Niedergang der Piratenpartei: Abschied in die Bedeutungslosigkeit
Mit Marina Weisband haben die Piraten eines ihrer bekanntesten Mitglieder verloren. Doch zur Berlin-Wahl bekommen sie unerwartete Hilfe.
Als die Piratenpartei vor fünf Jahren ins Berliner Landesparlament einzog, war das eine Sensation. Da war plötzlich eine Partei, die anders war als die anderen. Die jung war und frech. Die ein Gefühl dafür hatte, wie das Internet die Gesellschaft ändert und die überzeugt davon war, dass es für diese Ära neue Konzepte braucht. Eine Partei, die den hohen Anspruch hatte, die Demokratie neu zu erfinden.
Jetzt ist Ernüchterung eingekehrt. Wie die gesamte Partei, die an diesem Samstag ihr zehnjähriges Bestehen feiert, hat sich auch die Berliner Fraktion komplett zerstritten. Die Hälfte ihrer Mitglieder ist aus der Piratenpartei ausgetreten, manche machen jetzt in anderen Parteien weiter. Auch die Bundespartei hat mit Marina Weisband eines ihrer letzten bekannten Gesichter verloren. Die ehemalige politische Geschäftsführerin der Piraten hat bereits vor einem Jahr heimlich der Partei den Rücken gekehrt. Das sagte sie jetzt der taz.
Dem neuen Landesparlament wird die Piratenpartei wahrscheinlich nicht angehören. In den jüngsten Umfragen steht sie so schlecht da, dass sie gar nicht ausgewiesen wird. Es spricht viel dafür, dass in Berlin, wo der Piratenboom begann, auch der Abschied in die politische Bedeutungslosigkeit eingeläutet wird. In Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und dem Saarland, wo auch Piraten in den Landesparlamenten sitzen, wird im kommenden Jahr gewählt.
„Das Label Piraten ist verbrannt“
Politisch mag Müller den Piraten keine großen Erfolge zuschreiben, aber die Piraten hätten der Landespolitik viele kuriose Momente beschert. „Ich glaube, es hat vorher nie einen Redner in kurzen Hosen am Pult des Abgeordnetenhauses gegeben“, sagte Müller.
Auch Ramona Pop, Fraktionsvorsitzende und Spitzenkandidatin der Grünen, verweist darauf, dass nun die AfD ins Parlament einzuziehen drohe: „Im Vergleich dazu werden wir alle die Positionen vermissen, die uns Grüne und Piraten verbunden haben.“ Sie denke da an ihren Einsatz für mehr Bürgerbeteiligung, mehr Digitalisierung und weniger Chaos in den Bürgerämtern.
Der Vorsitzende der Berliner Linkspartei Klaus Lederer lobt die Piraten für ihren „großen Verdienst, das Bewusstsein für die Anforderungen an eine freie, offene, digitalisierte Gesellschaft geschärft, in manchen Bereichen gar erst geschaffen“ zu haben. „Das wird bleiben“, sagt Lederer. Vermissen werde er die Piraten aber nicht. Denn viele seien ja zur Linken übergelaufen. „Das ist gut, denn ihre Kompetenz ist unverzichtbar“, sagt Lederer.
Marina Weisband begründet ihren heimlichen Parteiaustritt damit, sie der Partei nicht habe schaden wollen. Als Begründung für den Schritt führt sie im taz-Gespräch in Münster eine Entfremdung an: „Die Partei hat sich nicht zum Positiven verändert“, sagt die 28-Jährige. Zudem sei ihr politische Neutralität bei ihrem neuen Projekt wichtig.
Ein Comeback schließt Weisband nicht aus: „Vielleicht gehe ich eines Tages wieder in die Politik.“ Sie müsste sich dafür aber eine neue Partei suchen. Denn: „Das Label Piraten ist verbrannt“, sagt sie. Nachdem der progressive Flügel aus der Partei vertrieben worden sei, seien dort nur noch viele konservative Menschen, „die das Internet in den Grenzen von 1990 wollen“.
Mitbestimmung für Schüler
Weisband will jetzt in dem von der Bundeszentrale für politische Bildung geförderten „Aula“-Projekt Online-Beteiligung in die Schulen bringen. An vier Orten wird derzeit erprobt, wie Schüler sich mit einer eigens entwickelten Software mitbestimmen können. Weisband will so nebenbei den Beweis antreten, dass verbindliche Online-Beteiligung funktioniert. Die Piraten sprachen zwar viel von „Liquid Democracy“, haben diese Mischung aus direkter und repräsentativer Demokratie aber nie richtig eingeführt.
Sie bereue ihre Zeit bei den Piraten nicht, sagt Weisband. Dürfte sie in Berlin wählen, würde sie auch noch einmal bei der Piratenpartei ihr Kreuz machen. Denn der Berliner Landesverband sei anders als die Bundespartei. „Ich wünsche den Piraten, dass sie nochmal reinkommen“, sagt Weisband. „Gestaltender Populismus ist wichtig.“
Sie wurden belächelt und als Revoluzzer gefeiert. Fünf Jahre nach dem Einzug ins erste Parlament droht der Piratenpartei nun die Bedeutungslosigkeit. Was bleibt von den Piraten? Die Reportage „Die letzte Utopie“ von Sebastian Erb und Martin Kaul lesen Sie in der taz.am wochenende vom 10./11. September.
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