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Zitat: „Kaïs Saïed ist [...] ein gestandener Konservativer, der sich weder für die Rechte der Frauen noch für die Rechte von Minderheiten starkmacht. Um so mehr wundert es, dass immerhin 73 Prozent der wählenden Frauen für ihn gestimmt haben.“
Okay. Die Ressortleiterin Sport, Wahrheit, Reise und Wissenschaft der taz scheint es also zu wundern, dass tunesische Frauen für einen Mann gestimmt haben, der sich weder für die Rechte der Frauen noch für die Rechte von Minderheiten starkmacht, dafür aber als integer, ehrlich und sozial gilt. Das wundert mich.
Der Mensch als solcher hat einen Hang zur Priorität. Er befriedigt sein jeweils dringendstes Bedürfnis (fast) immer zuerst. Hält er es also für besonders dringlich, eitle, inkompetente und heuchlerische Politiker bzw. Islamisten los zu werden, die der unbedingte Wille zur Macht eint, weil sie sich dringend selbst bereichern müssen, dann kann so etwas wie diese Wahl schon mal passieren.
Allen anders lautenden Gerüchten zum Trotz sind Identitätsfragen nicht für alle Menschen zentral. Sie sind ein Hauptproblem derer, die keine ernsteren Probleme haben. Man kann das ignorieren als Zeitungsmacher. Man darf sich bloß nicht öffentlich wundern, wenn es Konsequenzen hat. Man macht sich nämlich sonst lächerlich.
Apropos: In Thüringen wirbt kurz vor der Landtagswahl fast jeder damit, dass er Schulen anders machen will. Die CDU stellt sich dabei besonders dämlich an. Sie hat plakatieren lassen: „Mehr Lehrer, als unseren Schülern lieb ist“. Die Thüringer Christdemokraten wollen also „mehr Lehrer“, keine besseren – und Schüler ärgern.
Dass Thüringer Schüler womöglich lieber und also erfolgreicher lernen würden, wären die (verfügbaren) Lehrer kompetenter, können sich CDU-Strategen offenbar nicht vorstellen – und ihre Wähler auch nicht. Aber gut: Wenn Schüler irgendwann ganz abschalten, ist das Ziel „der CDU“ vielleicht erreicht: Wer dumm bleibt, lässt sich leichter manipulieren.
Langzeitarbeitslose, die einen Job finden und ein Jahr lang ausüben, sollen 1000 Euro bekommen. Das hat das Bundeskabinett beschlossen, trotzdem gibt es Kritik.
Kaïs Saïed gewinnt Wahl in Tunesien: Hoffen auf eine soziale Revolution
Tunesien hat mit großer Mehrheit einen konservativen Puristen zum Präsidenten gewählt. Das Land hat genug von eitlen Politikern und heuchlerischen Islamisten.
Außenseiter for president: Der parteilose Verfassungsrechtler Kaïs Saïed bekam die meisten Stimmen Foto: dpa
Ein Außenseiter wird der nächste Präsident Tunesiens. Der parteilose Verfassungsrechtler Kaïs Saïed bekommt nach Angaben des Meinungsforschungsunternehmens Sigma Conseil 77 Prozent der Stimmen. Der 61-Jährige wurde am Sonntag vor allem von jungen Tunesier*innen und Akademiker*innen gewählt. 90 Prozent der Jugendlichen zwischen 18 und 25 Jahren und 86 Prozent der Akademiker, die ihre Stimmen abgaben, wählten ihn. Er absolvierte seinen Wahlkampf ohne großes Kampagnenteam und ohne Unterstützung einer eigenen Partei. In Fernsehdiskussion schnitt der hocharabisch sprechende Kandidat überlegen ab. Ein Purist.
Die Sehnsucht danach ist groß: Man hat genug von eitlen Politikern, heuchlerischen Islamisten, von Bereicherung, Inkompetenz, dem unbedingten Willen zur Macht. Kaïs Saïed gilt als integer, ehrlich und sozial. Unter anderem fordert er neue politische Beteiligungsmodelle von unten und eine Dezentralisierung der politischen Macht. All das macht ihn für Jugendliche, aber auch Linke attraktiv. Kaïs Saïed ist aber auch ein gestandener Konservativer, der sich weder für die Rechte der Frauen noch für die Rechte von Minderheiten starkmacht. Um so mehr wundert es, dass immerhin 73 Prozent der wählenden Frauen für ihn gestimmt haben.
Es ist unübersehbar: Die soziale Frage bestimmt die Wahlen in Tunesien. Und sie verlangt radikale Änderungen, neue Ansätze. Tunesien kämpft mit großen wirtschaftlichen Problemen, Arbeitslosigkeit, Inflation. Die meisten Jugendlichen würden das Land lieber heute als morgen verlassen. Radikale Reformen, Veränderung, Gerechtigkeit – all das verkörpert der Verlierer der Präsidentschaftswahl, der Medienunternehmer Nabil Karoui am allerwenigsten, auch wenn er als der moderne Liberale gilt. Karoui saß bis Mitte vergangener Woche noch wegen des Verdachts auf Steuerhinterziehung und Geldwäsche in Untersuchungshaft. Mit seinem Privatsender Nessma machte er aggressiven Wahlkampf und tat sich vor allem lautstark mit Spenden für die Armen hervor.
Der Ruf nach dem starken Mann, der es richten soll, ist ein Reflex aus Zeiten der Diktatur
Doch von Charity haben die Tunesier genug. Sie wollen eine Zukunft und Perspektiven. Bei der Parlamentswahl in der vergangenen Woche wurde die islamistische Ennadha mit 52 der insgesamt 217 Sitze zwar stärkste Partei, aber sie hat sehr viel an an Zuspruch eingebüßt und ist von einer regierungsfähigen Mehrheit weit entfernt. Die bisher regierende Partei Nida Tounes verschwand ganz von der Bildfläche. Sie wurde als Partei der Mitte durch die von Präsidentschaftskandidat Karoui neu gegründete Partei „Kalb Tounes“ (Herz von Tunesien) ersetzt.
Die Wahlbeteiligung bei der Präsidentenwahl am Sonntag war mit 58 Prozent weit höher als bei der Parlamentswahl letzte Woche mit nur 41 Prozent. Dabei wird die Politik des Landes vom Parlament und nicht vom Präsidenten gemacht. Grund dafür mag die Unübersichtlichkeit der Parteienlandschaft bei den Parlamentswahlen gewesen sein. Möglicherweise ist das aber auch noch ein Reflex aus den Zeiten der 2011 abgeschafften Diktatur: der Ruf nach dem starken Mann, der es richten soll, da die junge Demokratie in den Untiefen der politischen Arbeit zu versacken droht und an den gesellschaftlichen und sozialen Herausforderungen scheitert.
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Zehn Jahre Arabischer Frühling
Kommentar von
Edith Kresta
Redakteurin
Schwerpunkte: Reise und Interkulturelles. Alttazzlerin mit Gang durch die Institutionen als Nachrichtenredakteurin, Korrespondentin und Seitenverantwortliche. Politologin und Germanistin mit immer noch großer Lust am Reisen.
Themen
Das Dossier
Auch Jahre nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ reißen die Massenproteste nicht ab. Ein ganzes Jahrzehnt ist tief durch die Arabellion geprägt. Im Schwerpunkt-Dossier „Zehn Jahre Arabischer Frühling“ berichten taz-Korrespondent*innen und Gastautor*innen aus den Umbruchsländern vom Maghreb über Nordafrika bis nach Syrien, den ganzen Nahen Osten und die arabische Halbinsel.