Ende der „Sanlitun Bar Street“ in Peking: Das letzte Aufleuchten

Pekings erste „westliche“ Ausgehmeile wird nun endgültig abgerissen. Für viele chinesische Hauptstädter geht damit eine Ära zu Ende.

Musiker auf einer kleinen Bühne, davor Tische

Comma Bar. Nº 54 Sanlitun Street, in einer Aufnahme von 2007 Foto: Lucas Vallecillos/imago

PEKING taz | Bevor die Lichter in der „Sanlitun Bar Street“ endgültig ausgehen, leuchten die grellen Neonfassaden noch ein letztes Mal in die Pekinger Nacht. Unzählige Schaulustige sind an diesem Dienstagabend in die ikonische Ausgehmeile gezogen, um Selfies zu machen, ehe die Kulisse dafür verschwinden wird.

Mit neugierigen Augen spähen sie durch die angestaubten Glasfassaden der Kneipen, als handele es sich um museale Relikte einer lange vergessen geglaubten Vergangenheit. Und in gewisser Hinsicht stimmt das auch: Die letzten verbliebenen Bars, die Namen wie „Red Moon Club“, „Power Station“ oder „Swings“ haben, wirken aus der Zeit gefallen. Statt Craft Beer werden hier Flaschen im Sechserpack serviert und aus den Lautsprecherboxen dröhnt seit Jahren „Hotel California“ in Dauerschleife.

Schon seit 1995 wird in Pekings erster „westlichen“ Bar-Meile gefeiert und getrunken. Nach den schnelllebigen Maßstäben der chinesischen Hauptstadt ist dies zweifelsohne eine halbe Ewigkeit.

Anfang Februar jedoch sollen endgültig die Abrissbirnen anrollen, um den Straßenzug zu planieren. Ende Dezember kam der Beschluss, dass bis zum 31. Januar alle Läden geräumt sein müssen. Laut Behörden seien die Sicherheitsstandards der Gebäude nicht mehr genügend – also nicht erdbebensicher. Und damit verschwindet auch das letzte Überbleibsel des alten Sanlitun-Viertels; einer Gegend, die sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder gewandelt und gehäutet hat und längst im Chinesischen zum Synonym für Glamour, Konsum und Internationalität geworden ist.

Partys in den Gärten der Botschaften

„Als ich damals frisch nach Peking gekommen bin, war das praktisch die einzige Straße, in der überhaupt irgendwas los war“, erinnert sich Jim Boyce, der seit 2005 über die Bars und Restaurants Pekings bloggt. Der Kanadier kann stundenlang über die kulinarischen Experimentierfreude heimischer Köche schwärmen, er ist bestens vernetzt mit lokalen Weinhändlern und Pub-Besitzern.

Doch mit der „Sanlitun Bar Street“ ist Boyce niemals richtig warm geworden: „Für mich sehen die Bars in etwa so aus, als wären sie für Leute gemacht, die im Grunde noch nie in einer richtigen Bar gewesen waren“, sagt er. Es sei so, als wenn man sich als Tourist in einem neuen Land befindet, die Sprache nicht spricht, und dann eben zum nächstbesten McDonald’s geht. Oder in Peking eben zur Bar Street.

Und in der Tat lässt sich mittlerweile nur schwer erahnen, warum jene Ausgehmeile, die eher an Kleinstadt denn 20-Millionen-Metropole erinnert, einst die Diplomaten, Touristen und gut betuchten Einheimischen gleichermaßen angezogen hat.

Um darauf eine Antwort zu finden, muss man einen Blick zurück werfen. Noch vor wenigen Jahrzehnten war Sanlitun nichts weiter als eine Einöde fernab der Innenstadt. Entlang der staubigen Straßen reihten sich einstöckige Hütten, landwirtschaftliche Felder und kleine Autowerkstätten. Genau hier, weit entfernt vom Platz des Himmlischen Friedens, siedelte Mao Tse-tung kurz nach Gründung der Volksrepublik das neue Diplomatenviertel an.

Eine Frau schießt Fotos der Sanlitun Bar Street in Peking

Viel Zeit für ein letztes Selfie in der Sanlitun Bar Street bleibt nicht mehr vor dem Abriss Foto: vcg/imago

Die Ausländer feierten damals vor allem in den Gärten ihrer Botschaften, bis heute erzählt man sich unter Expats Anekdoten von legendären Poolpartys aus jener Zeit.

Die strenge Segregation zwischen „Waiguoren“, wie die Fremden im Chinesischen heißen, und der Lokalbevölkerung war vor allem politisch gewollt insbesondere während der Kulturrevolution (1966–76). Wer damals mit einem „Waiguoren“ auf der Straße sprach, selbst wenn es nur darum ging den Weg zu weisen, konnte sich schnell illegaler Spionage verdächtig machen.

Der Schriftsteller Dai Ming, der in den 60er Jahren in Sanlitun aufwuchs, erinnerte sich einst in einem Pekinger Lokalmedium an seine Kindheit: „Als wir jung waren, hatten wir regelrechte Angst vor den Ausländern. Unsere Lehrer und Eltern haben uns erzählt, dass wir so viel Abstand wie möglich vor ihnen halten sollen.“ In der Schule wurde den Kindern eingetrichtert, dass sie im Botschaftsviertel stets mit ernstem Blick und gerader Haltung gehen sollten. Denn Ausländer würden, so erzählte man sich damals, Süßigkeiten auf den Boden werfen, um dann die sich bückenden Kinder zu fotografieren. Die Bilder davon würden in ihren Zeitungen veröffentlicht, „um unser Land zu diffamieren“.

Spätestens mit Maos Tod und den ökonomischen Reformen der 80er Jahre verschwanden auch die alten Denkmuster. Expats wurden fortan vor allem als wirtschaftliche Möglichkeit betrachtet – und so dauerte es nicht lange, bis aus der offensichtlichen Nachfrage nach nächtlicher Unterhaltung schlussendlich ein Angebot entstand: Die „Sanlitun Bar Street“ war geboren. Und als sich 1996 auch der lokale Fußballklub „FC Guoan“ im benachbarten Arbeiterstadion ansiedelte, gesellten sich am Wochenende nach den Matches auch die einheimischen Fans zu den Expats.

Darts-Kneipen und Irish Pubs

Thorsten, ein großer Mann mit blauer Daunenweste und zurückgekämmten Haaren, schwelgt noch heute gern in Erinnerungen aus jener Zeit. Ende der 90er kam der Deutsche erstmals nach Peking, arbeitete damals für die Botschaft. Wenn die Diplomaten und Expats nach Feierabend ein paar Bier trinken wollten, dann gingen sie natürlich nach Sanlitun in die unzähligen Darts-Kneipen und Irish Pubs. Und danach ließ man sich bereits weit nach Mitternacht in den Garküchen und Straßengrills Nudeln braten oder Lammspieße grillen.

Doch keiner der Orte habe die Zeit überdauert, sagt Thorsten, der mittlerweile längst selbst in der Gastronomie tätig ist. Er sitzt an der hölzernen Theke seines eigenen Restaurants, ein uriges Lokal mit gutbürgerlicher Küche und weißen Tischdecken. Die Folgen von „Null Covid“ sind auch hier zu spüren: Viele der europäischen Stammkunden haben China verlassen, Expats kommen immer weniger nach. Nur ein Tisch ist an diesem Abend belegt.

Das Sanlitun-Viertel hat sich bereits seit der Jahrtausendwende immer wieder neu erfunden. Die alten Kneipen wurden Block für Block der Sanierung freigegeben. Nachts kamen die Vertreter der Lokalregierung, die mit weißer Kreide das chinesische Schriftzeichen „Chai“, also „Abriss“, auf die Hausfassaden schrieben. Widerrede war nutzlos, denn die meisten der Gebäude wurden, wie damals üblich, ohne offizielle Genehmigung errichtet. Und so rollten nur wenige Wochen später bereits die Raupenbagger an.

Der Regierung ging es vor allem darum, die Stadt zu „verschönern“ und von seinen Schmuddelecken zu befreien. Man wollte keine anrüchigen „Lady Bars“ mehr, keine billigen Imbissstuben und DVD-Shops voller Raubkopien. Und gleichzeitig wurden immer auch die Nischen der Subkultur demoliert: die Rock-Clubs und unabhängigen Bücherläden verschwanden ebenfalls.

An dessen Stelle traten internationale Investoren, die gläserne Bürotürme, Luxuswohnungen und Shoppingzentren errichtet haben. Adidas, Apple und Uniqlo siedelten sich mit riesigen Flagship-Stores an, es folgten Luxusboutiquen, internationale Café-Ketten und beliebige Cocktailbars. Nirgendwo in ganz China gibt es mittlerweile eine höhere Dichte an Ferraris und Prominenten.

Nur so lässt sich verstehen, dass nun die Pekinger einem Ort hinterher trauern, den sie doch seit Jahren bereits stets gemieden haben: Die „Sanlitun Bar Street“ stand für ein Stück nostalgischer Vergangenheit, die rückblickend gar nicht so schlecht erschien. Oder, wie der deutsche Gastronom Thorsten sagt: „Die Straße war noch der letzte Fleck mit altem Flair. Jetzt schließt sich die Geschichte vollständig.“

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