Nordsee oder Ostsee?: Ans Meer!
Von Hamburg aus kann man gleich an zwei Hausmeere fahren. Eine Art Liebeserklärung an braunes Wasser, Schlick und tiefe Stille.
W er in Norddeutschland geboren und aufgewachsen ist und in Hamburg lebt, hat, so aus dem Süden der Republik betrachtet, sein Leben an der Küste verbracht. Und auf eine Weise stimmt das auch, binnen einer Stunde kann man, wenn es gut läuft, auf einem Deich an der Nordsee sitzen oder am Ostseestrand im Sand rumliegen. Aber um es gleich am Anfang mal klar zu sagen: Alle beide Meere sind B-Ware, Aushilfskandidaten, zweite Wahl.
Rätselhaft, wieso Menschen aus dem Süden Deutschlands Hunderte Kilometer hier hochfahren, wo sie doch auf der entgegengesetzten Seite dem Mittelmeer so nah sind – mit glitzerndem Wasser, mit Salz, das am Ende des Badetages jedes Härchen auf dem Unterarm umschließt, und mit lauschigen Sommerabenden, die erfüllt sind von zirpenden Grillen.
Eine große Pfütze, die streng riecht
Stattdessen fahren so viele Urlauber an die Nordsee, die nicht mal ein richtiges Meer ist, bloß ein Randmeer des Atlantiks. Ein Anhängsel. Eine große Pfütze, die oft etwas streng riecht und trüb an ihre rund Hunderte Kilometer lange deutsche Küstenlinie schwappt oder eben nicht schwappt, weil mal wieder gerade Ebbe ist. Wie oft schon den Deich hochgeflitzt, gleich, gleich endlich am Meer! Und dann: Schlick, Schlick bis zum Horizont. Bleibt nur, sich in einen der Nordseestrandkörbe zu setzen, die ordentlich aufgereiht auf dem mit Klee übersäten grünen Deich stehen.
Es gibt tatsächlich Strandkörbe für die Nordsee und für die Ostsee, sie unterscheiden sich in ihrer Bauform. Das Modell Ostsee soll mit seinen geschwungenen Seitenteilen und der abgerundeten Haube an Dünen und Wellen erinnern. Ist eben etwas gefälliger, die Ostsee, mehr weiße Strände, klares Wasser und bisweilen Felsküste. Beim Nordseemodell ist alles von der Haube bis zu den Seitenteilen gerade und kantig, passend zur Rasenkante am Wattrand.
Viele Urlauber fahren an die geschwungene Ostsee, an das Baltische Meer, wie sie international irreführend heißt. Die ist auch kein eigenständiges Meer, sondern nur ein Binnenmeer des Atlantiks. Von Hamburg aus ist die Ostsee nah, zum Timmendorfer Strand, so was wie Hamburgs Hausstrand, sind es keine 100 Kilometer. Lebt man hier oben, fährt man nämlich dauernd an eines der beiden Behelfsmeere. Alle Wege gen Norden, egal ob man sich links hält und an der Nordsee landet oder rechts zur Ostsee fährt, führen von Hamburg aus irgendwann an ein Meer. Das ist, was Hamburg so erträglich macht. Ist das Wasser nah, sind die Sorgen fern.
Nach der Arbeit mal eben ins Auto und nach Sankt Peter-Ording (SPO) fahren? Kein Problem, die Fahrt über die A23 durch Schleswig-Holstein dauert gute 1,5 Stunden – mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist es nicht mal eben so machbar, da dauert ein Weg drei oder vier Stunden.
Das Meer ist weg
Bis vor wenigen Jahren gab es in SPO Leute wie Frau Schebara, die für 20 Euro die Nacht ein Zimmer bei sich zu Hause vermieteten. Da konnte man gut auch übers Wochenende am Meer bleiben. Heute heißen viele Hotels irgendwas mit Urban (englisch ausgesprochen), und eine Übernachtung für unter 100 Euro die Nacht abzustauben ist schier unmöglich. Aber morgens hin und abends zurück und dazwischen einen lieben langen Tag am schier endlos breiten Sandstrand verbringen, das ist immer drin. Kann halt sein, dass das Meer weg ist. Wer in der Nordsee baden will, muss laufen oder warten können.
