Das Erbe der Piratenpartei: Die letzte Utopie

Fünf Jahre nach dem Erfolg droht den Piraten der Niedergang. Eine Erkundung unter verbitterten Profis und geduldigen Freaks.

Luftballon der Piratenpartei

Sie waren jung und wollten die Demokratie neu erfinden – was davon ist gelungen? Foto: dpa

Martin Delius hat fast alles weggepackt. Im Raum 542, seinem Abgeordnetenbüro, hängen nur noch leere Hängemappen im Registerschrank. Zehn leere Aktenordner stehen auf einer Schrankkommode aus braunem Furnier; ihren Inhalt hat er zur Archivierung freigegeben oder im blauen Gittercontainer im Flur entsorgt.

Es ist ein windiger Tag im August 2016, das Berliner Abgeordnetenhaus ist noch in der Sommerpause, nun ist noch Aufräumen angesagt. „Abwicklung“, sagt Delius und zündet sich eine neue Zigarette an. Er spricht über die Piratenfraktion wie über ein Unternehmen, 27 Mitarbeiter, 1,2 Millionen Euro Jahresbudget.

Aus der Piratenpartei ist Martin Delius, @martindelius, 32 Jahre alt, bereits Ende 2015 ausgetreten, er hat ein Foto seines zerschnittenen Mitgliedsausweises getwittert. Dazu die Nachricht: „Ich habe keine Lust mehr, mich für das Gebaren von #piraten zu rechtfertigen.“

Am 18. September sind Wahlen in Berlin. Delius, der sein Physikstudium für die Politik abgebrochen hat, wird noch fünf Monate Übergangsgeld beziehen und dann mal schauen. „Vielleicht werde ich Gärtner“, sagt er.

Nur fünf der 15 Piratenabgeordneten treten noch einmal an. Dass sie gewählt werden, ist unwahrscheinlich. In Umfragen stehen sie so schlecht, dass sie gar nicht mehr ausgewiesen werden. Es spricht vieles dafür, dass Berlin, wo der Boom der Partei vor fünf Jahren begann, auch deren Abschied aus den Parlamenten einläutet. In drei weiteren Ländern, in denen Piraten im Landtag sitzen, in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und dem Saarland, sind im kommenden Jahr Wahlen.

Der Profi gibt auf, der Freak kämpft weiter

Alexander Spies, @sozialpirat, 60 Jahre alt, von Beruf Softwareentwickler, steht vor Karstadt in Berlin-Tempelhof, er trägt eine Windjacke und wie immer Schiebermütze. Als er und die anderen Piraten ihren Wahlstand aufgebaut haben, ausgeklappt aus einem Lastenfahrrad, haben sie erst mal Ärger bekommen. Jemand hat die Polizei gerufen, es fehle die Genehmigung. Dabei haben sie dieses Mal doch alles beantragt. Die Polizisten ließen sich überzeugen.

Spies geht ein paar Schritte auf einen jungen Radfahrer zu, streckt ihm eine Wahlkampfzeitung hin. Der lehnt ab. „Aber Sie haben nicht so schlechte Chancen bei mir.“ Das ist ein Moment, der ihm Hoffnung macht.

Was haben die Piraten verändert?

Politisch bleibt nicht viel, allerdings haben die Piraten digitale Themen im Abgeordnetenhaus selbst vorangebracht.

An welchen Piraten-Moment werden Sie sich erinnern?

Mit vielen Abgeordneten hat es freundliche Gespräche gegeben und immer mal wieder kuriose Situationen: Ich glaube, es hat vorher nie einen Redner in kurzen Hosen am Pult des Abgeordnetenhauses gegeben.

Werden Sie sie vermissen?

Es wäre mir lieber, weiterhin eine Handvoll Piraten im Abgeordnetenhaus zu haben als eine Fraktion von Rechtspopulisten, deren Programm es ist, Menschen gegeneinander auszuspielen.

„Die Kür in der Demokratie ist die Wiederwahl“, sagt Spies. Im Jahr 2009 ist er den Piraten beigetreten, er hat lange gezögert und sich erst mal auf einem Bundesparteitag vergewissert, dass die anderen vernünftige Leute sind. Seit Sommer 2013 ist er Fraktionsvorsitzender der Berliner Piraten, länger schon als sein Co-Chef Martin Delius, der im Abgeordnetenbüro die Aktenordner wegwirft. Aber im Gegensatz zu Delius kennt ihn kaum einer. In einer Umfrage kam heraus, dass er der unbeliebteste Berliner Spitzenpolitiker ist.

