Nobelpreis für Literatur: Auszeichnung für Abdulrazak Gurnah
Den diesjährigen Literaturnobelpreis erhält der tansanische Schriftsteller Abdulrazak Gurnah. In seinen Werken setzt er sich mit Kolonialismus und Flucht auseinander.
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Abdulrazak Gurnah erhalte die Auszeichnung für seine kompromisslosen und mitfühlenden Werke über die Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals von Geflüchteten, erklärte das Nobelkomitee am Donnerstag. Auf Deutsch erschien von Gurnah das Buch „Das verlorene Paradies“ aus dem Jahr 1994, was seinen Durchbruch als Schriftsteller markierte. Laut Nobelpreisjury entstand das Buch aus einer Forschungsreise nach Ostafrika. Es ist eine traurige Liebesgeschichte, ein Coming-of-Age-Roman.
Gurnah wurde 1948 auf der Insel Sansibar geboren und kam Ende der 1960er Jahre als Geflüchteter nach Großbritannien. Dort lebt er auch heute noch. Sein Buch „Die Abtrünnigen“ aus dem Jahr 2006 wurde in der taz rezensiert. Gurnah publizierte zehn Romane und zahlreiche Kurzgeschichten. An der Universität in Kent war er Professor für englische und postkoloniale Literatur, inzwischen ist er im Ruhestand.
Über die Auszeichnung wurde der tansanische Schriftsteller am Telefon informiert und habe den Anruf zunächst für einen Scherz gehalten, sagte die Jury bei der Vergabe in Stockholm. Die Schwedische Akademie würdigte mit dem Preis Gurnahs „Abneigung gegen Vereinfachungen“. Seine Romane verzichteten „auf stereotype Beschreibungen und öffnen unseren Blick auf ein kulturell vielfältiges Ostafrika, das in anderen Teilen der Welt vielen unbekannt ist“.
Die Grünen-Politikerin und Islamwissenschaftlerin der Universität Duisburg-Essen Lamya Kaddor begrüßt die Entscheidung aus Stockholm: „Afrikanisch. Antikolonialistisch. Asylorientiert. Hätten wir Autoren wie Abdulrazak #Gurnah früher übersetzt und stärker wahrgenommen, wäre vielen vieles wohl früher klargeworden – auch hinsichtlich menschenverachtender #Pushbacks. Eine sehr gute Entscheidung“, schreibt Lamya Kaddor auf Twitter.
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Überraschung auch schon im vergangenen Jahr
Im vergangenen Jahr hatte auch ihren Namen wohl niemand auf dem Schirm. Mit Louise Glück ist der Jury bei der Vergabe des Literaturnobelpreises 2020 eine Überraschung gelungen. In den Zeitungsredaktionen liefen die Drähte heiß. Wer schreibt jetzt noch bis Printschluss einen guten Text zu der eher unbekannten Gewinnerin des wohl bekanntesten Literaturpreises? Glück für die Redaktionen, dass die US-amerikanische Lyrikerin wenigstens einen Namen hatte, mit dem sich allerlei Wortspiele machen ließen.
Das Rätselraten, wer in diesem Jahr von der schwedischen Akademie ausgezeichnet wird, lief bereits seit Tagen. Bei Verlagsmenschen, Buchmacher*innen und den Wettbüros fallen vorab jedes Jahr einige Namen von möglichen Favorit*innen. In diesem Jahr waren darunter vor allem Schriftstellerinnen, aber auch ein Schriftsteller. Der nun feststehende Preisträger Gurnah war nicht darunter.
Wer sind die Favorit*innen?
Genannt wurde stattdessen die kanadische Dichterin und Essayistin Anne Carson, 71 Jahre alt, aus Toronto. „Autobiography of Red: A Novel in Verse“ von 1998 und „Red Doc“ aus dem Jahr 2013 sind ihre bekanntesten Romane. Wie auch schon in den Jahren davor fiel auch häufiger der Name Margaret Atwood, 81 Jahre alt und ebenfalls aus Kanada. Ihr dystopischer Roman „The Handmaid’s Tale“, auf deutsch „Der Report der Magd“ aus dem Jahr 1985, ist berühmt und bekam durch die US-Serienübersetzung von 2017 neue Aufmerksamkeit.
Ebenfalls seit Jahren wird von Expert*innen der kenianische Schriftsteller und Kulturwissenschaftler Ngũgĩ Wa Thiong’o als Favorit auf den Nobelpreis genannt. Ngũgĩ ist 83 Jahre alt und verfasst alle seine Romane in seiner Erstsprache Kikuyu. Er gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller Ostafrikas. Außerdem im Gespräch für die Auszeichnung war die französische Schriftstellerin Annie Ernaux, 81 Jahre alt und besonders besonders für ihren Roman „Les Années“ aus dem Jahr 2008. In der deutschen Übersetzung erschien der autosoziobiografische Roman „Die Jahre“ 2017.
Dass der Preis an eine deutsche Autorin oder einen deutschen Autor geht, war in diesem Jahr unwahrscheinlich. Bereits zehn Mal wurden Autor*innen aus Deutschland mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Zuletzt bekam ihn im Jahr 2009 die deutsche Schriftstellerin Herta Müller, die 1953 in Rumänien geboren wurde.