Im vergangenen Jahr war SPO der beliebteste deutsche Nordsee-Ort und lag bundesweit auf dem fünften Rang der deutschen Lieblingsurlaubsziele. Sieger dieser Top-50-Liste sind die Seebäder Binz und Göhren auf Rügen geworden, gefolgt vom Seebad Heringsdorf auf der Insel Usedom und dem Ostseebad Dierhagen.
Cuxhaven, das direkt an der Elbmündung an der Nordsee liegt, taucht in dieser Liste nicht auf, dabei liegt hier immerhin der nördlichste Punkt von Niedersachsen. Mit solchen Superlativen warten sie hier oben eh gern auf: Heide will den größten Marktplatz Deutschlands haben, wollen aber auch andere, und die offiziell „Tiefste Landstelle der Bundesrepublik Deutschland“ liegt mit 3,54 Metern unter Normalnull in der Wilstermarsch in Schleswig-Holstein.
30 Meter hohe Kugelbake
Der nördlichste Punkt Niedersachsens jedenfalls ist nicht zu übersehen, weil dort die knapp 30 Meter hohe Kugelbake steht, einst wichtiges Seezeichen und heute bloß noch Wahrzeichen. Heute werden in Cuxhaven jedes Jahr knapp 7 Millionen Übernachtungen und 8 Millionen Tagesgäste gezählt, es ist das größte Heilbad an der deutschen Nordseeküste, ein Kurort also.
In seiner allerersten Saison als Seebad, 1816 war das, kamen 295 Gäste ins damalige hamburgische Amt Ritzebüttel, um zu baden und durch das Watt zu laufen. Eher was für ein paar spinnerte Adelige und reiche Bürger. Wasser war vielen Leuten nicht geheuer, galt mit seinen Ausdünstungen gar als ungesund – nix da Reizklima oder Seeklima oder Kurort – und Natur als gefährlich. Baden in der wilden und freien Nordsee war absolut unbekanntes Terrain.
In England waren Ende des 18. Jahrhunderts die ersten Seebäder entstanden, und der Göttinger Physikprofessor Georg Christoph Lichtenberg schlug 1793 in einem Artikel vor, in Cuxhaven ebenfalls ein solches Bad zu gründen. Im selben Jahr ging in Heiligendamm an der Ostsee das erste deutsche Seebad in Betrieb – jenes Heiligendamm übrigens, in dem im Juni 2007 die G8-Staats- und -Regierungschefs in einem riesigen blau-weiß gestreiften Strandkorb fürs sogenannte Familienfoto Platz nahmen. Kanzlerin Angela Merkel in der Mitte, die Männer links und rechts von ihr.
Es folgten Seebäder auf den ostfriesischen Inseln, etwa Norderney. Es war dann der Hamburger Senator Amandus Augustus Abendroth, der Lichtenbergs Idee 1816 umsetzte, eine Aktiengesellschaft gründete und so Cuxhavens erstes Badehaus finanzierte.
Heute ist das Baden in der Nordsee so normal wie das Radfahren hinterm Deich und das allgegenwärtige vollgemoint werden an der gesamten deutschen Küste, egal ob Nord- oder Ostsee: Tassen, Regenschirme, T-Shirts und anderes Dies-und-das, auf denen Moin und/oder irgendwas mit Schietwetter steht. Moin hier, winkende Robben und Möwen da. Zum Auswachsen.
Ein Anleger namens „Alte Liebe“
Den Touristen gefällt das, in Cuxhaven hängen die den ganzen Tag oben auf dem Anleger namens „Alte Liebe“ – kommt von „ole Leef“, niederdeutsch für „alte Liebe“ – ab, der hier seit 1733 steht, stützen sich mit den Ellenbogen auf das weiße Holzgeländer und gucken zu, wie die Elbe aus Hamburg angeflossen kommt und sich in die Nordsee ergießt. Im Rucksack haben die bestimmt alle eine Moin-Tasse. Oder unterm Windbreaker ein Shirt mit winkender Möwe, die Moin ruft. Das hat das Mittelmeer alles nicht nötig.
