Neues Buch von Can Xue: Zikaden im Schnee
Experimentell: Die chinesische Schriftstellerin Can Xue umkreist in „Schattenvolk“ existenzielle Fragen, die sich Mensch und Tier gleichermaßen stellen.
Wie würden Sie einem Tier die Funktionsweise eines Arbeitslagers erklären? Mit welchen Worten die Existenz von Großraumbüros rechtfertigen? Irgendwo zwischen einem Satz und einem Tierlaut dürfte es bei „Angst“, bei „Ohnmacht“ Schnittmengen geben. Etwas Unheimliches ist zweifellos im Gange, dem das neugierige Elsterpaar in Can Xues Erzählung „In der Nachbarschaft von Menschen“ beiwohnt. Doch so richtig schlau wird es nicht aus seinen neuen Nachbarn, die reihenweise Häuser bauen, Löcher graben und sich schließlich kampflos dem Flammentod ergeben.
Trauen kann man der Handlung bei Can Xue allerdings ohnehin nicht: Was in den Geschichten von „Schattenvolk“ eben noch feststand, ist im nächsten Moment schon Nebel geworden. Dass es in einem Slum kaum Privatsphäre gibt, verdeutlicht Can Xue anhand seiner durchsichtigen Bewohner:innen, die in durchsichtigen Häusern leben und nachts im Traum miteinander sprechen. Nur die Kinder schlafen nicht, sondern laufen draußen herum, bis sie vor Kälte einfach erstarren: „Ihre Eltern kommen erst im Morgengrauen, um sie einzusammeln.“
Erzählt werden die „Geschichten aus dem Slum“ von einem Nagetier, etwas zwischen Ratte und Maus, das auf die Gnade der Hausbewohner:innen angewiesen ist und schließlich in einem Tunnel unter dem Slum zwischen kleineren Tieren landet, die für einen Mann sklavisch graben.
Als dem Tier böswillig Verbrennungen zugefügt werden, erinnert sein torkelndes Selbstgespräch nicht zuletzt an den verletzten Hund aus Michail Bulgakows „Hundeherz“, der jedoch im Gegensatz zur Slumratte mit einer Menschwerdung belohnt wird.
Beeinflusst von Kafka und Borges
Can Xue nimmt erklärtermaßen bei westlichen Autor:innen Einfluss, verehrt Jorge Luis Borges und Franz Kafka. Letzterer schimmert im Nagerartigen, im Kriechenden immer wieder durch; allerdings eher motivisch denn sprachlich. Dafür verweigert sich die Autorin zu oft jeglicher Stringenz, was ihrer Arbeitsweise zulasten zulegen ist.
Can Xue: „Schattenvolk“. Aus dem Chinesischen von Eva Schestag. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2024, 366 Seiten, 26 Euro
Can Xue ist Vertreterin der „écriture automatique“ und schreibt jeden Tag eine gewisse Anzahl von Sätzen, die ungefiltert aufs Papier fließen. Und auch so stehenbleiben, denn wo Virginia Woolf in ihrer Schreibroutine täglich Stunden für die Revision des Geschrieben einplante, vertraut Can Xue ganz auf ihr Unbewusstes.
Das klappt mitunter weniger gut, etwa wenn sich das surreale Moment allzu sehr anhand der Raumstrukturen offenbart, die sich pro Seite mindestens einmal auflösen. Doch wie „die alte Zikade“ sich aus Neugier auf die Lust im Sterben in einen Kampf mit einer Spinne stürzt, den keiner so ganz überlebt, ist wiederum so grandios, dass es die Leserin versöhnlich auf die traumtastende Xue’sche Glaubenslehre blicken lässt. Wo gehobelt wird, fallen eben Späne.
Sprichwörter und Metaphern sucht man in „Schattenvolk“ übrigens vergebens – was ungewöhnlich ist für die sehr metaphernreiche chinesische Sprache. Dabei hat sich die Autorin, die 1953 in Changsha als Deng Xiaohua zur Welt kam, ein mehr als doppeldeutiges Pseudonym erwählt: Can Xue bezeichnet sowohl schmutzigen Schnee, der schmilzt, als auch reinen Schnee auf einem Berggipfel.