Preis mit vielen Kontroversen
Die Vergabe des Literaturpreises ist seit einigen Jahren überschattet von Diskussionen und Kontroversen. Als der österreichische Schriftsteller und Übersetzer Peter Handke den Literaturnobelpreis im Jahr 2019 erhielt, gab es Proteste. Der Österreicher hatte sich im Jugoslawienkonflikt stark mit Serbien solidarisiert und nach Ansicht seiner Kritiker*innen serbische Kriegsverbrechen bagatellisiert. Auch seine Nobelpreis-Dankesrede wurde von vielen Seiten kritisiert, da sich der Autor nicht zu den Vorwürfen gegen seine Person äußerte.
Zuvor war im Jahr 2018 die Vergabe des Nobelpreises für Literatur ausgesetzt worden. Der Hintergrund waren schwere Vorwürfe gegen Jean-Claude Arnault, den Ehemann von Akademiemitglied Katarina Frosten, wegen sexualisierter Gewalt im Rahmen der #MeToo-Bewegung. Im November 2017 beschuldigten 18 Frauen aus dem Umfeld der Nobelpreisakademie Arnault sexueller Übergriffe. Ende 2018 wurde er dann wegen Vergewaltigung zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.
Besonders schwerwiegend für die schwedische Akademie war in diesem Zusammenhang auch, dass das Paar Arnault/Frosten beschuldigt wurde, Namen von Nobelpreisträger*innen im Vorfeld der Verleihungen ausgeplaudert zu haben. Das ist angesichts der Wetten, die jedes Jahr auf die Preisträger*innen abgeschlossen werden, ein lukratives Geschäft. Im Zuge der Aufklärung musste die Juryvorsitzende Sara Danius gehen. Zusammen mit Handke ehrte das Komitee nachträglich für das Jahr 2018 die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk mit dem Literaturnobelpreis.
Immer noch wenig weibliche Nobelpreisträgerinnen
Sie war damit die 15. Frau, die die renommierte Auszeichnung im Bereich Literatur entgegenahm. Die Preisträgerin aus dem vergangenen Jahr, Louise Glück, ist die 16. weibliche Nobelpreisgewinnerin.
Die Zahl der Frauen unter allen Nobelpreisträger*innen nimmt stetig zu, ist aber immer noch gering. Seit der ersten Vergabe im Jahr 1901 bis zum Jahr 2019 waren nur 54 von 923 Preisträger*innen Frauen, also etwas mehr als fünf Prozent. Besonders gering ist der Anteil von weiblichen Preisträgerinnen beim Wirtschaftsnobelpreis (2,4 Prozent), und auch in den naturwissenschaftlichen Kategorien liegt er bei nur 3,2 Prozent.
Mit 13 Prozent beim Anteil weiblicher Gewinnerinnen kann sich der Literaturnobelpreis also sehen lassen. Prozentual gewinnen am meisten Frauen beim Friedensnobelpreis – immerhin 15,9 Prozent.
Der erste Nobelpreis für Literatur wurde 1901 an den französischen Poeten Sully Prudhomme vergeben. Seitdem haben 117 Autor*innen ihn erhalten. Zwei Autoren lehnten die Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis bisher ab: 1958 musste der sowjetische Autor Boris Pasternak den Preis auf Druck seiner Regierung zurückweisen. 1964 weigerte sich der Franzose Jean-Paul Sartre, die Auszeichnung anzunehmen. Er wollte seine Unabhängigkeit bewahren.
Kritik an der Auswahl der bisherigen Preisträger*innen gibt es immer wieder, da der hochdotierte Preis – auch in diesem Jahr liegt das Preisgeld bei rund 950.000 Euro – bisher vornehmlich an Autor*innen aus dem nord- und mitteleuropäischen Sprachraum verliehen wurde. Bislang wurden nur wenige Schwarze Autor*innen mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
Änderung im Juryverfahren
In der Jury des Literaturnobelpreises gab es nach den Kontroversen zahlreiche Umbesetzungen, auch weil viele Mitglieder ihr Amt niederlegten. Die Akademie verkündete dann eine Änderung ihrer Arbeitsweise: Von den 18 Jurymitgliedern aus der Akademie bilden fünf das explizite „Nobelkomitee“, treffen die Auswahl aber „in engem Kontakt“ mit den anderen Mitgliedern.
Außerdem hat die Akademie eine Expert*innengruppe von zehn Personen eingerichtet, die vorerst für drei Jahre benannt werden und auf Wunsch auch anonym bleiben dürfen. Sie sollen den Sprachraum „für die afrikanischen Länder, den spanischsprachigen Raum, den arabischen und persischen Sprachraum, den ostasiatischen Sprachraum, den slawischen Sprachraum und den indischsprachigen Raum“ abdecken und im Januar „eine Argumentationsübersicht einsenden und Fragen des Komitees zu einzelnen Kandidaten beantworten“, so die Erläuterung in der Pressemitteilung der Akademie.
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