Die Einheimischen in Cuxhaven sind allerdings eh immun, sie sitzen manchmal unter dem Anleger, kehren dem Meer den Rücken, trinken Dosenbier und gucken auf ihre Stadt. Vor allem Menschen aus dem Ruhrpott kommen nach Cuxhaven; den Hamburgern, die es mit etwa 120 Kilometern durchs Alte Land nicht besonders weit hätten, ist das Nordseeheilbad vielleicht zu zurückhaltend, sie fahren jedenfalls lieber auf die Nordseeinsel Sylt oder ins von ihnen selbst gentrifizierte SPO.
Der Reiz des Seebades Cuxhaven liegt im Schlick, der sich hier dunkel, saftig und samtig zwischen die Zehen schiebt und da kleben bleibt. Wird gräulich, wenn es trocknet. Hat man mal keine oder die falschen Klamotten dabei, kann man sich mit Schlick einfach welche aufmalen. Kniehohe Stiefel mit Wellenrand, eine Latzhose, ein Bikinioberteil? Kein Problem, alles schnell aufgeschlickt. Oder Anlauf nehmen, auf den Bauch werfen und schliddern, dann auf den Rücken rollen und dem weiten Himmel beim Weitsein zuschauen. Geht allerdings schwer wieder ab, das Zeug.
Das Problem mit schwer abgehendem Schlick gibt es überall an der Nordseeküste. Auch in Büsum, einer kleinen Gemeinde in Dithmarschen – oberhalb von Cuxhaven und unterhalb von SPO. Hier leben rund 5.000 Büsumer, aber gemessen an den Übernachtungszahlen ist Büsum nach Sankt Peter-Ording und Westerland der drittgrößte Fremdenverkehrsort an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste.
Schlick an den Waden
„Du hast da noch Schlamm“, sagt der Mann, der in norddeutschen Ohren wie ein Markus Söder oder so klingt, zu seiner Begleiterin. Der Dritte im Bunde steht nur da und guckt zu. Die drei sind gerade aus dem Büsumer Watt zurückgekehrt, bis zur Mitte ihrer Waden ist der Schlick hochgespritzt, der Saum ihrer hochgekrempelten Hosen ist auch ein bisschen eingesaut.
Hier in Büsum, wo das Watt fest, nicht so weich und glipschig wie in Cuxhaven ist, haben sie es geschafft, sich damit vollzusudeln. „Wo, wo denn?“, sagt sie und dreht sich vor dem Wasserhahn um die eigene Achse, beim Versuch, ihre Wade von hinten anzusehen. Das heißt nicht Schlamm, möchte man ihnen aus dem blau-weiß gestreiften Strandkorb Marke Nordsee zurufen.
Wären die Touristen statt in Büsum in Cuxhaven, würde ihnen der Schlamm-Fauxpas nicht passieren, da könnten sie das korrekte Vokabular an den Waschstellen hinterm Deich lernen. Da steht an den Fußbecken „Hier kein Geschirr spülen“ und an den Duschen „Schlickdusche“. An den Büsumer Hähnen und Duschen steht nichts. Woher sollen sie es also wissen.
In Büsum liegen auf dem Nordseegrund bei Ebbe in regelmäßigen Abständen Algenpuschel herum, deswegen mieft es, dazwischen überall die spaghettiartigen Ausscheidungen der Wattwürmer. Vielleicht bekommt ja auch jeder die Meere, die passend sind. Die beiden B-Seiten-Meere hier oben sind immerhin in erreichbarer Nähe.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Folgt man dem ablaufenden Wasser, lässt man alles hinter sich. Die Welt wird leise, nur das Platschen der Füße in den Nordseewasserpfützen ist noch zu hören, selbst die Möwen verstummen. Was bleibt ist eine stille Kulisse und das Gefühl, auf dem Meer zu schweben. Wer braucht da schon das Mittelmeer.
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