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Normalität, Fremde und das DazwischenDer Sturz ins Unbekannte

Beim Sinkflug auf ein fremdes Land treffen sich Fantasie und Realität, der Aufprall kann hart sein. Warum Reisen trotzdem überlebenswichtig ist.

Straßenszen in Banjul, Gambia: „Nach ein paar Tagen, einer Woche vielleicht, wird die Fremde zur Normalität“ Foto: Zohra Bensemra/reuters

D as Meer unter mir ist von einem schimmernden Türkisblau. Ich schaue aus dem Fenster des Fliegers, während wir über die Kapverdischen Inseln gleiten und staune über diese Farbe. Dass es sie gibt. Dass es diesen Ort wirklich gibt.

Es ist der Moment auf der Erde, der am nächsten an Raumfahrt kommt. Man sieht fremde Länder wie fremde Planeten unter sich. Neue Welten, die doch auf dieser Welt existieren; Paralleluniversen, bis wir uns treffen. Ja, ich weiß, Fliegen. Und doch: Was für ein Wunder. Was für Freundschaften, Wissen und Verständnis er eröffnet, dieser Sturz ins Unbekannte, der das Leben verändern kann.

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Wir nähern uns der Küste von Gambia, beginnen den Sinkflug hinab nach Banjul. Das ist der beste Augenblick. Ich sauge alles auf in diesem explosiven Moment, in dem Fantasie und Realität sich treffen. Palmenhaine, braunrote Staubstraßen, die Dächer großzügiger Häuser, üppige Gräser an der Landebahn, regengesättigt, ein Schwarm weißer Vögel. Es ist wunderschön. Das Land ist für mich noch unbeschrieben, frei von Liebe und Wut.

Nach der Landung schieben wir uns durch den Stadtverkehr der Vororte von Banjul. Die drückende Tropenluft ist voll von Gerüchen und Lärm. Frauen in leuchtenden Kleidern balancieren Waren auf dem Kopf, Händlerinnen am Straßenrand brüllen durcheinander, Kinder in zerschlissenen Klamotten spielen im Staub oder arbeiten. Kühe stromern an kaputten Häusern und Müllbergen vorbei, zerbeulte, überfüllte Minibusse schleppen sich vorwärts. Und irgendetwas kippt.

Auf den Thrill des Falls folgt verlässlich der Aufprall

Ich nehme nur Klischees wahr. Auf den Thrill des Falls folgt verlässlich der Aufprall. Ich bin nicht mehr berauscht, sondern ängstlich, überfordert. Erschrocken über die Armut, das Chaos, beschämt über meine Fremdheit und Ahnungslosigkeit. Alles ist mir zu voll, zu laut, zu bedrohlich. What the fuck mache ich hier?

Und dann? Wie schnell wir Menschen uns gewöhnen. Nach ein paar Tagen, einer Woche vielleicht, wird die Fremde zur Normalität. Reisen lehrt rasend schnell, anders als zu Hause ist man wie im Hyperfokus. Was mir bettelarm schien, entpuppt sich als gutbürgerlicher Vorort. Was mir eine einzelne Sprache schien, entpuppt sich als vielfältig und findet Namen und erste Worte: Wolof, Mandinka, Fula. Der kleine Laden, für den ich nicht mal einen Blick hatte, wird zum Lieblingslokal. Die fremden Gesichter werden zu Nach­ba­r:in­nen und manche zu Freund:innen, das Viertel zu unserem Viertel.

Nur nie ganz, ganz unseres ist es nicht. So geht die Geschichte vom intergalaktischen Sturz. Für alle bedeutet er Verschiedenes. Für mich ist er wie eine Sauerstoffinfusion. Ich kann wieder atmen.

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Alina Schwermer
freie Autorin
Jahrgang 1991, studierte Journalismus und Geschichte in Dortmund, Bochum und Sankt Petersburg. Schreibt für die taz seit 2015 vor allem über politische und gesellschaftliche Sportthemen und übers Reisen. Autorin mehrerer Bücher, zuletzt "Futopia - Ideen für eine bessere Fußballwelt" (2022), das auf der Shortlist zum Fußballbuch des Jahres stand.
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