Die Schwierigkeit, aus dem Chinesischen zu übersetzen, das keine grammatikalischen Zeitformen, keine Konjugationen und Deklinationen kennt und dessen Schriftzeichen keine Laute, sondern Ideen darstellen, offenbart sich so bereits auf dem Buchumschlag.
Heikles kommt zur Sprache
Mit dem von Eva Schestag übersetzten „Schattenvolk“ ist nun das dritte Buch aus dem umfangreichen Œuvre Can Xues auf Deutsch erschienen. Dass sich auch mit einer radikalen Experimentalprogrammatik Romane schreiben lassen, hat Can Xue in „Liebe im neuen Jahrtausend“ bewiesen.
Zwar tauchen auch hier Personen auf und wieder ab, folgt Vergangenheit auf noch nicht Geschehenes, doch mutet wirklich surreal eigentlich nur das Fehlen von List und Hintersinn im Sprechen der Figuren an. Liebesgeständnisse kommen freigiebig über die Lippen, auch Polizisten geben rundheraus zu, die im Mittelpunkt des Romans stehenden Prostituierten attraktiv zu finden – obwohl Prostitution in China illegal ist.
Das scheint jedoch keine Rolle zu spielen. Auch in „Schattenvolk“ kommt Heikles zur Sprache, wie in der titelgebenden Erzählung, die auf Überwachung anspielt. Armut und dem Bauboom geschuldete Verdrängung spielen stets eine Rolle. Can Xue umschreibt das Leben von Außenseitern, von Randständigen, die gar nicht auf die Idee kommen, für ihre Misere einen Schuldigen zu suchen.
Ganz fremd dürfte ihr das Aussätzige nicht sein, wuchs Can Xue doch bei ihrer Großmutter auf, nachdem ihre Eltern als politisch zu weit rechts stehend von der Mao-Regierung zur Zwangsarbeit aufs Land geschickt wurden. Can Xue lernte das Schneiderhandwerk und begann die Schriftstellerei, die sie schließlich zu einer der bedeutendsten Avantgarde-Autor:innen Chinas machte, erst als über 30-Jährige.
Can Xue schöpft aus dem Unbewussten
Mit Schnittmustern, „Blumenkränzen“, vergleicht Can Xue ihre Schreibweise denn auch selbst. Vielleicht geben ihre Erzählungen am ehesten den Zustand von Gedanken wieder, bevor sie Sprache werden: schwerelos, abgebrochen. Can Xue, aus dem Unbewussten schöpfend, agiert im über- wie untersprachlichen Bereich. Oft genug sprechen ihre Protagonist:innen denn auch gar nicht. In der Übersetzung von Tier zu Mensch muss zwangsläufig einiges verloren gehen, obwohl man der schreibenden Can Xue zutraut, dass sie jegliche Tiersprachen fließend spricht.
Das Unerwartete wird in „Schattenvolk“ erwartbar, eher früher als später begegnen alle Protagonist:innen irgendwann Übersinnlichem. Vom Alltag im Absurden will Can Xue allerdings nicht erzählen, ihr geht es vor allem um das Wundern, um das Gefühl, als Einzige nicht Bescheid zu wissen. Wo das zwischenweltliche Sumpfgebiet liegt zum Beispiel oder warum die neue Mieterin in Zhou Yizhens Haus deren Leben nachbaut.
In unserer modernen Welt, in der die meisten Zeichen ihren Referenzwert verloren haben, macht Can Xue vor, wie sich Bedeutung in Bedeutungslosigkeit finden lässt.
Wenn der rumänische Nihilist und Philosoph E. M. Cioran davon spricht, dass wir kein Problem damit haben, anzuerkennen, dass das All keinen Sinn hat, gegen unsere eigene vermeintliche Sinnlosigkeit jedoch heftig protestieren, beschreibt er damit den Überlebenswillen, den Menschen wie Zikaden in sich spüren. Zumindest für gewöhnlich. Vielleicht ist es das, was Can Xue so meisterhaft betreibt: uns die Auflösung als eine vergnügliche Sache zu verkaufen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Wissenschaftlerin über Ossis und Wessis
„Im Osten gibt es falsche Erwartungen an die Demokratie“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!