Niederlandes Militär in Indonesien: Studie sieht „extreme Gewalt“
Polizei-Aktionen nannten die Niederlande den Militäreinsatz in ihrer ehemaligen Kolonie Indonesien nach 1945. Doch es gab brutale Gewalt und Massaker
Die Niederländer kämpfen mit allen Mitteln um ihre kolonialen Ansprüche. Dörfer werden in Brand gesteckt, Gefangene gefoltert, hingerichtet, in Massengräbern verscharrt, Frauen vergewaltigt, ermordet. Schätzungsweise 100.000 Indonesier werden von 1945 bis 1949 getötet, 5000 niederländische Soldaten kommen um.
Kein Zweifel: Das waren Kriegsverbrechen. Doch erst jetzt, mehr als 70 Jahre später liegt die erste umfassende Studie zur Gewalt während des Unabhängigkeitskampfes und der Dekolonisation Indonesiens vor. Die Forscher präsentierten am Donnerstag den Niederlanden die unbequeme Wahrheit. Für viele ist sie nur schwer erträglich.
„Die Untersuchung ergab, dass der größte Teil der Verantwortlichen auf niederländischer Seite – Politiker, Offiziere, Beamte, Richter und andere Beteiligte – vom systematischen Einsatz von extremer Gewalt wusste oder wissen konnte.“ Doch sie taten nichts. Sie duldeten die Gewalt. Täter wurden nicht oder nur selten verfolgt. Man war, so stellten die Forscher fest, auf „allen Ebenen bereit, die geschriebenen und ungeschriebenen Rechtsnormen und das eigene Rechtsgefühl“ beiseite zu schieben.
Jahrzehntelang war der Militäreinsatz verharmlost worden
Berichte über Gräueltaten sind nicht neu. Doch neu ist, dass es um systematische und oft auch bewusste Gewalt ging und dass die politische und militärische Führung davon wusste. Jahrzehntelang war der Militäreinsatz gegen die Freiheitskämpfer in Südostasien unter dem Namen „polizeiliche Aktionen“ verharmlost worden.
Bereits 1949 gab es Berichte über Kriegsverbrechen. Eine Untersuchung landete in der Schublade. Dann kam 20 Jahre später ein TV-Interview: Der Veteran Joop Hueting berichtete von Folter, brennenden Dörfern, Massakern. „Ich habe mitgemacht bei Kriegsverbrechen, und ich habe gesehen, wie sie begangen wurden“, gestand er. Die Regierung aber hielt daran fest: Es gab nur vereinzelte Übergriffe. „Im Allgemeinen hat sich die niederländische Armee korrekt verhalten.“
Seit einigen Jahren wird dieser Mythos demontiert. Prozesse von Angehörigen von Opfern und Medienberichte konfrontieren das Land mit der eigenen blutigen Geschichte. Schließlich war eine historische Studie 2016 Anlass für die Regierung von Ministerpräsident Mark Rutte, den Auftrag zu der großen Untersuchung zu erteilen. 115 Forscher untersuchten fünf Jahre lang Archive, lasen Augenzeugenberichte und werteten Dokumente aus.
Die Aufhebung des Tabus fällt schwer. Kennzeichnend dafür war im März 2020 die Entschuldigung von König Willem-Alexander für die Kriegsgewalt beim Staatsbesuch in Indonesien. Nur stockend und stotternd kamen die Worte „Bedauern und Entschuldigung“ über seine Lippen, als ob er sie einfach nicht sagen konnte.
Lange nahm die Regierung Rücksicht auf die Veteranen
Der Flame David van Reybrouck, Autor des vielfach gerühmten Buches über den indonesischen Freiheitskampf „Revolusi“, spricht von einem „extrem langen Schweigen“ und sieht das Selbstbild der Niederländer als Grund. „Im Geschichtsunterricht stellen sich die Niederlande als Land von Demokratie und Toleranz und Freiheit dar“, sagte er dem niederländischen TV-Magazin Nieuwsuur. „Wenn das die Werte sind, auf denen der Unterricht in niederländischer Geschichte beruht, dann wird es sehr schwierig, die dunklen Seite der Geschichte zu betrachten.“
Lange nahm die Regierung Rücksicht auf die rund 4000 noch lebenden Veteranen und die etwa zwei Millionen Niederländer mit Wurzeln in der damaligen Kolonie in Südostasien. Sie sehen sich als Opfer der Gewalt der Freiheitskämpfer. Denn auch sie machten sich extremer Gewalt schuldig. Und die Veteranen fürchten, dass man sie nun als Kriegsverbrecher an den Schandpfahl nagelt. Der Veteranenverband klagt, dass die Untersuchung die Soldaten „kollektiv auf die Anklagebank“ setze.
Doch das ist nicht die Absicht der Studie, betont der Historiker Gert Oostindie, einer der Leiter der Untersuchung. „Es geht nicht um kollektive Schuldzuweisung.“ Das unterstreicht auch Premier Rutte. Die Verantwortung liege bei denjenigen, die die Gewalt ermöglicht hätten, sagte er. Dazu gehöre auch die Regierung. Die Schlussfolgerungen seien „hart und unvermeidlich“. Aber: „Wir müssen uns der Wahrheit stellen.“
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