Neuer tunesischer Präsident: Authentisch, stoisch, Opel-Fahrer
Kaïs Saïed hat voraussichtlich die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Der Verfassungsrechtler war als klarer Außenseiter in den Wahlkampf gegangen.

Dabei war der stoische 61-jährige mit den unbewegten Gesichtszügen bisher nur politischen Aktivisten ein Begriff. Bei der ersten TV-Debatte in der arabischen Welt fiel der aus einer Juristenfamilie stammende Saïed mit für viele Tunesier schwer zu verstehendem Hocharabisch auf. Seine monotone Sprechweise und sein Plan, gegen Korruption vorzugehen, brachten ihm den Spitznamen „Robocop“ ein.
Dennoch hat der politische Quereinsteiger die gesamte politische Elite Tunesiens mit seiner authentischen Art hinweggefegt. Am Sonntagabend zogen Tausende Tunesier aus allen sozialen Schichten mit revolutionären Parolen friedlich durch Tunis.
In seiner „Erläuterungskampagne“ vor den Wahlen warb Saïed für ein neues Regierungsmodell auf den Fundamenten von lokalem Bürgerengagement und der Dezentralisierung des politischen Systems. Diesmal solle die Revolution innerhalb der bestehenden Gesetze ablaufen, betont Saïed wie immer nüchtern und unaufgeregt.
Mischung aus Unglauben und Euphorie
Nach der Revolution hatte der Rechtsdozent an der vor drei Jahren verabschiedeten Verfassung mitgearbeitet. Seine Universitätsseminare setzte er am Wochenende informell fort. Mit dem Sammeltaxi oder mit seinem Opel fuhr er zu Diskussionsabenden in Kleinstädten, wo sich Politiker eigentlich nie blicken lassen und wo sich nach 2011 nicht viel geändert hat.
Seine ehemaligen Studenten berichten, dass er als Professor gerecht und authentisch gewesen sei, das reicht in dem von Alltagskorruption zerrütteten Tunesien als Projektionsfläche für bessere Zeiten. Noch vor vier Jahren lehnte Saïed eine Präsidentschaftskandidatur wegen seiner Aversion gegen die Machtspiele im Präsidentenpalast ab. Die akute Wirtschaftskrise bewog ihn, so sagte er, dieses Mal anzutreten.
Auf den Straßen von Tunis herrscht eine Mischung aus Unglauben und Euphorie, dass ein anscheinend uneigennütziges Freiwilligenteam in den Präsidentenpalast einzieht. Säkuläre Tunesier sehen die Mischung aus ultralinken und religiösen Aktivisten, die Saïed umgeben, kritisch. Die Strafbarkeit von Homosexualität sowie die Todesstrafe will er beibehalten.
Kaïs Saïed weiß, dass seine „Echab Yourid“-Kampagne („Das Volk will“) erst am Anfang steht. Als der Sieg feststand, setzte er sich für die Medien an seinen leeren Schreibtisch und sagte leise: „Ich spüre eine riesige Verantwortung. Wir dürfen nicht scheitern.“
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Emotionen und politische Realität
Raus aus dem postfaktischen Regieren!
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart