Nonkonforme Lebensmittel: Der Charme der dreibeinigen Möhre
Obst und Gemüse liegen genormt in den Supermärkten. Jetzt sollen auch ihre individuelleren Artgenossen eine Chance auf Verzehr bekommen.
MÜNCHEN taz | Die Natur bringt die wunderlichsten Formen an Früchten und Gemüse hervor – herzförmige Tomaten statt runde, krumme Gurken, mehrbeinige Karotten. Aus den Supermarkt-Kisten blitzen dem Kunden jedoch trotzdem bislang nur spiegelglatte Granny Smith, gerade Gurken und makellose Erdbeeren entgegen.
Doch es tut sich etwas: Die Supermarktkette Edeka hat derzeit für vier Wochen in ausgewählten Netto-Märkten Obst und Gemüse abseits der gängigen Normen unter dem Motto „Keiner ist perfekt“ ausliegen. In Österreich vermarktet seit Anfang Oktober die Konkurrenz Rewe mit seinen Märkten Billa, Merkur und ADEG nonkonformes Obst und Gemüse unter der Marke „Wunderlinge“.
Vorerst gibt es dort Äpfel, Karotten und Kartoffeln, die zwar mit Macken daherkommen, aber qualitativ einwandfrei sind und gut schmecken. „Bisher bleibt dieses Obst und Gemüse am Feld liegen, wird an Tiere verfüttert, in der Industrie verarbeitet oder teilweise tausende Kilometer weit weg transportiert und dort vermarktet“, erklärt Alfred Probst von Rewe International.
Günstige Alternative
Die Früchte werden in einem Extra-Regal und günstiger angeboten. Ein 2-Kilo-Sack Wunderling-Karotten kosten so viel wie 1 Kilo der Erste-Klasse-Ware, also die Hälfte. Gleichzeitig versichert man bei Rewe, dass diese Aktion keine wirtschaftlichen Hintergründe habe, die Wunderlinge seien vielmehr eine Herzensangelegenheit.
Nachprüfen lässt sich dies nicht, das Unternehmen möchte keine Zahlen dazu bekannt geben. Aber zumindest bekommt laut Rewe der Erzeuger mehr für die unförmigen Früchte, als wenn er diese an die Industrie zur Weiterverarbeitung verkaufen müsste.
Auch in der Schweiz bei Coop gibt es seit August Obst und Gemüse mit Schönheitsfehlern. Letztes Jahr versuchte sich die britische Supermarkt-Kette Sainsbury’s an einem ähnlichen Experiment. Der verheerende Sommer hatte einem Großteil der britischen Ernte zugesetzt. Das Sainsbury’s-Projekt war also gewissermaßen aus der Not geboren, um den heimischen Bauern zu helfen.
Wider die Wegwerfkultur
Zwar geht es auch bei Rewe und Edeka um die Unterstützung der Bauern: „Unsere Lieferanten können zusätzliche Ware anbieten, die sie bislang nicht an den Lebensmittelhandel verkaufen konnten“, so Propst. Zudem soll jedoch auch die Wertschätzung für die Qualität heimischer Lebensmittel geschärft sowie ein Gegenmodell zur Wegwerfkultur gesetzt werden.
Schätzungen zufolge landen nämlich rund 20 bis 40 Prozent der Ernte europaweit nicht im Handel. Und das hat nicht nur etwas mit der Vermarktungsnorm der EU zu tun. Denn die erlaubt seit Juli 2009 etwa für Karotten, Kohl oder Gurken diverse Makel. Doch eine Studie der EU-Kommission fand heraus, dass die Abschaffung der Vermarktungsnormen „gering bis kaum wahrnehmbar sei“. Die Bundesvereinigung der Erzeugerorganisationen Obst und Gemüse e.V. (BVEO) bestätigt die fehlende Nachfrage für Deutschland.
In Österreich ist der Verbraucher offensichtlich toleranter: Die Reaktion der Kunden nach den ersten Tests in Wien seien positiv, so hieß es. Sainsbury’s kann für Großbritannien sogar Zahlen vorlegen: 200 Millionen Äpfel und Birnen hat die Handelskette in der Saison 2012/2013 verkauft. Damit ist Sainsbury’s Marktführer in Sachen heimisches Obst, ein Drittel der Ware entsprach nicht den Normen. Daher hält man bis dato an der Idee fest.
Deutsche Erziehung
Warum das hierzulande nicht klappt? „Das liegt vermutlich an 20 Jahren Erziehung“, meint Raimund Esser von Rewe Deutschland. Das heißt: Die bis 2009 geltende strenge EU-Vermarktungsnorm hat beim Verbraucher gewisse Erwartungen geweckt und zementiert. Die Einteilung in Feldfrüchte der Handelsklassen suggeriert, dass die 1er-Ware besser ist.
Dabei haben Studien zumindest mit Spargel ergeben, dass die unförmigen Feldfrüchte oft sogar aromatischer und gesünder sind. Lässt man Spargel etwa auf besonders mineralreichem Boden anstatt im Sand sprießen, wächst dieser zwar schief, weist aber ein besserer Geschmacksprofil auf. Ist Spargel lila verfärbt, was als Makel gilt, liegt das an einem höheren Gehalt gesunder Anthozyane.
Und bei mehrbeinigen Karotten kann man davon ausgehen, dass keine Pestizide im Spiel waren. Schließlich töten Pestizide auch Fadenwürmer im Boden ab, die das Wurzelgemüse gern mal verzweigt wachsen lassen.
Bei Edeka setzt man nun auf ausführliche Kundeninformationen: „Weicht etwas von dem Gelernten ab! So muss man es erklären“, sagte ein Edeka-Sprecher in Hamburg. Rewe Deutschland wartet die Erfahrungen in Österreich ab, um dann zu entscheiden, ob man dies übertragen kann. Greenpeace begrüßt die laufenden Projekte als Zeichen gegen die Wegwerfkultur.
Streng genormt
Die zehn umsatzstärksten Obst- und Gemüsearten der EU, die 75 Prozent des Handelswertes ausmachen, sind jedoch weiterhin streng genormt, etwa Äpfel oder Tomaten. Auch diese Regelung gehört laut Landwirtschaftsministerium abgeschafft.
Doch auch der Handel profitiert von standardisierten Wuchsformen: Zehn gerade Gurken lassen sich platzsparender verpacken als zehn krumme. Möglicherweise ist ein derart optimierter Transport auch klimafreundlicher – Ökobilanzen dazu fehlen aber.
Zudem vereinfacht es für Erzeuger und Händler die Bestellungen, wenn feste Normen vorgeschrieben sind. „In der Auflösung der offiziellen Normen liegt die Gefahr, dass die unterschiedlichen Handelsketten eigenständige Kriterien entwickeln. Das führt zu weniger Planungssicherheit aufseiten der Erzeuger“, erklärt Astrid Falter, vom Deutschen Landfrauenverband.
Darum setzt ihr Verband mehr auf den Dialog mit dem Verbraucher: „Von ihm muss die Bereitschaft kommen, sich von den Normen zu lösen“, sagt Falter. Und hier setzt beispielsweise auch die Kampagne für „Ugly Fruits“ an, die Weimarer Studenten erdacht haben: Mit speziellen Läden und Werbeaktionen wollen sie ein Umdenken bei den Kunden erreichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los