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Bundestagswahl: Viele Menschen sind davon ausgeschlossen Foto: Ekaterina Dukhanina/getty images

Nicht­wäh­le­r*in­nenOhne Stimme

Rund 12 Millionen Erwachsene und rund 14 Millionen Kinder und Jugendliche, die hier leben, dürfen nicht wählen. Mit einigen hat die taz gesprochen.

Nurefsan Öztürk will Klimaschutz

M eine Familie hatte in der Türkei Probleme aus politischen Gründen. Mein Vater hat dort als Polizist mit hohem Rang gearbeitet, auf kommunaler Ebene konnte er einiges entscheiden. Aber er wollte nicht mit der Regierung zusammenarbeiten. Denn die will Entscheidungen nur zu ihrem eigenen Vorteil erzwingen, nicht für das Volk oder den Staat.

Obwohl mein Vater unschuldig ist, kam er für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis. So ist es in der Türkei, wenn man nicht wie die Regierung denkt. So vielen Familien geht es ähnlich wie uns. Unter den vielen unschuldig Inhaftierten, sind auch Frauen, Kinder, Babys und sogar schwerkranke Menschen.

Vor drei Jahren sind wir nach Deutschland gekommen, da war ich 25. Am Ende haben wir uns wegen meiner Mutter dafür entschieden. Sie wollte nicht noch einmal erleben, was meinem Vater passiert ist. Ich habe nach meiner Ankunft erstmal Deutsch gelernt und dann ein neues Studium angefangen. In der Türkei hatte ich Physiotherapie und Rehabilitation studiert. Hier in Freiburg habe ich im vergangenen Herbst ein duales Studium in Wirtschaftsinformatik begonnen.

Mein Ausbildungsbetrieb ist ein Energieunternehmen. Bis 2035 wollen wir klimaneutral sein. Ich finde es gut, dass wir uns zum Ziel gesetzt haben, von fossilen Energiequellen wegzukommen. Ich will die Energie- und Wärmewende mitgestalten. Nur wenn die Transformation im Energiesektor gelingt, kann der Klimawandel begrenzt werden. Zugleich sind wir als Unternehmen sehr stark von den Entscheidungen der Bundesregierung abhängig. Wenn es eine umweltfreundliche Regierung gibt, bedeutet das, dass die Energieunternehmen bei der Transformation unterstützt werden. Wählen kann ich in Deutschland nicht. Aber ich hoffe, dass die neue Bundsregierung etwas für den Klimaschutz tut, nachhaltige Lösungen vorantreibt.

Wichtig ist mir auch, dass jeder Mensch gleiche Rechte hat und ein gutes Leben führen kann, unabhängig davon, wie viel er verdient oder welchen Status hat. Die Bundesregierung muss sich auch darum kümmern. Chancengleichheit im Bildungsbereich und die Bekämpfung von Diskriminierung voranzutreiben. Protokoll: Franziska Schindler

Diana Werner ist staatenlos

Ich bin 29 Jahre alt, und seit 29 Jahren kann ich gar nichts tun als abwarten. Ich habe ein deutsches Dokument, ein Passersatzpapier. Darin steht, dass ich Russin bin – aber ich habe gar keine russische Staatsbürgerschaft. Ich hänge total in der Luft, ich darf nirgends wählen oder sonst wie teilhaben, weder in Deutschland, wo ich geboren bin, noch in Russland.

Meine Eltern sind russische Staatsbürger, haben mich nach meiner Geburt aber nicht beim Konsulat registriert. Mit zweieinhalb Jahren bin ich in eine Pflegefamilie gekommen, das Sorgerecht ging damals ans Jugendamt. Das konnte mich auch nicht beim Konsulat registrieren, das können laut russischem Recht nur die Eltern. Also haben sie damals den Ersatzausweis für Ausländer für mich beantragt, in den einfach eingetragen wurde, ich sei Russin. Bis ich 18 wurde, hat das funktioniert, und es hat auch niemanden interessiert.

Mit der Volljährigkeit haben aber die Probleme angefangen. Sechs Jahre lang war ich ganz ohne Ausweis, weil ich für die Verlängerung meiner Dokumente meinen „Heimatpass“ vorlegen sollte. Aber ich habe ja gar keinen und bekomme ihn auch nicht. Meine Mutter ist inzwischen Deutsche und hat die russische Staatsangehörigkeit abgegeben, mein Vater ist tot. Eingebürgert werden kann ich hier aber auch nicht, auch dafür soll ich meine russische Staatsangehörigkeit nachweisen, die ich nicht habe.

Ich bin staatenlos, aber werde vom Staat und den Behörden nicht als staatenlos anerkannt. Für Fälle wie meinen gibt es keine geschriebenen Regelungen, keine Richtlinien und keine Hilfestellung. Für mich entstehen dadurch riesige Probleme im Alltag. Ich habe eine eigene Sicherheitsfirma, darf aber aufgrund der Sanktionen und weil ich als Russin gelte nicht an öffentlichen Ausschreibungen teilnehmen. Ich darf nicht wählen, weder den Bundestag noch den Bürgermeister, obwohl die Politik hier mich und meine Arbeit ganz konkret betrifft. Ich kann wegen der fehlenden Dokumente nicht heiraten. Ich bin ausgeschlossen.

Seit kurzem engagiere ich mich bei Statefree, einer Organisation, die die Interessen Staatenloser vertritt. In Deutschland sind 126.000 Menschen von Staatenlosigkeit betroffen. Als ich dort gelandet bin, war ich wirklich verzweifelt. Ich war bei zig Anwälten, überall, keiner konnte mir helfen. Statefree unterstützt mich jetzt dabei, meinen Einbürgerungsantrag zu stellen. Und dann sehen wir, was passiert.

Bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts wurde es versäumt, an der Situation unserer Community etwas zu verbessern. Neulich waren wir im Bundestag zu einem parlamentarischen Frühstück, wo wir unsere Interessen vortragen konnten. Es ist alles sehr mühsam. Aber es tat gut, dass wir gehört worden sind – wenn wir schon sonst keine Stimme haben. Protokoll: Dinah Riese

Schü­le­r*in­nen aus Eichwalde haben Maßnahmenkatalog für die Bundesregierung aufgestellt

Vor der Bundestagswahl machen wir uns wie viele Jugendliche Gedanken um die Zukunft. Wir sind eine Gruppe von Schü­le­r*in­nen aus Eichwalde in Brandenburg und treffen uns jede Woche Dienstags als AG „Schule ohne Rassismus“. In diesem Rahmen beschäftigen wir uns mit gesellschaftlichen Themen wie Sexismus, der derzeitigen Debattenkultur, vor allem aber damit, wie wir die Demokratie stärken und Hass und Hetze verhindern können.

Wir sind 15 Schüler:innen, gehen in die achte bis zwölfte Klasse und haben gemeinsam überlegt, was wir uns von der nächsten Bundesregierung wünschen. Wir haben zwar teilweise unterschiedliche politische Positionen, aber miteinander in Dialog zu treten ist uns wichtig. Auf folgenden Maßnahmenkatalog konnten wir uns einigen:

1) Kommunikation zwischen Personen unterschiedlicher Meinungen ist mittlerweile immer öfter von Vorurteilen, Hass und Schubladendenken geprägt. Wir wünschen uns, dass Kommunikation zukünftig wieder auf Augenhöhe stattfindet. Wir wollen, dass Menschen einander zuhören, ohne eine Abwehrhaltung einzunehmen. Um das gesellschaftliche Zusammenleben zu stärken, muss man Demokratiebildung in der Schule und an anderen Ausbildungsorten priorisieren.

2) Insbesondere Deutschland hat in Europa und der Weltgemeinschaft die große Verantwortung, eine wertebasierte Außenpolitik auf Grundlage des Völkerrechts, der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der Lehren der jahrhundertelangen Kriegsphasen zu führen. Diese allgemeingültigen Leitmotive müssen konsequent vertreten werden, um nicht den Eindruck zu erwecken, abhängig von Konfliktort oder –partei mit unterschiedlichen Maßstäben zu arbeiten. Internationale Institutionen waren eine Antwort auf die blutigen Kriege der Kolonialmächte und sollten mit ihren globalen und universellen Werten anerkannt werden.

3) Angesichts des rapide erfolgenden Klimawandels ist eine globale Strategie für Umweltschutz und Migration, die für unsere Wirtschaft und Gesellschaft unverzichtbar ist, notwendig. Mit der Förderung erneuerbarer Energien, der Einhaltung von Klimazielen und dem Schutz der Biodiversität hat Deutschland klare politische Ziele formuliert. Diese Selbstverpflichtungen muss die neue Bundesregierung erfüllen, denn besonders unsere Generation ist von den Folgen des Klimawandels betroffen.

4) Für eine freie, inklusive Gesellschaft ist es selbstverständlich, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Die Gleichstellung und der Schutz der Rechte marginalisierter Gruppen ist jedoch hart erkämpft worden und immer noch nicht abgeschlossen. Derzeit von Parteien vorgeschlagene Maßnahmen, wie die Abschaffung des Gesetzes über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag gefährden bisherige Erfolge und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine feministische Politik hingegen schließt alle Menschen in ihre Überlegungen ein und kommt ihnen zu Gute. Wir brauchen auch mehr soziale Gerechtigkeit.

5) Wir wünschen uns von der neuen Bundesregierung, dass sie die Perspektive junger Menschen in ihre Entscheidungen einbezieht: Wir brauchen Partizipationsmöglichkeiten, eine Politik auf Augenhöhe und einen zukunftsorientierten intergenerationellen Dialog.

Deniss Hanovs wird am 25. Februar Deutscher

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Wenn am 25. Februar früh am Morgen alles mit dem Nahverkehr funktioniert, dann werde ich an dem Tag ohne Verspätung deutscher Bürger. Das Einbürgerungsverfahren war beinahe mühelos. Ich war sogar sehr überrascht, als die Einladung zur Einbürgerung gekommen ist, ein halbes Jahr, nachdem ich den Knopf „Antrag einreichen“ gedrückt habe, die Einladung zur Einbürgerung gekommen war.

Bald werde ich Mitglied der deutschen politischen Community sein, der deutschen Nation und dadurch auch der deutschen Politik. Aber als russischsprachiger Lette werde ich diese Politik auch aus einem dritten Raum, einem kulturell gemischten Erfahrungsraum meiner mehreren Identitäten beobachten – als schwuler Mann russisch-ukrainischer Herkunft, der die deutsche Kultur und Musik seit Jahren akademisch untersucht und im Alltag Deutsch als zweite Muttersprache wahrnimmt.

Ich wollte deutscher Bürger werden, weil Deutsch und deutsche Kultur seit meiner Jugend in meiner Heimat Lettland ein wichtiger Teil meiner Geschichte ist. Aber auch, weil meine erste Heimat es seit Anfang der 90er Jahre nicht geschafft hat oder nicht schaffen wollte, die politische Kultur der Inklusion zu entwickeln. Weil es nicht gelang oder nicht gelingen sollte, die 1990 errungene Demokratie supraethnisch zu gestalten, kulturelle Anerkennung und gleichberechtigte Teilhabe für alle ethnisch-sprachlichen Gruppen zu gewährleisten. Stattdessen betreibt die politische Elite die Rhetorik einer ethnisch und historisch geprägten Hierarchiekultur. Kyrillische Buchstaben werden im öffentlichen Raum stigmatisiert, das einzige russischsprachige Thea­ter der Hauptstadt Riga vor den Kommunalwahlen intensiv medial angriffen. Die lettischen Intellektuellen schweigen – alle.

