Niedriglöhne im digitalen Sektor: Das Bürgertum und seine Diener
Lieber outsourcen als selbst kochen und putzen. Neben der digitalisierten Welt entsteht eine neue Klasse unterbezahlter Helfer.
D ie großen Lieferplattformen mit ihren Essen-Bestell-Apps, mit ihren unter Dauerstress stehenden Fahrrad-„Ridern“ und der hart am Mindestlohn liegenden Bezahlung, haben den schlechten Ruf, den sie verdienen. Unlängst präsentierte die ZDF-„Heute Show“ die hässliche Fratze des Kapitalismus in ihrer zeitgemäßen Variante. Böse Business-Nerds gab es da zu sehen, die wie Galeerenkapitäne ihre Kuriere zu immer mehr Tempo antrieben. Die Branche hat es offenbar nicht nötig, ihrem schlechten Image entgegenzutreten.
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So verkündete die Deutschlandchefin des Marktführers Lieferando, Katharina Hauke, schon im letzten Dezember, die Pandemie habe ihre Firma „um ein Jahr nach vorne gebracht“. Dem Geschäftsmodell „Essenslieferung per App“ konnte kaum etwas Besseres passieren als der monatelange Stillstand von stationärem Handel und Gastronomie. Folgt man der Managerin, dann war Lieferando in der Krise sogar der Nothelfer der leidenden Gastro-Branche.
Gegen eine Provision von 13 bis 30 Prozent hätte man Pizzerien, Burgerbrater und Thai-Küchen fit gemacht für eine postpandemische Zukunft, in der sowieso nur überlebt, wer liefern kann. Die Anbieter digitaler Dienstleistungen sind oft Monopole, manchmal auch Duopole oder Oligopole. Die finanzstärkste Organisation mit dem teuersten Marketing und dem schnellsten Wachstum verdrängt rasch die schwächere Konkurrenz vom Markt. Das hat modellhaft der Aufstieg von Amazon gezeigt.
Neuerdings muss Lieferando in Deutschland Wettbewerb fürchten. Der Rivale Delivery Hero drängt auf den Markt (zunächst nach Berlin, andere Großstädte sollen folgen), soll hier aber, warum auch immer, Foodpanda heißen. Wolt ist schon da, Uber Eats wird bald folgen. Und das ist nur ein Sektor im rapide wachsenden plattformgetriebenen Liefergeschehen.
geboren 1955, studierte Germanistik und Geschichte. Seit 1988 Mitarbeiter des Goethe-Instituts, seit 2011 als Direktor in Warschau. Im Carl Hanser Verlag erschien: „Die Rückkehr der Diener. Das neue Bürgertum und sein Personal“ (2016).
Kinderbetreuung per App bestellen
Es gibt auch Phänomene wie Hello Fresh mit seinen Kochboxen, die vorbereitete Zutaten für ein bestimmtes Rezept liefern, oder Gourmetbox, die auf vorgekochte Sterneküche zum heimischen Aufwärmen setzen. Neue Lieferdienste, so etwa die aggressiven Gorillas, mischen mit lokalen Mikrodepots („Dmarts“) gerade den Lebensmittelhandel auf. „Gorillas existiert, um dir sofortigen Zugang zu deinen Bedürfnissen zu ermöglichen“, teilt Kağan Sümer, der „CEO of Gorillas“, in einem Firmenmanifest kategorisch mit.
Andere Plattformen haben sich auf die Onlinevermittlung von haushaltsbezogenen Dienstleistungen spezialisiert. Die vertrauenswürdige und sozialversicherte Reinigungskraft finden wir über Helpling („flexibel arbeiten, flexibel leben“). Die Kinder- oder auch die Haustierbetreuung kann man in die Hände von Yoopies legen. Betreuungs- und Begleitdienste für ältere Menschen bietet Careship an.
Was die Buchung solcher Dienste per App so verlockend macht, ist nicht nur der Komfort der Dienstleistung selbst, sondern schon der Komfort ihrer Anbahnung, das Reibungslose und angenehm Unpersönliche der Transaktion. All diese neuen Plattformgeschäfte verkaufen, so Joseph Vogl in „Kapital und Ressentiment“, „Autofahrten ohne den Besitz von Fahrzeugen, Unterkünfte ohne Immobilienbesitz, Raumpflege ohne Putzeimer, Mahlzeiten ohne Küchenmobiliar oder Flugreisen ohne Wartung und Betrieb von Flugapparaten“.
Was lehren uns diese neuen Geschäftszweige? In dieser digitalen Servicewelt werden nur einige wenige Gründer reich. Ihr Personal dagegen besteht überwiegend aus schlecht bezahlten und prekär beschäftigten Fußsoldaten. Manche fühlen sich deshalb an feudalistische Zeiten erinnert. Ein Feudalherr bot einst seinen Vasallen gegen militärische Treue ein Stück Land, das diese dann wiederum mithilfe unfreier Bauern ausbeuteten.
Es mag stimmen, dass Plattform-Oligarchen die Aristokraten von heute sind, aber die von ihnen „ausgebeuteten“ Leichtlohnbelegschaften sind weder Vasallen noch Knechte. Es handelt sich vielmehr um Servicekräfte, die ihrerseits gern konsumieren. Sie bringen einer teilweise besserverdienenden Kundschaft das Essen an die Tür. Sie können sich aber auch selbst eine Pizza von Lieferando leisten. Die Lieferdienste haben ein entspanntes Verhältnis zum Kunden und zur Kundin:
Schlemmen am Onlinebuffet
Niemand muss hier reich oder schön sein, man braucht nur ein Smartphone und die richtige Postleitzahl – und außerdem einen Hunger, der durch Selbsteinkaufen, Selbstkochen oder auch nur durch den Gang zum lokalen Falafelshop nicht zu stillen ist. Die neuen Plattformgeschäfte sind, wenn man so will, eine Dienstleistungsrevolution von oben, von digitalen Erfindern, die nichts entwickeln wollen als den Schlüssel zu unserem Konsum.
Wir Konsumenten sind eingeladen, nach Herzenslust am Onlinebuffet zu bestellen. Bei den Produzenten, in den Restaurants also, wird abkassiert, die Lieferanten selbst werden knappgehalten, und die Beute machen – nicht die Plattformen, sondern wahrscheinlich nur genau eine, während alle anderen Digital-Entrepreneure sich die nächste Geschäftsidee ausdenken müssen. Das Risiko der Plattformmacher ist also, anders als bei den Feudalherren vergangener Tage, groß.
Es handelt sich hier nicht um Territorialherren, sondern um Abenteurer, um Glücksritter. Auch Firmen, die wie Gorillas mit einer Marktbewertung von über einer Milliarde Dollar als „Einhorn“ gefeiert werden, leiden an oder kokettieren mit hohen Anfangsverlusten. Noch hat die digitale Lieferindustrie keine Gewinne erzielt. Aber das ist egal, so lange die Investoren glauben, dass die Zukunft rosig ist.
Wie kann es weitergehen mit den Lieferplattformen, angesichts einer Situation, in der sich der Widerwille bei Kunden, Produzenten und Beschäftigten mehrt? Zwei Szenarien zeichnen sich ab, die sich nicht gegenseitig ausschließen müssen. Gemäß der Logik des „Winner takes all“ wird es zu einem noch heftigeren Verdrängungswettbewerb kommen, an dessen Ende das Unternehmen mit den größten Kapitalreserven und der aggressivsten Marketingstrategie übrig bleibt.
In anderen Plattform-Sektoren steht der Sieger schon fest (etwa Uber oder Airbnb). Wer aber wird das Monopol für die Essensbestellung erobern? Vielleicht doch Amazon? Der Onlineversandhändler experimentiert in Indien bereits mit Essenslieferdiensten. Wäre gar ein Amazon Eat vorstellbar, einschließlich Amazon Cook, entweder mit eigenen Kochfarmen auf der grünen Wiese oder schön lokal mit eigenen Amazon-Restaurants? Es gibt ja auch schon Amazon-Buchhandlungen.
Aber selbst im Plattformkapitalismus wirkt das Prinzip des „Schuster, bleib bei deinen Leisten“ nach. Wer kochen und Essen verkaufen kann, kann deshalb noch lange nicht zustellen, und umgekehrt. Selbst Mc Donald’s verlässt sich bei seinem „McDelivery“ genannten Lieferservice auf Lieferando. Das andere, optimistischere Szenario für die Zukunft des Lieferwesens geht davon aus, dass genossenschaftliche und gemeinwohlorientierte Plattformen an Bedeutung gewinnen werden.
Es gibt sie bereits in Berlin und anderswo, und manchmal werden sie betrieben von Leuten, die ihr Handwerk bei den großen Lieferdiensten gelernt haben. Restaurants organisieren sich selbst zu Lieferverbünden, Fahrradkuriere starten auf eigene Rechnung neu, und Pop-up-Kollektive nehmen das Liefergeschäft in die eigenen Hände.
Alternative Anbieter anstelle von Oligopolen
Das sind zarte Pflänzlein im Vergleich zu der Marketingmacht etwa der Gorillas, die gegenwärtig deutsche Großstädte mit gewaltigen Plakataktionen und Slogans wie „Mutter, der Mann mit den Cokes ist da!“ zupflastern. Solche genossenschaftlich organisierten Initiativen kämen erstens ohne Zwangsprovision seitens der Restaurants aus, und sie müssten zweitens auch nicht am Kapitalmarkt Milliarden für den Markteintritt einsammeln.
Drittens wären sie nicht nur der Werbebotschaft nach lokal und nachhaltig, sondern würden ihre Maximen auch in die Tat umsetzen. Bleibt nur noch eine Frage: Warum lassen wir überhaupt liefern? Täte nicht noch jenseits aller alternativen Lieferkonzepte eine ganz grundsätzliche und vernichtende Kritik des heutigen „Lieferismus“ gut? Die Plattformgeschäfte leben prächtig davon, uns das eigene Einkaufen und Kochen als Aufwand darzustellen, den es hinter sich zu lassen gilt.
Niklas Östberg, der Gründer und Chef von Delivery Hero, erzählte schon vor zwei Jahren der FAZ, bald werde es „viel billiger, gesünder und leckerer“ sein, „sich Essen kommen zu lassen, als selbst zu kochen“. Kochen sei „dann nur noch ein Hobby.“ Woher weiß der Mann das? Und warum sollte man sich wünschen, dass es so kommt? Die Lebensmodelle, die Leute wie Niklas Östberg für die gültigen halten, sind tatsächlich wohl nur die ihrer eigenen Branche.
Wer den ganzen Tag im Co-Working-Space am nächsten großen Ding tüftelt, hat wohl tatsächlich für wenig anderes Zeit als für den Entspannungs-Triathlon und einen kleinen Mittagssalat von Lieferando. Solche Lebensmodelle finden viele Nachahmer – wer verzehrt noch in der Mittagspause (und überhaupt: in welcher Mittagspause?) sein von zu Hause mitgebrachtes Butterbrot? Wahrscheinlich wird das Lieferwesen nie mehr ganz verschwinden.
Unter dieser Prämisse ist es gut, wenn alternative Anbieter die Oligopole schwächen. Noch besser wäre es allerdings, wenn weniger bestellt würde. Wir, die Kunden, haben es in der Hand, bei wem wir bestellen. Und ob wir überhaupt bestellen.
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