Spies und Delius, die beiden Chefs der Berliner Piratenfraktion, sind 2011 zusammen als Abgeordnete gestartet. Einer von ihnen ist in den vergangenen Jahren zum Politprofi geworden, hat sich Ansehen erarbeitet – und erkannt, dass die Piraten keine Zukunft haben. Einer ist immer noch unsicher in seiner Rolle, aber sicher, dass es die Piraten weiter braucht.

Lässt man die AfD außen vor, ist die Piratenpartei die erfolgreichste Parteineugründung seit den Grünen. Ihre Geschichte ist die Geschichte eines radikalen Selbstversuchs, einer sozialen Utopie – und einer Generation, die letztlich an ihren eigenen Ansprüchen scheitert.

Die Frage ist: Was bleibt von den Piraten?

Irgendwo am Anfang der Piratenidee steht die Erfahrung, dass vieles, was man sich wünscht, nur einen Klick weit entfernt ist. Statt in Plattenläden zu gehen, gewöhnen sich Jugendliche daran, Musik herunterzuladen. Eine der Fundgruben, die das möglich macht, heißt Pirate Bay. Piratenbucht.

Aber dann bekommen plötzlich viele Eltern Post, ihre Kinder hätten Urheberrechte verletzt. Die Forderungen: Tausende Euro. Ist das zeitgemäß?

In diesen Jahren passiert noch etwas: Es wird über Vorratsdatenspeicherung diskutiert. Sämtliche Verbindungsdaten aller Kunden sollen gespeichert werden. Die, die mit dem Internet aufgewachsen sind, realisieren, welche Kontrollmöglichkeiten dem Staat daraus erwachsen würden. In der C-Base Berlin, einem Hackertreffpunkt, gründet sich die Piratenpartei. Das war vor genau zehn Jahren, am 10. September 2006.

Aus der Generation Nerd wird eine Bewegung

Zu dieser Zeit verbringt ein unscheinbarer Physikstudent namens Martin Delius, Sohn eines Bürgermeisters, in der TU Berlin viel Zeit in Gremiensitzungen: Studierendenparlament, Strukturkommission, Fakultätsrat. Es geht um den Anschub von Forschungsprojekten zu Rastertunnelmikroskopiemessungen und immer auch ein bisschen darum, die Universität an die Jetztzeit anzupassen. In Universitätsprotokollen stehen Sätze wie: „Da alle Fakultätsratsmitglieder per e-mail zu erreichen sind, wird angeregt, die Einladungen zu den Sitzungen (…) per e-mail zu verschicken.“

Während hier noch fast niemand die Partei kennt, erzielen die Piraten bei der Europawahl 2009 in Schweden 7,2 Prozent. Ein Coup. Auch in Deutschland entfaltet das Projekt einen Sog: Innerhalb weniger Monate wächst die Partei von 1.000 auf über 10.000 Mitglieder an. Ursula von der Leyen, #zensursula, mobilisiert ungewollt mit, als sie mit dem Argument des Kinderschutzes Netzsperren plant.

Aus der Generation der Nerds, lang belächelt, wird eine Bewegung. Im Jahr 2009 schreibt der inzwischen verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher ein Loblied auf den Nerd. Darin stellt er auch die Piraten vor, erklärt den Typus des technischen Avantgardisten. „Sie haben unsere Welt programmiert“, schreibt Schirrmacher.

Was haben die Piraten verändert?

Im Landtag gibt’s nun Club Mate und die Verwaltung hat die IT-Sicherheit erhöht, nachdem in der Piraten-Fraktion eine Software zum Passwort-Ausspähen gefunden wurde.

An welchen Piraten-Moment werden Sie sich erinnern?

An ziemliche gute Spiele mit den Kollegen Torsten Sommer und Dirk Schatz beim FC Landtag. Ansonsten leider nur das Erwirken namentlicher Abstimmungen, wo sie überhaupt keinen Sinn machten, schlechtes Benehmen und schlüpfrige Tweets über gerissene Kondome.

Werden Sie sie vermissen?

Nein. Denn die Kollegen können auch als ehemalige Abgeordnete Mitglieder des FC Landtag bleiben.

Blogs haben an Bedeutung gewonnen, Twitter und Facebook werden Mainstream. Vermeintlich rein technische Neuerungen werfen gesellschaftliche Fragen auf. Letztlich übertragen die Piraten die Idee der Allmende, also des gemeinschaftlichen Eigentums, auf die Welt des Internets. Es geht um das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe für alle – auf allen Ebenen.

Die Piraten lehnen ein strenges Urheberrecht ab, sie wollen einen kostenlosen Nahverkehr und ein bedingungsloses Grundeinkommen. Nur auf dieser Basis, das ist der Gedanke, könne eine freie Welt entstehen, in der die Menschen abgesichert leben und sich entfalten können. Es ist ein radikaler Humanismus, gekoppelt an die Sprache der Programmierer.

„Wir sind nicht rechts und nicht links. Wir sind vorn“, sagen die Piraten. Alexander Spies und Martin Delius hängen Plakate auf, auf denen steht: „Trau keinem Plakat!“ Das Piraten-Orange wird eine Farbe des Aufbruchs.

Es ist einer der wenigen Momente seit der Wiedervereinigung, in denen eine progressive Gesellschaftsidee das Zeug hat, Wirklichkeit zu werden.

Für die Debatten, die Piraten in Blogs und auf Twitter führen, interessieren sich ab dem 18. September 2011 plötzlich viele. Die Piraten werden an diesem Tag mit 8,9 Prozent in das Berliner Abgeordnetenhaus gewählt, alle 15 Kandidaten sind nun Parlamentarier, 14 Männer, eine Frau. Viele sind jung, einer trägt einen Blaumann und ein Palästinensertuch auf dem Kopf.

Die plötzliche Aufmerksamkeit überfordert viele

Martin Delius sucht im Abgeordnetenhaus das Büro des Präsidenten, es geht um die Frage, welche Räume die Piraten beziehen werden. Delius ist jetzt Parlamentarischer Geschäftsführer einer Fraktion. Er kann das selbst kaum fassen. „Nun wollen die Piraten ganz Deutschland erobern“, schreibt der Spiegel.

Eine Frau wird zum Gesicht der Partei: Marina Weisband. Sie spricht vor der Bundespressekonferenz, in Talkshows. Sie erklärt, dass von den Piraten nichts Schlimmes zu erwarten sei, sondern etwas, was das Land besser mache. Bald hat die Partei mehr als 30.000 Mitglieder, bei der Sonntagsfrage liegt sie bei 13 Prozent.

Doch die plötzliche Aufmerksamkeit überfordert viele Piraten. Weil sie nicht in Hinterzimmern diskutieren, sondern in 140-Zeichen-Nachrichten, ist jeder Streit öffentlich, wird zum „Gate“, so nennen sie Skandale und Skandälchen. Servergate, Anzuggate, Bombergate.

Denn ganz so visionär wie Frank Schirrmacher es gerne hätte, sind nicht alle in der Partei: Während Piraten im Norden, vor allem in Berlin, beginnen, einen Gesellschaftsentwurf zu entwickeln, wollen Piratenmitglieder vor allem in Süddeutschland eine Netzpartei bleiben.

Was haben die Piraten verändert?

Sie haben, und das ist durchaus ihr großes Verdienst, das Bewusstsein für die Anforderungen an eine freie, offene, digitalisierte Gesellschaft geschärft, in manchen Bereichen gar erst geschaffen. Das wird bleiben. Und zweitens sich selbst.

An welche Piraten-Momente werden Sie sich erinnern?

Da gab es eine Veranstaltung zu „Open-Source-Demokratie“, die war von hoher Kompetenz bei gleichzeitig völlig entspannter Atmosphäre geprägt.

Werden Sie sie vermissen?

Eigentlich nicht – aus einem Grund: Viele der ehemaligen Piraten engagieren sich jetzt bei uns. Das ist gut, denn ihre Kompetenz ist unverzichtbar.

Im Streit über das Grundsatzprogramm führt der Umstand, dass alle bei allem mitreden können, dazu, dass ein löchriger Flickenteppich entsteht. Aus einem Projekt des Aufbruchs wird eine Geschichte des Zanks, einschließlich Mobbing, Sexismus und dubioser Mitglieder mit rechten Weltbildern.

Theoretisch könnten die Piraten schnell zu allen möglichen Themen eine Position entwickeln. Denn sie haben sich neue Methoden ausgedacht, wie man mithilfe des Internets Entscheidungen treffen kann. Diese Methoden sollen die ganze Gesellschaft verändern. Statt alle paar Jahre zu wählen, sollen Bürger in Echtzeit Sachentscheidungen treffen oder delegieren können. Liquid Democracy.

Marina Weisband, die Hoffnung der Partei, bleibt nicht einmal ein Jahr im Amt. Anfang 2012 ist sie ausgebrannt, will ihre Psychologie-Diplomarbeit fertig schreiben. Und sie kann den Vollzeitjob auch nicht mehr leisten. Die Partei ist nicht bereit, ihr Gehalt zu zahlen.

Sobald ein Parteivertreter einigermaßen bekannt ist, ist er schon wieder weg. Es ist die Kehrseite der Forderung nach Schwarmintelligenz und Themen statt Köpfen.

Im Oktober 2012 sitzt Marina Weisbands Nachfolger Johannes Ponader bei Günther Jauch. Er kommt in Strickjacke und Sandalen, tippt demonstrativ auf seinem Smartphone herum. Es ist die Pose eines Gegenwartshippies, der sich darin gefällt, als echter Revoluzzer anzutreten. Allerdings: Die meisten finden es bescheuert.

Im Herbst 2012 ist der gesamte Bundesvorstand nicht mehr arbeitsfähig, weil Ponader und der damalige Parteichef nicht mehr miteinander reden. Aber in Bochum steigt noch mal eine große Piratenparty.

Was ist vom Hype geblieben?

Ruhrcongress-Halle, November 2012. Viele junge Männer, manche mit Augenklappen; ein paar Frauen mit neonfarbenen Haaren; rosa Plüschponys. Mehr als 2.000 Mitglieder sind zum Parteitag gekommen, ein Rekord. Das Antragsbuch füllt fast 1.500 Seiten. Es gibt gegensätzliche Anträge, die gleichzeitig angenommen werden, und eine Debatte über die „intensive Erforschung von Zeitreisen“.

Knapp vier Jahre später, Ende August 2016, eine Mehrzweckhalle am Rande von Wolfenbüttel. Der 18. Bundesparteitag der Piraten beginnt mit einer Ansage: „Wir haben ein Problem mit dem Netzwerk.“ Ein Mann mit Pferdeschwanz spricht auf der Bühne. Bitte nicht unnötig YouTube-Videos schauen: „Sonst sind wir morgen offline.“

Es ist wenig geblieben von den Bildern des Hypes. 300 Mitglieder sind dieses Mal da. Die Organisatoren haben wieder ein Bällebad aufgestellt, aber es bleibt die meiste Zeit leer.

Alexander Spies ist mit einem Fraktionskollegen mit dem Elektroauto nach Wolfenbüttel gefahren. Unterwegs wären sie fast liegen geblieben, weil das mit dem Batterieaufladen nicht so klappte wie gedacht.

Was haben die Piraten verändert?

Sie können sich vor allem auf die Fahne schreiben, dass mittlerweile die Benutzung von Laptops im Plenarsaal gestattet ist. Viel deutlicher war aber die Veränderung bei den Piraten selbst, denn sie konnten in Sachen Transparenz ihre vorherigen Wissenslücken füllen: Die parlamentarische Arbeit war schon vor ihrer Zeit so transparent, dass sie keine Veränderung herbeiführen konnten.

An welchen Piraten-Moment werden Sie sich erinnern?

An den Moment, als der Abgeordnete Uli König erklären musste, warum seine Meldeadresse die Landtagsadresse war.

Werden Sie sie vermissen?

Ich werde den Verlust verkraften können.

Spies hat sich an einen Tisch in der fünften Reihe gesetzt, den Laptop aufgeklappt. Er ist konzentriert, hebt die Abstimmungskarte. Zeit für ein Gespräch? Später, jetzt komme schließlich die Vorstandswahl. Spies ist es wichtig, wie es mit seiner Partei weitergeht.

Im Jahr 2012 berichteten dutzende Journalisten vom Piraten-Parteitag, heute sind vier da.

Es fällt leicht, die Piraten hier als eine Partei im Niedergang zu beschreiben. Die Generalsekretärin spricht vom Mitgliederschwund. Der scheidende Bundesvorsitzende sagt in seiner Begrüßungsrede: Die Partei ist de facto pleite. Warum braucht es die Piraten noch?, fragt er.

In Wolfenbüttel findet ein Parteitag der Hartnäckigen statt. Der Übriggebliebenen. Für viele ist es eine gute Nachricht, dass andere nun kaum noch in der Partei mitarbeiten: Die, denen Feminismus besonders wichtig war; die, die immer weiter das bedingungslose Grundeinkommen debattieren wollen; die Karrieregeilen; die Trolle.

Im Prinzip sind alle weg. Zwei ehemalige Bundesvorsitzende machen Politik bei der FDP, der Berliner Polterpirat Christopher Lauer sieht sich in der SPD. Die Piratenpartei ist gleichförmiger geworden, normaler – und dadurch auch weniger interessant.

Die Themen der Piraten werden Mainstream

Aber wo es weniger Reibung gibt, funktioniert auch alles reibungsloser. Beim Parteitag in Wolfenbüttel gibt es keine Zwischenrufe, keinen Streit über die Tagesordnung, keine Wortmeldung zur Arbeit des Vorstands.

Alexander Spies ist ganz froh, dass alles nun ruhiger läuft. Auch in der Fraktion war ihm zu viel Durcheinander.

Als die sich komplett zerstritten hatte, nach Vorwürfen von Vetternwirtschaft und Streit über die Nutzung eines Getränkeautomaten, wird er 2013 in die Fraktionsspitze gewählt. Um die Wogen zu glätten. Er ist ein fleißiger Fachpolitiker, Soziales, Behindertenpolitik, Europa; zwischendurch hält er den Rekord, was parlamentarische Anfragen angeht. Aber mit seiner Rolle als Fraktionsvorsitzender hadert Spies, in das Spiel mit den Medien findet er nie richtig hinein. Er will Anträge schreiben, Dokumente durchackern. Konkrete Politik machen.

Denn während sich die Bundespartei schon zerlegt hat, fangen die Piraten in den Landesparlamenten gerade mit der eigentlichen Arbeit an.

Die Abgeordneten in Berlin, Kiel, Saarbrücken und Düsseldorf wissen nicht unbedingt, wie das geht mit der Politik. Aber sie hinterfragen mit einem teils naiven Blick die Prozesse. Konstruktive Opposition, das liegt ihnen. Allen Skandalen zum Trotz.

In Berlin sollen auf Schulrechnern Programme installiert werden, um nach Kopien urheberrechtlich geschützter Werke zu suchen. Die Piraten verlangen vom Senat in 26 Fragen Auskunft. Sie überzeugen die Große Koalition, eine Gewaltschutzambulanz einzurichten und eine Strategie zu verabschieden, wie Forschungsergebnisse zugänglicher werden. Ihrer Forderung nach einem günstigeren Sozialticket stimmt zwar keine Fraktion zu – aber sie landet schließlich im Wahlprogramm der Linken und der SPD.

Ein Abgeordneter profiliert sich ganz besonders: Martin Delius. Im Skandal um den Berliner Großflughafen BER wird ein Untersuchungsausschuss eingerichtet. Delius übernimmt den Vorsitz. Kann man souverän sein, aber auch piratig? Delius ruft Flugroutengegner und Bürgerinitiativen auf, sich einzubringen. Als er vorschlägt, die Sitzordnung im Untersuchungsausschuss frei zu gestalten, erntet er Widerstand. Also hält er die Spielregeln ein und gilt bald als verlässlich. Am Ende hat der Ausschuss 70 Zeugen befragt, mehr als 1.600 Akten ausgewertet. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit ist inzwischen zurückgetreten.

In Nordrhein-Westfalen bringen Piraten ihre Kollegen von den anderen Parteien dazu, auch die Zuschauer im Livestream zu begrüßen. Weil Debatten interessanter werden müssen. Der Fraktionsvorsitzende hält als Erster im Plenarsaal in Düsseldorf eine Rede ohne Jackett. Die Piraten klagen gegen die Sperrklausel bei Kommunalwahlen.

In Schleswig-Holstein setzen die Piraten ein Transparenzgesetz durch, nach dem alle Vorstandsgehälter von öffentlichen Unternehmen veröffentlicht werden. Sie bringen den Robenzwang für Rechtsanwälte zu Fall, dämmen die Videoüberwachung in Zügen ein, bringen Leichte Sprache in die Publikationen des Landtags.

Die Erfolge sind klein. Aber dazu kommt eine andere Wirkung. Der größte Einfluss kleiner Parteien, analysieren Politikwissenschaftler, liegt darin, dass sie große Parteien dazu bringen, neue Themen in ihre Agenda aufzunehmen.

Geile Inhalte, aber kein Mut, sie zu etablieren

SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte einmal, dass die Piraten „eine neue, andere Kultur verkörpern“, und empfahl anderen Parteien, zu reagieren. Das Thema Netzpolitik wird nun ernst genommen, die Fachpolitiker in diesem Bereich machen Karriere. Auch Kommunen lassen sich anstecken, in Niedersachsen startet das Projekt „Liquid Friesland“, die Bürger sollen online Anträge einbringen, bearbeiten. Das Ergebnis landet als Eingabe im Kreistag.

„Unser Ziel ist, uns selbst überflüssig zu machen. Wenn die anderen unsere Ideen stehlen, könnten wir uns guten Gewissens auflösen“, sagt Marina Weisband im Januar 2012.

Haben die Piraten sich selbst überflüssig gemacht, Frau Weisband?

Marina Weisband, @Afelia, 28 Jahre alt, sitzt im Prütt Café in Münster. Sie hat nun Distanz zu dem, was in Berlin passiert und in Wolfenbüttel. Vor Kurzem, erzählt sie, habe sie zum ersten Mal seit Jahren das Wort Piraten gehört und an Seeräuber gedacht. Bereits vor einem Jahr ist sie ausgetreten, ohne es groß zu erzählen, weil sie den Piraten nicht schaden wollte.

Nein, die Piraten hätten sich noch nicht selbst überflüssig gemacht, sagt sie. Die Ideen der Piraten seien noch nicht wirklich in den anderen Parteien angekommen.

Und dann sagt sie, das mit der Idee der Selbstabschaffung, das sei eine „teilkluge Sache“ gewesen: „Es war naiv zu glauben, dass das Thema reicht, die Frage ist, was man damit macht.“ Die anderen Parteien durchdringen die Digitalisierung nicht, man sehe das beim Leistungsschutzrecht und der Netzneutralität. „Für uns ist es viel zu früh, abzudanken.“ Sie sagt immer noch „uns“. Und: „Wir“.

„Wir hatten ein System, das besser war, aber keinen Mut, es zu etablieren.“ Für sie ist das die herbste Enttäuschung: dass ihre Partei die Onlineabstimmung nicht verbindlich einführte. Also misslang der Beweis, dass es klappen kann. So sind auch Projekte wie „Liquid Friesland“ eingeschlafen und von den Onlinetools anderer Parteien ist nichts mehr zu sehen.

Das Label Piraten hält Weisband für verbrannt. Es hielt den Projektionen all derer nicht stand, die den frischen Wind gut fanden, die es denen da oben zeigen wollten, die auf Parteitage fuhren, ohne zu wissen, wer die Piraten sind. So sieht sie es. Aber von vielem ist sie nach wie vor überzeugt. „Es war gut, dass wir populistisch waren“, sagt sie. „Es braucht progressiven Populismus!“ Populismus ohne Fremdenfeindlichkeit. Populismus mit Alternativen.

Auf der Website von Martin Delius ist inzwischen ein Logo der Linkspartei zu sehen. Gerade erst war er für eine Woche in Portugal, um an einem Marxisten-Treffen teilzunehmen.

Er habe viel gelernt, sagt Martin Delius. Das Problem sei gewesen, dass keine Professionalisierung stattfand. „Geile Inhalte reichen nicht, wenn man nicht handlungsfähig ist.“

Im Januar 2016 hat er mit dem Chef der Berliner Linken ein Papier vorgestellt, in dem es heißt: „Eine Erkenntnis des Jahres 2015 ist – die Piratenpartei ist tot.“ Zusammen mit 34 weiteren enttäuschten Piraten unterstützt er nun die Linke. Am Donnerstag vergangener Woche hat Delius den finalen Schritt gemacht und ist in die Partei eingetreten.

Im Prütt Café spricht eine Frau Marina Weisband an: „Schade, dass Sie nicht mehr in der Politik sind. Verständlich, aber schade.“

Weisband lächelt verlegen. Das hört sie öfter. Sie will ein Comeback ja gar nicht ausschließen.

Aber jetzt hat sie erst mal ein neues Projekt: „Aula“, Liquid Democracy für Schulen, gerade läuft die Pilotphase. Nebenbei will sie beweisen, dass verbindliche Onlinebeteiligung funktioniert. Was bei den Piraten nicht klappte, soll nun im Kleinen ausprobiert werden. Als Vorbereitung auf das nächste Große.

Was bleibt von den Piraten? Im Prinzip alles, sagt Marina Weisband: Die Personen sind noch da. Die Fragen sind noch da. Die Antworten sind noch da.

Auch die Farbe Orange ist noch da. Aber die nutzt jetzt nur noch die CDU.

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