Meine neue Heimat, Deutschland, war bereits seit meiner Dissertation 2003 meine intellektuelle, literarische und akademische Heimat geworden. Jetzt auch meine politische Heimat, denn meine erste Heimat schafft es, mich, den eingebürgerten Letten russischer Herkunft, Professor und Journalisten immer noch diskursiv als Fremdling in dem eigenen Land zu gestalten und in den nationalistischen Diskursen auszugrenzen, nur als Erbe der Okkupation zu betrachten und auszuklammern, wenn ich zu kritisch werde.

Alle diese Emotionen und Erfahrungen habe ich in Deutschland nicht gemacht. Trotzdem habe ich Angst um die deutsche Demokratie, wenn ich im Deutschlandfunk tagelang die sich rasch radikalisierende politische Debattenkultur beobachte. Umdenken des politischen Wortschatzes, wenn der politische Konsens nach 1945 global zusammengebrochen ist, fehlt. Umweltschutz, obwohl akut notwendig, zerbricht an der inneren Logik jeder radikalen gesellschaftlichen Wende.

In dieser Situation einer Politik der gemütlichen Trägheit, wo jahrzehntelang Rot und Schwarz in der Koalition einfach durch Proportion der Wahlzettel ihre Dominanz unberührt erhalten konnten, wurde eine gefährliche alternative Frucht reif. Dieser Verführungsapfel ist als Hybrid aus Ängsten, Wut, Müdigkeit und Kurzsichtigkeit entstanden. Deren Saft ist Gift, deren Fruchtfleisch ist Zerstörung der demokratischen Kultur in Deutschland und geopolitisch gesehen europaweit.

Und dann komme ich als neuer Bürger und bringe meine Ängste und eingebaute postso­wje­tische politische Warnsysteme mit. Aber auch ein tolles Gefühl, eine noch lebendige und lebensfähige Demokratie kritisieren zu dürfen. Eine luxuriöse Gewohnheit heute, in viele Ländern … Europas. Deniss Hanovs

Toni hält nichts von Bildungsföderalismus

Ich bin siebzehn Jahre alt und gehe in die elfte Klasse des Gymnasiums in Neustrelitz. In der Schule haben wir uns mit Gefahren für die Demokratie auseinandergesetzt – Klimakrise, Lobbyismus, Politikverdrossenheit, und viele andere. Ich habe ein Referat über Linksextremismus gehalten. Ich interessiere mich sehr für Politik, habe Sozialkunde als Leistungskurs gewählt und bin auch stellvertretender Schulsprecher.

Früher war ich für die FDP, aber inzwischen würde ich lieber einer konservativeren Partei meine Stimme geben. Konservativer geworden bin ich zum Beispiel in Bezug auf den Ukraine-Krieg. Am Anfang des Krieges haben wir mit unserer Schule ein riesiges Friedenszeichen geformt. Damals war ich zur Ukraineunterstützung noch positiver eingestellt. Mittlerweile finde ich die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern und anderen Waffen falsch.

Für uns Jugendliche hier sind Themen wichtig, bei denen uns keine Partei so richtig vertritt. Vor Kurzem wurde in Neustrelitz ein Jugendclub weggekürzt, in dem ich mit meiner Clique viel Zeit verbracht habe. Außerdem beschäftigt uns der öffentliche Personennahverkehr – eine Katastrophe. Um zum Beispiel nach Greifswald mit dem Zug zu kommen, braucht man manchmal drei Stunden. Für 100 Kilometer! Nach Rostock fährt momentan gar kein Zug. Die einzige Verbindung, die einigermaßen funktioniert, ist die nach Berlin. Für die Auszubildenden, die immer zwischen Schule und Ausbildungsbetrieb hin und her fahren müssen, ist das ziemlich anstrengend.

Nach der Schule will ich zur Bundeswehr. Ich möchte die Erfahrung einfach mal gemacht haben, und meinem Land dienen. Die Wehrpflicht oder ein verpflichtendes soziales Jahr als Alternative finde ich gut, damit alle was für die Gesellschaft tun. Das könnte die neue Bundesregierung einführen. Ich darf zwar noch nicht wählen, aber von der neuen Bundesregierung würde ich mir auch wünschen, dass sie die Migrationspolitik stark überarbeitet, sodass Geflüchtete eher ins Wirtschaftssystem einwandern anstatt ins Sozialsystem. Außerdem gehört das förderale System in der Bildung abgeschafft. Und, wichtiger Punkt: Dass Po­li­ti­ke­r*in­nen wieder mehr miteinander anstatt übereinander sprechen und auch bereit sind, Kompromisse einzugehen.

Bei der U18-Wahl an unserer Schule ist die Linke mit über 30 Prozent der Zweitstimmen stärkste Kraft geworden, danach kam die AfD mit 20 Prozent. Ich habe darüber nachgedacht, AfD zu wählen, aber ich finde die zu krass. Höcke zum Beispiel, der NS-Sprache benutzt. Bei uns in der Schule sind die Meinungen sehr divers, da gibt es auch viele, die die AfD befürworten.

Für mich ist es wichtig, miteinander zu sprechen. Egal welche politischen Ansichten einen trennen. Demokratie beginnt meiner Meinung nach, wenn man gemeinsam Lösungen findet, anstatt sich abzuschotten. Ich persönlich finde auch, dass Freundschaft über Politik steht. Auch ich mit meiner etwas konservativeren Meinung habe Freunde, die eher links unterwegs sind. Für mich ist das kein Problem, solang man sich auf Augenhöhe begegnen kann. Protokoll: Franziska Schindler

Auf Emine Yildiz' Enkelkinder ist Verlass

Ich kam 1972 das erste Mal nach Deutschland. Mein Mann kam bereits ein Jahr früher als ich, als Gastarbeiter. So wie viele andere wollten wir nur kurz bleiben, arbeiten, Geld sparen und dann zurück nach Istanbul. Doch daraus wurde nichts, wir blieben. Zwei meiner Kinder sind in Deutschland geboren, einer von ihnen hat den deutschen Pass. Darauf waren wir sehr stolz – der Erste aus der Familie, der Deutscher wurde. Wir machten uns auch ein wenig lustig über ihn und nannten ihn „Hans“. Und natürlich bewunderten wir diesen roten Pass mit dem goldenen Adler darauf.

Ich habe die türkische Staatsangehörigkeit, darf in der Türkei wählen, aber das ist doch blöd. Dort lebe ich seit über 50 Jahren nicht mehr! Und warum darf ich nicht in dem Land wählen, in dem ich lebe? Das ist doch nicht demokratisch, oder?

Ich erinnere mich an Willy Brandt, den damaligen Bundeskanzler. Er hielt eine Rede auf unserem Marktplatz und setzte sich für uns ein, für die Integration der Migranten. Er sorgte für den Ausbau von Bildungs- und Sprachprogrammen für Gastarbeiter. Das war wichtig, denn er stellte sicher, dass wir langfristig Teil der deutschen Gesellschaft werden konnten. Und das sind wir ja auch geworden. Wir sind der Beweis. Aber die SPD hat ihren Geist verloren. Sie ist nicht mehr das, was sie einmal war.

Manchmal denke ich: „Ja, Emine, vielleicht kommt ja irgendwann das Wahlrecht für alle.“ Dann lache ich. Es gibt leider nur noch Anfeindungen. Vielleicht sollten wir aber wieder mehr daran arbeiten, die Migranten zu integrieren, anstatt sie in irgendwelchen Heimen abzuschotten und mit dem Finger auf sie zu zeigen. Kein Wunder, dass die Leute verrückt werden.

Diese Migrationsdebatte geht die ganze Zeit. Was ist mit all den anderen wichtigen Themen? Gesundheit zum Beispiel? Oder Bildung? Die jungen Menschen wissen vielleicht nicht einmal, was der Holocaust war oder wie viele Menschen dabei ums Leben kamen. Das ist schlimm. Ich würde so gerne auch mit meiner Stimme ein Teil der Gesellschaft sein. Aber so bleibt mir nur die Meinungsfreiheit – besser als nichts, sage ich immer. Die Frage ist nur: Wie lange noch? Ich habe zum ersten Mal in den 53 Jahren, die ich hier bin, Angst. Angst vor dem Faschismus in Europa und davor, was uns noch bevorstehen könnte.

Wenn ich am Sonntag wählen könnte, dann würde ich auf jeden Fall die Linke wählen. Beide Stimmen würde ich ihr geben. Aber immerhin habe ich noch Enkelkinder, die wählen dürfen, weil sie Deutsche sind. Da bin ich sicher, dass zumindest ein paar Stimmen aus meiner Familie nicht verloren gehen. Protokoll: Derya Türkmen. Emine Yildiz ist ihre Großmutter

Rizeq D. will fair behandelt werden

Ich komme aus Aleppo in Syrien. Im März werde ich 32 Jahre alt. Seit Juli 2019 lebe ich in Deutschland. Weil ich über Griechenland nach Deutschland gekommen bin, ist mein Fall kompliziert, bis heute habe ich keinen Aufenthaltstitel. Aber ich habe Deutsch bis B 2 gelernt und den B-1-Test gemacht. Außerdem habe ich als Freiwilliger im Café eines Projekts namens Refugio gearbeitet. Ich bin inzwischen ein wirklich guter Barista!

Wäre ich in Syrien geblieben, hätte das Assad-Regime mich zum Militärdienst eingezogen. Aber ich wollte nicht einer von denen werden, die Unschuldige töten. Nachdem das Regime gestürzt wurde, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge alle offenen Fälle eingefroren, auch meinen. Wie es jetzt weitergeht, weiß ich nicht. An den Neuwahlen darf ich nicht teilnehmen, was wirklich traurig ist für jemanden, der seit fast sechs Jahren hier lebt und einen Beitrag zur Gesellschaft leistet. Ich möchte ein echter Teil der Gesellschaft sein und nicht nur eine Nummer in der Flüchtlingskrise.

Es ist jedes Mal so hart, wenn ich in den Nachrichten Sachen höre wie: „Diese Leute arbeiten nicht, sie zahlen keine Steuern.“ Ich darf ja gar nicht arbeiten. Ich habe sogar eine Umschulung im IT-Bereich gemacht, aber wer soll mir einen Job geben, wenn ich keine Arbeitserlaubnis habe? Du kommst hier an, und dann wartest du lange, lange Zeit. In meinem Fall gab es überhaupt keine Möglichkeit, an einem Deutschkurs teilzunehmen. Ich habe Sozialhilfe bekommen, aber ich hätte viel lieber gearbeitet.

Immer wenn nach einem Terroranschlag die populistischen Reden losgehen, bin ich – wie viele Menschen – unter Stress. Wir tun wirklich unser Bestes und versuchen, alles richtig zu machen. Die Menschen sind hierhergekommen, um Frieden und Sicherheit zu finden. Wir lernen die Sprache und wir sind bereit zu arbeiten. Im Gegenzug wollen wir fair behandelt werden, das ist alles.

Ich wünsche mir von der neuen Regierung, dass sie nicht nur auf die AfD schielt, sondern auf ihre eigentlichen Wähler. Dass sie sich nicht unter Druck setzen lässt. Abschieben hilft nicht gegen Hass, Rassismus, Sexismus. Das Einzige, was wir dagegen tun können, ist politische Bildung.

