerin weiter.
Trotzdem gewöhnten sie sich an das Leben in Polen und planten, bis Kriegsende dort zu bleiben. Sie waren glücklich, nicht auseinandergerissen worden zu sein.
Nach vier Monaten rief ihr Chef an und sagte, dass sie nicht mehr online arbeiten könne; entweder sie komme nach Kiew zurück oder verliere ihre Stelle. Jetzt ist die Familie doch getrennt. Inna ist wieder in Kiew. Die Töchter sind bei ihrer Mutter auf dem Dorf, und ihr Mann lebt und arbeitet weiter in Polen.
28. August
Vor vier Tagen war unser Unabhängigkeitstag. Viele Stunden verbrachten wir im Luftschutzbunker. Niemand dort zweifelte daran, dass russische Soldaten keine weitere Gelegenheit verpassen würden, uns in Lebensgefahr zu bringen. Interessant war jedoch, dass sie die meiste Zeit nur versuchten, uns Angst zu machen. Von zweihundert Flügen der feindlichen Luftwaffe hätten nur zehn Prozent Raketen abgeworfen, sagen die Kriegsanalysten. Gehen Russland die Raketen aus? Oder soll umso heftiger zugeschlagen werden, wenn der Unabhängigkeitstag endet und weniger Menschen in die Notunterkünfte kommen?
Die martialischen Reden der russischen Machthaber waren im gleichen bedrohlichen Ton, den wir schon in den ersten Kriegstagen gehört hatten – etwa, dass sie Kiew in drei Tagen und die ganze Ukraine in zwei Wochen erobern würden. Nun, was soll ich sagen, ich bin dankbar für jede Gelegenheit, herzlich zu lachen. Sie können uns bedrohen und verletzen, aber sie werden uns nicht besiegen, denn jetzt hat sich unsere Gesellschaft verändert.
Nach mehr als 350 Jahren des Zusammenlebens in einem Staat mit Russen haben wir, die Ukrainer und Ukrainerinnen, die Lektion gelernt. Die lautet: Haltet euch von dem verrückten Nachbarn fern. Wir sind in jeder Hinsicht verschieden und wollen keine gemeinsame Zukunft. Das ist etwas, das uns alle eint.
12. September
Gestern haben sie das Wärmekraftwerk in Charkiw zerstört. Die russischen Soldaten fliehen aus der Region Charkiw, aber währenddessen fügen sie friedlichen Menschen noch Schaden zu, indem sie sie ohne Wasser, Strom, Gas und die U-Bahn zurücklassen.
Es wäre gelogen zu sagen, dass ich keine Angst vor dem Winter habe. Da andere Städte mit der Warm- und Kaltwasserversorgung zu kämpfen haben, versuche ich herauszufinden, was zu tun ist, wenn das Wärmekraftwerk auch in meiner Stadt zerstört wird, aber gerade finde ich darauf keine Antwort.
Was ich weiß: ich will nicht den Schnee von den Straßen sammeln, um ihn in einem Topf mit einer Kerze zu schmelzen, wie es eine Freundin in diesem Frühjahr in Sumy getan hat. Liliia hatte kein Wasser in ihrer Wohnung, als die Russen die Wärmekraft in ihrer Stadt zerstörten. Ihr blieb nur, Schnee und Regenwasser zu sammeln. Sie lebte im neunten Stock mit ihrem Mann, einer älteren und kranken Mutter, einer neunjährigen Tochter und einer Katze. Sie froren und hatten viele Tage lang keine Nahrungsversorgung. Sie konnten die Stadt nicht verlassen, da russische Truppen in der Nähe waren. Die Familie ist heute in Sicherheit im Ausland. Da ich weiß, wie sie lebten, kann ich nicht anders, als mich zu fragen, ob ich stark genug wäre, all das zu ertragen.
13. September
Wir hören jetzt gute Nachrichten von der Front. Wenn man so lange im Kriegszustand lebt, gewöhnt man sich an schlechte Nachrichten. Ich würde sagen, es ist sogar selbstverständlich, mit dem Schlimmsten zu rechnen, um auf alles vorbereitet zu sein. Also lebst du dein Leben, hilfst der Armee und hast im Hinterkopf nur Gedanken an das Ende des Krieges. Und plötzlich hörst du von der ukrainischen Gegenoffensive.
Am Anfang erwartest du, dass die guten Nachrichten nur ein paar Tage andauern werden. Aber dann merkst du, dass wir immer noch Gegenangriffe durchführen und immer mehr russische Soldaten in die Flucht geschlagen werden. Dann beginnst du, die Namen der Städte und Dörfer zu lesen, die jetzt befreit sind, und bist nahezu überwältigt von diesem schnellen Vormarsch. Ich möchte gleichzeitig lachen und weinen.
Jetzt, da so viele Augen auf uns gerichtet sind, bin ich noch stolzer, dass ich Ukrainerin bin. Wir kämpfen nicht nur um unser Überleben, sondern auch für unsere demokratischen Prinzipien und Überzeugungen. Deshalb bin ich allen Ländern dankbar, die unsere Partner im Kampf gegen ein autokratisches Land wie Russland geworden sind, wo die Menschenrechte und Freiheiten allesamt mit Füßen getreten werden.
Natürlich ist mir klar, dass die Gegenoffensive nicht lange andauern kann. Früher oder später werden unsere Soldaten, und auch meine beiden Cousins unter ihnen, zuvorderst die Orte bewachen müssen, die jetzt zurückgewonnen wurden. Trotzdem waren die letzten Tage für mich, meine Familie und meine Freunde die glücklichsten seit Kriegsbeginn. Sie gaben uns Glauben.
Aus dem Englischen von Waltraud Schwab
Die Texte geben die subjektive Sicht der Autor:innen auf die Ereignisse ungefiltert wieder.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Filmförderungsgesetz beschlossen
Der Film ist gesichert, die Vielfalt nicht