Neues Seenotrettungsschiff „Sea-Watch 5“: Retten ist Übungssache
Die Crew der „Sea-Watch 5“ bereitet sich und das neue Schiff auf die Seenotrettung im Mittelmeer vor. Bevor es losgeht, wird der Ernstfall geübt.
Empfohlener externer Inhalt
In wenigen Monaten werden hier Menschen an Bord sitzen, die ihr Leben mit der Flucht über das Mittelmeer riskieren, weil es keine sicheren und legalen Fluchtwege nach Europa gibt. Dabei sind in der ersten Jahreshälfte bereits 1.874 Menschen gestorben oder werden vermisst – so viele wie seit 2017 nicht mehr. Das geht aus Daten des „Missing Migrants Project“ der UN-Organisation für Migration (IOM) hervor.
An diesem Tag im August sind junge Menschen, Studierende, Rentner*innen und Familien da, um das Sea-Watch-Team bei einer wichtigen Übung zu unterstützen. Freiwillig, unentgeltlich, nur um der guten Sache willen.
Das Ziel: Alle Freiwilligen und die 31-köpfige Crew sollen innerhalb von 30 Minuten sicher von Bord gebracht werden. Dann erhält die Besatzung ein Zertifikat, das bestätigt: In Notfällen wie Feuer oder Schlagseite können sie schnell reagieren und die Menschen in Sicherheit bringen.
Schon 45.000 Menschen gerettet
Der gemeinnützige Verein Sea-Watch, der sich komplett durch Spenden finanziert, ist seit seiner Gründung 2015 mit Rettungsschiffen auf dem Mittelmeer im Einsatz. Seit 2020 fliegt er auch mit Aufklärungsflugzeugen. Mit rund 100 Angestellten und mehr als 500 Aktivist*innen war Sea-Watch laut eigenen Angaben bislang an der Rettung von über 45.000 Menschen beteiligt.
Über die Jahre ist der Verein gewachsen: Die Schiffe „Sea-Watch 1, 2 und 4“ wurden an die Organisationen Mare Liberum, Mission Lifeline und SOS Humanity weitergegeben. Die „Sea-Watch 3“ war seit 2017 im Einsatz – und ist nun so sehr in die Jahre gekommen, dass die „Sea-Watch 5“ sie ablösen soll.
Lorenz, ausgebildeter Krankenpfleger, kennt die „Sea-Watch 3“ von Anfang an. Als das Schiff 2017 umgebaut wurde, bekochte er die freiwilligen Handwerker:innen. Noch im gleichen Jahr trat der heute 33-Jährige seinen ersten Einsatz auf See an. Seit rund zwei Jahren ist er beim Verein fest angestellt.
Am Tag der Evakuierungsübung trägt Lorenz einen roten Helm und einen dunkelblauen Sea-Watch-Overall. Er stellt sich auf eine Treppe und hält sich ein Megafon vor das Gesicht. Sein Kopf verschwindet fast ganz dahinter, aber umso besser ist seine klare Stimme zu hören: „Ich bin Guest Coordinator an Bord“, stellt er sich den Gästen vor. Er fragt, ob alle Englisch verstehen, denn das ist die Schiffssprache. Dann beginnt er zu erklären, wie der Alltag auf der „Sea-Watch 5“ aussieht: „Es gibt einen sicheren Raum für Frauen und Kinder“, sagt Lorenz, „und wenn irgendwas ist, mit dem Essen, der Wärme oder Kälte – egal was, könnt ihr mich ansprechen.“
Die Flucht über das zentrale Mittelmeer gilt als eine der gefährlichsten Fluchtrouten weltweit. Laut Daten des „Missing Migrants Project“ sind seit 2014 mindestens 28.013 Menschen dabei gestorben.
Sea-Watch ist aktuell mit dem Schiff „Aurora“ auf dem Mittelmeer im Einsatz. Wie der Verein am Montag berichtete, wurde das Schiff nach einer Rettungsaktion von der italienischen Küstenwache in Lampedusa festgesetzt. Das Schiff soll demnach einen Regierungsdekret missachtet haben und darf für die nächsten 20 Tage nicht mehr auslaufen.
Auf dem Schiff ist Lorenz für die Verteilung von Essen und Kleidung sowie für die Kommunikation mit den Gästen zuständig. „Ich kümmere ich mich um alle alltäglichen Fragen an Bord“, fasst Lorenz seinen Job zusammen.
Als er 2017 bei Sea-Watch anfing, war die Zeit auf See meist 24 bis 48 Stunden lang, wie er erzählt. Mittlerweile sind sie aber auch mal zwischen einer und drei Wochen auf dem Schiff, bis die europäischen Küstenwachen die Seenotretter einlaufen lassen. „Es gibt dann für die Gäste keine Rückzugsmöglichkeiten, die Zustände sind sehr beengend.“
Das wird bei der Übung ansatzweise sichtbar: Er bittet alle, sich einmal auf dem Deck hinzulegen. Damit möchte Lorenz einen Eindruck davon gewinnen, wie gut sich viele Menschen auf dem Boot ausruhen können. Noch passt es gerade so – und doch muss die Crew mit mehr Menschen rechnen, die an Deck Platz finden müssen.
Eine weitere Herausforderung: Langeweile. Sie triggert Frust und Angst, erklärt Lorenz. „Wir haben Instrumente und Kartenspiele an Bord oder bieten kleine Sprachkurse an.“ Lorenz’ längste Zeit auf dem Meer: 17 Tage mit der Kapitänin Carola Rackete 2019, als kein sicherer Hafen die Besatzung und die 53 geretteten Menschen aufnehmen wollte – trotz Notsituation.
Während der Evakuierungsübung ziehen immer wieder Schauer über den Hafen. Windböen lassen das dicke Zeltdach auf dem großen Deck, das die Gäste vor dem Wetter schützen soll, gegen die Metallstreben knallen. Auf dem Wasser bauen sich Schaumkronen auf – von der Gischt bekommen die Besucher*innen aber nur ganz gelegentlich ein paar feine Tröpfchen ab, denn das breite Deck liegt gut geschützt im hinteren Teil der 58 Meter langen „Sea-Watch 5“. Sie ist ein ehemaliges Versorgungsschiff für Wind- und Ölplattformen. Lorenz erzählt: „Wir haben uns eine Checkliste erstellt: Was braucht unser neues Schiff?“ Dabei seien sie auf diesen speziellen Schiffstyp gestoßen.
2022 hat der Verein das Schiff für 4,5 Millionen Euro gekauft. Im November wurde die „Sea-Watch 5“ in Hamburg getauft, ihrem neuen Heimathafen. Seitdem hat sich einiges getan: Nach größeren Werftarbeiten in Dänemark fuhr die „Sea-Watch 5“ nach Flensburg. Seitdem arbeiten pro Tag durchschnittlich vierzig Helfer*innen daran, das Schiff für den Einsatz umzubauen.
Mehr Deckfläche, bessere Technik
Lorenz sieht in der „Sea-Watch 5“ viele Vorteile gegenüber den Vorgängerinnen: „Das Schiff ist deutlich neuer, hat noch bessere Technik und mehr Deckfläche sowie ein größeres Krankenhaus und einen größeren Aufenthaltsraum für Frauen und Kinder.“ Lorenz zufolge könnte die große Deckfläche aber auch eine neue Herausforderung werden: „Bei der ‚Sea-Watch 3‘ waren das zwei Decks. Wie wird sich eine einzelne, große Menschenmenge verhalten?“
Bei der Übung hat die Crew die Menge auf jeden Fall gut im Griff. Als die Glocken für die Evakuierung klingeln, macht Lorenz Ansagen durch das Megafon und beruhigt: „Es gibt ein Feuer im Maschinenraum, die Crew kümmert sich und wir warten nun auf weitere Informationen.“ Schnell ziehen sich alle die verteilten Rettungswesten über und stellen sich in Reihen auf.
Die Übung ist neu für die Besatzung – und irgendwie auch nicht, wie Lorenz sagt: „Was wir bei der Evakuierung gemacht haben, machen wir ja sonst umgekehrt: Leute schnell an Bord nehmen. Das ist absolut lebenswichtig für jede Rettung.“ Rechtlich ist die Übung nicht verpflichtend. „In der Vergangenheit hatten wir oft größere Personengruppen an Bord, darum haben wir uns aus Sicherheitsgründen entschieden, die Übung durchzuführen“, sagt Oliver Kulikowski, Sprecher von Sea-Watch.
An der Ausstattung und an der Sicherheit des Schiffes sollte ohnehin nichts sein, was kritisiert werden könnte, nicht nur aus Sicherheitsgründen, sagt Kulikowski: „In letzter Zeit wurden wir im Einsatz auf dem Mittelmeer vermehrt von Behörden festgesetzt.“ Das sei zwar auch politisch motiviert gewesen, „aber in solchen Fällen geht es auch darum, den Behörden möglichst keine Angriffsfläche zu geben“.
Die gesamte Evakuierung klappt – sogar acht Minuten unter der geplanten Zeit. Eine Gruppe wird auf ein Ponton und ein Rettungsfloß geleitet, die andere über die Gangway zurück auf die Kaimauer, auf aufgemalte Rettungsinseln. Der Regen prasselt erneut los. Hier können jetzt alle nach rund vier Stunden wieder ins trockene Zuhause. Es bleibt allen wohl nicht einmal ein vages Gefühl davon, wie es ist, Tage auf dem Schiff zu warten.
Auf der „Sea-Watch 5“ müssen letzte Arbeiten noch beendet werden, dann soll sie in den nächsten Monaten zu ihrem ersten Einsatz im Mittelmeer ablegen. Lorenz wird wieder dabei sein: „Gerade jetzt loszufahren und sich von den Entwicklungen in Italien und Europa nicht einschüchtern zu lassen, ist ein extrem wichtiges Symbol gegen die gesamte erstarkende Rechte.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag