Neujahr in China: Absurde Statistiken
Chinas Fake-News-Strategie kommt im Volk nicht gut an. Das traditionelle Frühjahrsfest wird überschattet von der hohen Zahl der Toten und Misstrauen.
A n diesem Samstag ist in China das Frühlingsfest oder das chinesische Neujahr. Ein Fest, das Anlass für Freude und Hoffnung geben sollte. In diesem Jahr wird es massiv von einer Statistik gestört – die der Sterblichkeit aufgrund der grassierenden Pandemie. Spektakulärerweise ist dabei weniger die Sterblichkeit zentraler Störfaktor, sondern die Statistik als solche. Anfang Januar gab das chinesische Desease Control Centrum (CDC) an einem bestimmten Tag 4 Todesfälle bekannt.
Kaum zwei Wochen später korrigierte CDC diese Statistik: In den fünf Wochen bis dato seien in China rund 60.000 Menschen an der Corona-Infektion gestorben, auf den Tag gerechnet waren es 1.714, das 428-Fache jener Tagesstatistik, die schon bei Bekanntgabe Wellen der Entrüstung auslöste, schließlich wurden bereits zwei Wochen zuvor überfüllte Krematorien gemeldet.
In Großstädten wie Peking und Schanghai wurden, so verlautete aus halbwegs geduldeten Berichten in den sozialen Netzwerken, sogar stillgelegte Stahlöfen wieder befeuert, um die Toten einzuäschern. Mit der drastischen Zunahme schwerer Krankheitsverläufe – offiziell haben 90 Prozent der Infizierten deutliche Symptome und davon wiederum die Hälfte schwere – dürfte die Situation heute noch bedrückender sein.
Laut Uniklinik in der Hauptstadt Peking könnte die erste Infektionswelle bereits 900 Millionen Chinesen „durchseucht“ haben. Legt man eine in den USA entwickelte Sterblichkeitsrate nach einer Durchimpfung von über 70 Prozent der Bevölkerung, also 1 von 10.000 zugrunde, würde dies eine Zahl von 90.000 Toten ergeben: das 1,5-Fache jener Fünfwochenstatistik in China, da, wo die Durchimpfung der über 75-Jährigen gerade einmal die Marke von 50 Prozent kratzt.
ist 1957 in Peking geboren, lebt seit 1989 in Deutschland und arbeitet dort als freier Autor. In seinen Texten setzt er sich mit dem politischen Geschehen und der gesellschaftlichen Entwicklung in seiner Heimat auseinander.
Sich wie Schnittlauch fühlen
Die Abwehrkraft der Bevölkerung dürfte dort um ein Vielfaches schwächer sein als in den USA und die Sterblichkeitsrate entsprechend höher. Längst vertraut in China kaum noch jemand den offiziellen Zahlen. Sei es, wenn amtliche Ökonomen für das angebrochene 2023 ein Wirtschaftswachstum von über 5, mancherorts sogar bis 10 Prozent prognostizieren, sei es, dass die Arbeitsämter die Arbeitslosigkeit immer noch nahe der Marke von 5 Prozent angeben – sie alle entlocken Chinesen bestenfalls ein müdes Lächeln.
Stattdessen kommt es vermehrt zu offenen Protesten und verbitterten Anprangerungen: Als „Schnittlauch“ bezeichnen sich Normalchinesen selbst schon eine Weile, jenes Kraut, das zeit seines kurzen Lebens mehrfach abgeschnitten wird, also von denen da oben wiederholt abgeerntet wird, bis es sich erholt und erneut wächst. Nun kommt die Sterblichkeitsstatistik ausgerechnet zum Fest der Fröhlichkeit und Hoffnung an die Öffentlichkeit. Im Land macht sich zunehmend Sarkasmus breit.
Selbst wenn die meisten Blogger es noch immer nicht wagen, die Herrscher zu beschimpfen, so bleibt doch für die „Experten“, die die lügnerischen Statistiken immer schamloser fabrizieren, selten ein gutes Wort übrig. „Blutsauger“ heißt es stattdessen, „die, die auf unseren Toten tanzen“. Am schlimmsten ist eine alte Metapher, kreiert von dem kritischsten Autor der chinesischen Literatur im 20. Jahrhundert, Lu Xun: „Die, die mit unserem Blut getränkte Dampfnudeln essen.“
Zynisch meint ein Eintrag: „Wir lachen die USA aus, die in drei Jahren 100 Millionen Infizierte produzierten. Wir tun es in drei Wochen, großartig!“ Dabei weiß jeder, wer zu verurteilen ist. „Guan chu shuzi, shuzi chuguan“, lautet ein geflügeltes Wort in China seit 30 Jahren. Das heißt: Die Macht verschönt die Zahlen, umgekehrt kommt raus umso mehr. Und das trifft so ziemlich den Kern des politischen Zynismus.
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