Fluchtursachen bekämpfen, heißt es immer. Wenn die Regierung das Problem wirklich an der Wurzel löst, dann indem sie keine Waffen mehr an verrückte Regierungen liefert. Wenn wir Kriege beenden wollen, müssen wir aufhören, Krieg auf kapitalistische Weise zu führen. Denn das macht das Leben zur Hölle und das bedeutet, dass die Menschen nicht in ihrer Heimat leben können. Protokoll: Franziska Schindler

Anastasia Magasowa fragt sich, warum Deutschland nicht mehr funktioniert

Vor etwa 15 Jahren kam ich zum ersten Mal nach Deutschland. Damals, als 20-jährige Ukrainerin, war es meine erste Reise ins Ausland, und ich verbrachte zwei Tage in Berlin. Das war für mich – wie man so schön sagt – Liebe auf den ersten Blick.

Seitdem bin ich immer wieder nach Deutschland zurückgekehrt, bis ich Ende 2019 endgültig nach Berlin zog, kurz vor Beginn der Coronapandemie. Kein besonders günstiger Zeitpunkt, um es milde auszudrücken. Aber eine durchaus lehrreiche Erfahrung.

Heute habe ich das Gefühl, dass ich die deutsche Gesellschaft recht gut verstehe und dass sie zu meiner eigenen geworden ist. Meine Begeisterung für Deutschland begann bereits in der Schulzeit, als ich anfing, die deutsche Sprache zu lernen. Die reiche kulturelle Tradition, die Fähigkeit, Verantwortung für schreckliche Verbrechen zu tragen und Schuld zu sühnen, sowie die Kraft, aus der Asche wieder aufzuerstehen – all das weckte mein Interesse und meinen Respekt für dieses Land.

Ich nahm die deutsche Gesellschaft als eine wahr, die es jedem ermöglicht, seinen Platz darin zu finden – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder sexueller Orientierung. Ein Staat, in dem alle Prozesse durchdacht und geregelt sind, in dem Bürgerinnen und Bürger nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte haben und in dem das Gesetz sowohl schützt als auch gerecht bestraft.

Von außen schien Deutschland immer ein Land zu sein, in dem alles funktioniert: Wo Züge pünktlich sind, wo hohe Steuern zwar gezahlt werden, aber dafür auch ein umfassendes soziales System existiert. Die Realität von innen erwies sich als weitaus härter. Oder hat sich in all den Jahren vielleicht tatsächlich etwas grundlegend verändert?

Letzte Woche hatte ich einen Arzttermin. Die Behandlung begann mit einer Stunde Verspätung. Als ich mich darüber beschwerte, erhielt ich die Antwort: „Seien Sie froh, dass Sie überhaupt einen Termin bekommen haben – in der Stadt gibt es für die nächsten zwei Monate keine mehr.“

Nach dem Arztbesuch ging ich in den Supermarkt. Vor dem Eingang saß ein junger Obdachloser, der perfektes Deutsch sprach und offen zugab, dass er um Geld für Weed bettelte. Für den Heimweg wollte ich den Bus nehmen, doch der kam auch zehn Minuten nach der geplanten Abfahrtszeit nicht. Also beschloss ich, zu Fuß zu gehen.

Auf einer ruhigen Straße in Kreuzberg war der halbe Gehweg mit Müll und Hundekot bedeckt. Und das nicht nur, weil nicht regelmäßig gereinigt wird, sondern auch, weil Menschen selbst nicht auf ihre Umgebung achten. Ich kann nicht genau sagen, wann etwas schiefgelaufen ist, aber so, wie es jetzt ist, sollte es nicht sein.

Ich kann auch immer noch nicht glauben, wie rasant radikale Bewegungen in Deutschland an Popularität gewinnen. Dass das Gefühl von Sicherheit und Toleranz durch Angst und Hass ersetzt wurde. Dass ehemalige Pa­zi­fis­t:in­nen heute bereit sind, einen Kriegsverbrecher zu umarmen.

Vor dem Hintergrund dieser inneren Herausforderungen werden nun auch in der Außenpolitik noch größere Erwartungen an die deutsche Regierung gestellt. Der amerikanische Präsident Trump hat mit seiner Bewunderung für Putin den Eu­ro­päe­r:in­nen unmissverständlich klargemacht, dass sie auf sich allein gestellt sind.

Die europäische Sicherheitsarchitektur wird nicht mehr so sein, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde. Die Zeit des Nachdenkens ist vorbei – es ist Zeit zu handeln. Ist Europa, angeführt von Deutschland, bereit für diese Verantwortung und Selbstverteidigung? Es sieht nicht danach aus, aber ich hoffe, dass es so sein wird.

Ich bin fast froh, dass ich bei diesen Wahlen kein Stimmrecht habe. Jede der derzeitigen deutschen Parteien hat zahlreiche Fehler gemacht, einige davon schwerwiegend. Dennoch sollten sich die Deutschen bei ihrer Wahl daran erinnern, welche demokratischen Werte das Fundament ihres Staates bilden – und welchen Preis sie für ihre Freiheit gezahlt haben.

Die Ukrainer:innen, von denen mittlerweile rund eine Million in Deutschland leben, setzen große Hoffnungen auf die Weisheit des deutschen Volkes. Denn inzwischen ist es ohne Zweifel unser gemeinsamer Krieg. Anastasia Magasowa, 16. Februar

Emil ist zehn und will wählen

Dass nur Erwachsene wählen dürfen, finde ich nicht gut. Klar gibt es Kinder, die interessieren sich gar nicht für Politik, und die würden vielleicht einfach das ankreuzen, was ihre Eltern gut finden. Wählen ist schon eine Verantwortung. Aber mit 14 Jahren hat ja eigentlich jeder ein Handy und kann sich informieren.

Mich interessiert es jedenfalls, wer in der nächsten Regierung sitzt. Auch die anderen in meiner Klasse, ich gehe in die vierte Klasse, reden manchmal über Politik. Viele finden es blöd, dass die AfD in den Umfragen gerade so hoch steht. Einer von uns findet die CDU toll. Aber die meisten finden die Grünen gut, weil die für die Umwelt sind.

Ich schaue gerne Nachrichten im Fernsehen und ich lese manchmal auch in der Zeitung einen Artikel. Ich war ziemlich schockiert, als Merz mit der AfD zusammengearbeitet hat. Er hat für ein Gesetz die Stimmen von der AfD bekommen und er hat gesagt, er hat keinen Fehler gemacht. Dafür fand ich dann die Rede von der Linken, Heidi Reichinnek richtig toll, als sie gesagt hat, dass man Widerstand leisten soll. Ich war auch demonstrieren, hier in Berlin, gegen die AfD. Ich hoffe, die Linke schafft es in den Bundestag.

Die AfD ist für Abschiebung und dass man die Grenzen für Flüchtlinge schließt. Das finde ich nicht gut. Außerdem arbeiten auch viele der Menschen hier, zum Beispiel in den Restaurants, wir brauchen sie. Wenn die AfD Macht bekommt, hätte ich selbst Sorge, dass ich dann nicht mehr demonstrieren gehen darf. Dass sie die Protestierenden niederschlagen oder so.

In meinem Wahlkreis kenne ich alle Direktkandidaten, ich sehe sie immer auf den Plakaten, wenn ich zur Schule fahre. Die Grünen und die SPD wollen Kitas und Schulen renovieren. Das finde ich gut. Aber wenn ich könnte, würde ich den linken Kandidaten wählen, weil ich jetzt Linke-Fan bin.

Die zweite Stimme würden die Grünen bekommen. Das Klima ist mir sehr wichtig. Ich finde es wichtig, dass Deutschland klimaneutral wird. Warum strengen wir uns da nicht mehr an? Kann man die Erderwärmung eigentlich auch wieder rückgängig machen? Jedenfalls will ich nicht, dass wieder Atomkraftwerke gebaut werden.

Ich fände es auch gut, wenn die neue Regierung mehr Steuern von reichen Leuten verlangt. Dann müssten zum Beispiel die Lieferando-Fahrer weniger zahlen. Ich habe neulich den Wahl-O-Mat gemacht, da kam raus, dass ich Grüne, SPD oder Linke wählen sollte. Das hab ich mir schon so gedacht.

Was die Regierung vermutlich nicht ändern kann: Das Essen in der Schule ist nicht lecker. Ich habe oft mal Bauchschmerzen. Aber das müssen die Schulen vermutlich selbst machen. Ich bin da im Schulparlament. Protokoll: Anna Klöpper

Puk Norwood kann nicht eingebürgert werden

Ich bin in Freiburg geboren und aufgewachsen, aber meine Eltern kommen aus den USA. Als weiße Person habe ich nicht realisiert, dass ich Ausländer bin – bis ich mit 18 Jahren einen Anruf von der Polizei bekam. Ich sei illegal in Deutschland, wurde mir gesagt, weil ich mich nicht um meinen Aufenthaltstitel gekümmert hatte.

In Deutschland ist die Staatsangehörigkeit an die Familie geknüpft, in den USA daran, ob man dort geboren ist. Ich bin zwischen diesen beiden Ideen von Staatsbürgerschaft auf die Welt gekommen und gehöre zu den zwölf Millionen Erwachsenen, die in Deutschland nicht wählen dürfen.

Dabei war für mich immer klar, dass ich nach Deutschland gehöre. Mit 18 habe ich mich nur deshalb gegen die Einbürgerung entschieden, weil außer meinen Eltern und Geschwistern alle meine Verwandten in den USA leben. Meine Großmutter zum Beispiel. Mir war es wichtig, dass ich sie schnell besuchen kann, wenn sie krank wird, ohne erst ein Visum beantragen zu müssen. Aber dann wurde Trump US-Präsident. Seitdem macht es mir Angst, nur die US-Staatsbürgerschaft zu haben. Ich bin trans und mache gerade eine Transition. Es kann gut sein, dass ich eines Tages nicht mehr in die USA zurückkehren kann.

Aber seit die Ampel das Staatsbürgerschaftsrecht geändert hat, kann ich nicht mehr Deutscher werden. Auch vorher galt schon, dass Menschen sich nicht einbürgern lassen können, wenn sie Sozialhilfe beziehen. Aber es gab Ausnahmen für diejenigen, die nichts dafür können, dass sie auf solche Leistungen angewiesen sind. Das wurde gestrichen. Mich betrifft das, weil ich behindert bin und Eingliederungshilfe bekomme.

Die „guten“ und die „schlechten“ Mi­gran­t*in­nen auf diese Weise voneinander zu trennen, das geht gar nicht! Alle Menschen, die hier leben, sollten auch hier wählen dürfen. Das ist die einfache Antwort auf unsere komplexe globale Gesellschaft.

Ich engagiere mich in der Initiative Wahlkreis 100 %, die zum Bündnis Wir Wählen gehört. Unsere Gruppe hält in Freiburg symbolische Wahlen ab. In der ganzen Stadt stehen wir mit Wahlständen und laden die Menschen ein, daran teilzunehmen. Hier in Freiburg ist jede fünfte erwachsene Person wegen ihrer Staatsbürgerschaft von Wahlen ausgeschlossen. Wir zählen dann die Stimmen aus und übergeben die Ergebnisse an die Stadtpo­li­ti­ke­r*in­nen. Wer an unseren Stand kommt und die deutsche Staatsbürgerschaft hat, kann parallel an einer Unterschriftenaktion für das Wahlrecht für alle teilnehmen.

Ich wünsche mir von der neuen Bundesregierung, dass sie Migration als etwas Positives anerkennt. Sie gehört zum Menschsein dazu. Protokoll: Franziska Schindler

Nicole Zehnder will linke Politik

Ich bin in der Nähe von Basel aufgewachsen, nahe der französischen und der deutschen Grenze. Während meines Studiums war ich in Frankreich, in Portugal, im italienischen Teil der Schweiz – ich habe Europa immer als etwas Ganzes erlebt, wo man sich aussuchen kann, wo man leben möchte.

Mein Partner ist Deutscher. Nach dem Studium ist er mit mir in die Schweiz gekommen. Dort wurde damals über die „Masseneinwanderungsinitiative“ abgestimmt, es ging überall darum, Einwanderung zu limitieren. Weil mein Partner keinen unbefristeten Vertrag hatte, bekam er jedes halbe Jahr die Aufforderung, doch bitte das Land zu verlassen. Das hat das Leben für uns als internationales Paar sehr unattraktiv gemacht.

Nach Deutschland wollte ich nicht wirklich. Als Architektin ist die Arbeit in der Schweiz viel spannender. Es war eher eine Entscheidung für Berlin: Ich fand das toll, eine künstlerisch-alternative Stadt, sehr international, mit einer linken Szene – das hat mir in der Schweiz immer gefehlt. Wir haben einen kleinen Sohn. Hier ist die Kita gratis, wir konnten beide in Elternzeit gehen. Für uns lebt es sich hier viel gleichberechtigter, als das in der Schweiz möglich wäre.

Wenn ich mit Freun­d*in­nen über die Wahl rede, stutzen viele, wenn ich sage, dass ich nicht wählen darf. Alle wissen, dass ich Schweizerin bin, aber ich werde oft nicht als Ausländerin wahrgenommen, schon gar nicht als Nicht-EU-Bürgerin. Ich bin in der Schweiz wahlberechtigt, vom Schulrat bis zum Parlament. Aber das wird mir zunehmend fremd. Was hier passiert, ist mir viel näher und betrifft mich viel direkter.

Das erste Mal über Einbürgerung nachgedacht habe ich, als Russland die Ukraine angriff. Mich hat der Gedanke geängstigt, dass überall die Mauern höher werden und wir als Familie mit unterschiedlichen Staatsbürgerschaften da nicht reinpassen. Die Voraussetzungen erfülle ich, meinen Schweizer Pass darf ich behalten – am Ende bin ich an der Überlastung der Berliner Bürokratie gescheitert. Es hätte bis zu zwei Jahren gedauert, bis mein Antrag bearbeitet wird. Gerade vor der Wahl fuchst mich sehr, dass mich das so abgeschreckt hat. So war es schon, als nach der Berliner Wiederholungswahl die CDU übernommen hat. Ich fand es schön, an einem Ort zu leben, der links regiert wird. Wo Fahrradwege Priorität haben oder Kunst für alle zugänglich ist. Ich fürchte, dass es nach der Wahl aber weiter nach rechts geht. Manchmal denke ich: Dann geh ich halt. Andererseits – wohin? Und dann denke ich umso mehr, dass ich mich einbürgern lassen, noch mehr einbringen und engagieren sollte, auch im Lokalen. Um dem etwas entgegenzusetzen. Protokoll: Dinah Riese

Martin Bouko* will das Recht auf Familienleben

Ich kann nicht wählen, weil ich keinen deutschen Pass habe. Dabei hat die Politik unmittelbare Auswirkungen auf mein Leben. Ich bin bei einer Zeitarbeitsfirma beschäftigt und habe einen dauerhaften Aufenthaltstitel. In drei Wochen werden meine drei Kinder aus Kamerun nach Deutschland kommen. Zehn Jahre waren wir voneinander getrennt. Jahrelang habe ich für den Familiennachzug gekämpft.

Was letzte Woche im Bundestag passiert ist, ist eine Katastrophe. Beinahe hätte das Parlament für ein Gesetz gestimmt, das Tausende Familien für immer getrennt hätte. Niemand verlässt seine Angehörigen einfach so. Die Gründe dafür, nicht zusammen zu fliehen, sind meistens brutal: Kriege, Natur- oder Klimakatastrophen, Verfolgung wegen Religionszugehörigkeit oder sexueller Orientierung.

Jeder Mensch hat das Recht auf Familienleben, das ist ein grundlegendes Menschenrecht. Die Bundesregierung muss dieses Recht achten und sich für den Schutz von Familien einsetzen. Die enormen bürokratischen Hürden beim Familiennachzug müssen abgebaut werden. Insgesamt sollten die Abgeordneten Immigration nicht als Unglück sehen, sondern als Form der internationalen Solidarität mit anderen Völkern.

Von der neuen Bundesregierung fordere ich, Asylverfahren nach den Standards des internationalen Rechts durchzuführen. Und dass die Menschen, die hier leben, eine Chance auf Integration bekommen. Dazu gehören Sprachkurse, dass man arbeiten oder eine Berufsausbildung absolvieren darf. Anstatt Hass zu säen, sollte die Politik Rassismus und alle anderen Formen der Diskriminierung vehement bekämpfen. * Name geändert, Protokoll: Franziska Schindler

Stina Uebe ist fünf Monate zu jung zum Wählen

Ich bin 17 Jahre alt und hätte dieses Jahr eigentlich zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl teilnehmen sollen. Doch da die Wahl vorgezogen wurde, klappt das jetzt nicht. Zwischen Februar und September werden viele Jugendliche aus dem Jahrgang 2007 volljährig, die ihre Stimme nun nicht abgeben dürfen. Das ist sehr ärgerlich. Es geht nur um wenige Monate!

Es verständlich, dass jüngere Kinder noch kein Wahlrecht haben, weil sie noch nicht in der Lage sind, sich ausreichend zu informieren und dann eine eigene Meinung zu bilden. Aber bei uns geht es nur um ein paar Monate, wegen derer wir jetzt nicht über unsere Zukunft mit­entscheiden dürfen. Dabei gehören wir zu der Generation, die mit den Folgen politischer Entscheidungen mit am längsten leben muss.

In unserem Alter sind wir durchaus in der Lage, politische Entscheidungen zu durchdenken. Wir bekommen tagtäglich mit, was in der Welt geschieht. Man kann sich ziemlich hilflos fühlen, wenn man dann von großen Entscheidungen wie der über den neuen Bundestag ausgeschlossen wird. Es ist angst­einflößend und frustrierend, wenn man realisiert, dass viele Menschen in Deutschland politische Entscheidungen treffen, die man für falsch hält. Gerade in solchen Momenten wünscht man sich, selbst Einfluss nehmen zu können.

So viele Wahlberechtigte sind 70 Jahre und älter. Sie müssen die Folgen einiger Entscheidungen nicht mehr so lange mittragen wie wir. Ob sie da wirklich mit Blick auf die Zukunft unserer Generation wählen und nicht nur auf die nächsten Jahre? Es macht mir Sorge, dass sie so viel Macht über meine Zukunft haben.

Viele Leute wählen auch aus Angst vor der Zukunft AfD. Das hat sich zum Beispiel im letzten Jahr bei den Landtagswahlen gezeigt. Da erhielt die AfD die größte Zustimmung auf dem Land, wo die Wäh­le­r*in­nen ihre wirtschaftliche Lage als eher schlecht beschrieben haben. Außerdem sind viele Wäh­le­r*in­nen von den anderen Parteien enttäuscht und sagen, dass die AfD durch ihr lautes und auffälliges Verhalten für sie „Stärke“ verkörpert. Das alles spricht doch dafür, dass es umso wichtiger ist, unsere Generation stärker einzubeziehen, zu informieren und uns Kontrolle über unsere Zukunft zu geben, anstatt dies den Älteren zu überlassen.

Viele Jugendliche engagieren sich schon: bei Fridays for Future, Demos oder in sozialen Medien. So wollen wir zeigen, dass wir Verantwortung übernehmen können und auch wollen. Ich würde mir wünschen, dass wir nur, weil wir „zu jung“ sind, nicht vergessen werden und andere Mitbestimmungsrechte bekommen, um uns aktiv beteiligen zu können. Es geht schließlich um die Gestaltung unserer Zukunft.

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9 Kommentare

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  • Felix Westdeutschland. Wo die Unterschicht noch keine demokratische Repräsentanz hat. Die letzte große Leerstelle in der Parteienlandschaft mit einer populistischen Partei für konservative migrantische Communities wird aber sicher bald geschlossen. Danach werden auch die Rufe nach einem Wahlrecht für Jedermann deutlich leiser werden.

  • "Aber mit 14 Jahren hat ja eigentlich jeder ein Handy und kann sich informieren."



    Spätestens bei diesem Satz bin ich froh, das es eine Altergrenze bei Wahlen gibt und das diese bei 18 liegt...

    • @mlevi:

      Das habe ich mir bei all den Desinformationskampagnen auf Instagram und TikTok ehrlich gesagt auch gedacht.

    • @mlevi:

      um dies in Relation zu setzen muss man jedoch auch im Blick behalten, dass Schüler immerhin einen halbwegs informierten Lehrkörper zur Meinungsbildung zur Verfügung haben. Hingegen einige volljährige Bürger sehr frei/irrig in ihrer Meinungsbildung unterwegs sind und es mehr wahlberechtigt demente gibt als Jungendliche zwischen 16 und 18.

    • @mlevi:

      sicherlich wäre eine informierte Wahlentscheidung uneingeschränkt zu begrüßen und die Informationslage im Internet mag nicht perfekt sein vielleicht sogar schwer verzerrt.

  • Ja. dass 26 Millionen Menschen hier leben, aber ihre Interessen, Wünsche und Sorgen von Politikern nicht wirklich ernst genommen werden, ist einer so genannten Demokratie unwürdig. Es gibt einen Vorschlag, wie man das ändern könnte, ohne allen gleich volles Wahlrecht zu geben.



    Und zwar sollte es monatlich standardisierte Umfragen mit sehr kleiner Fehlerrate geben, bei denen auch all diese berücksichtigt werden, die nicht wählen dürfen. Und damit die Politiker und die Regierung das nicht einfach ignorieren wie sonst so oft, soll in den Fall, dass mehr als 30% in diesen Umfragen mehr als 6 Mal hintereinander sagen, dass sie so unzufrieden mit der Regierung sind, dass sie neu wählen möchten, dann auch wirklich neu gewählt werden.



    Dadurch müsste sich die Regierung nicht nur endlich auch um die Interessen, Wünsche und Sorgen der Menschen kümmern, die nicht wählen dürfen, sondern auch um die von denen, die sie gewählt haben und die, die andere Parteien gewählt haben. Denn sonst steigt die Unzufriedenheit über 30% und wenn sie dort bieibt, werden nach 6 Minuten Neuwahlen festgesetzt. Dazu gibt es auch schon eine Petition: innn.it/schutzgegenafdinsgrundgesetz

    • @Dirk Sandhost:

      26 Millionen, wie kommen Sie darauf??? 12 Millionen deutsche Kinder und Jugendliche dürfen, wie überall, auch nicht wählen!



      Die verschiedenen Regelungen zur Staatsbürgerschaft und somit Wahlrecht haben alle jeweils Vor und Nachteile.

  • Das Wahlrecht ist zurecht das Privileg der Staatsbürger*innen. Wer die Staatsbürgerschaft annimmt, hat alle Vergünstigungen im Land. Das gilt für so ziemlich jedes Land der Welt.

    Um mal nur auf Emine zurückzukommen:



    Was sie erzählt, ist die typische Rosinenpickerei. Sie will hier wählen, weil sie hier wohnt, gibt aber die türkische Staatsbürgerschaft nicht auf, weil sie sich davon auch Vorteile verspricht.



    So geht es eben nicht, ich habe dafür auch kein Verständnis.

    • @Berliner_Kaepsele:

      Ist es bei Puk Norwood nicht ähnlich?

      Puk Norwood hat sich mit 18 bewusst für die us-amerikanische und gegen die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden.