Nonkonforme Lebensmittel: Das hässliche Beerlein
In Frankreichs Supermärkten gibt es auch „hässliches“ Obst und Gemüse. Die Idee kommt an – 10.000 Tonnen wurden im ersten Jahr verkauft.
„Gueules cassées“ (“kaputte Visagen“) nannte man in Frankreich die Kriegsversehrten, die mit einer bleibenden Gesichtsverletzung von der Front zurückkamen. Jetzt dient dieser Ausdruck als Verkaufsargument, um den „Missgebildeten“ auf dem Obst- und Gemüsemarkt eine faire Chance zu geben.
Nicolas Chabanne (45) erzählt, wie er eines Tages bei einem Aprikosenproduzenten schockiert zusehen musste, wie dieser ein Fünftel seiner Früchte wegwarf, bloß weil diese nicht den Normen seiner Zwischenhändler entsprachen.
Chabanne machte eine Entdeckung: „Nur weil sie zu klein oder zu groß sind oder eine ausgefallene Form haben, wurden diese Früchte bisher abgelehnt, das ist absurd und eine Riesenverschwendung.“ Was zähle, seien die Qualität und der Geschmack. „Zu Hause im Garten pflückt man, was reif ist, und nicht weil etwas 27 Millimeter Durchmesser hat.“
Mehr als eine Werbekampagne
In den letzten Jahren gab es auch in Deutschland, in Österreich und der Schweiz immer wieder Versuche, "hässliches“ Gemüse und sogenannte Misfits unter den geernteten Früchten auf den Tisch der Konsumenten zu bringen. Oft blieb es aber bei lokalen Initiativen oder punktuellen Aktionen.
Viel Medienecho hatte dagegen Anfang 2014 vor allem eine Werbekampagne der französischen Supermarktkette Intermarché. Das Unternehmen war kurz zuvor wegen Produkten umstrittener Fischereimethoden kritisiert worden, im Gegenzug organisierte es eine clever konzipierte Kampagne für die „Hässlichen“ in den Früchte- und Gemüseregalen.
Unter den Stars auf den Plakaten und in den Videospots: eine verwachsene „hässliche“ Aubergine, ein „hässlicher“ Apfel mit der Form siamesischer Zwillinge oder eine "hässliche“ Apfelsine mit einem Auswuchs. Die Marketingidee traf die Konsumenten am Nerv ihres schlechten Gewissens.
Chabanne hat etwas anderes im Sinn als einen kurzfristigen Imagegewinn. Er kommt aus der Gegend um Avignon, wo Erdbeeren, Aprikosen und andere Früchte angebaut werden. Er weiß, wie schwer es die Landwirte trotz guter Produkte haben. Diesen gab er mit der 2009 initiierten Vereinigung “Le Petit Producteur“ ein Qualitätslabel.
10.000 Tonnen in einem Jahr
Er hat an der Pariser Sorbonne eigentlich Literatur studiert. Doch seine eigentliche Berufung hat er im Marketing für Landwirtschaftsprodukte entdeckt. Zusammen mit einem Partner aus der Bretagne, Renan Even, hat er das Kollektiv „Gueules cassées“ und die gleichnamige Marke mit dem Apfel-Logo gegründet. Per Crowdfunding kam das nötige Startkapital rasch zusammen.
Die Konsumenten machen mit. Sie haben verstanden, dass die Form den Geschmack und ein kleiner ästhetischer Fehler den Nährwert nicht ändert. In weniger als einem Jahr sind 10.000 Tonnen französische Landwirtschaftsprodukte mit dem Logo „Gueules cassées“ verkauft worden. Das war aber erst der Anfang.
Die Kampagne für diese „Missgebildeten“ hat wenige Monate nach ihrem Start auch die die meisten Großverteiler wie Casino, Leclerc, Auchan, Casino und Franprix überzeugt. Darum wird nun auch das Sortiment auf andere Nahrungsmittel wie Camembert-Käse, Frühstücksgetreide und Miesmuscheln ausgedehnt.
Parallel dazu hat das Duo Chabanne/Even eine zweite Kampagne gegen die Wegwerfgesellschaft gestartet. Mit ihrem Logo sollen die Supermärkte verpackte Esswaren wie zum Beispiel Joghurt, die vor dem angegebenen Verfalldatum stehen, aber qualitativ einwandfrei sind, zum halben Preis anbieten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt