piwik no script img

Neuer Streit um BrexitIn Brüssel schrillen Alarmglocken

Erst drohte Großbritannien, jetzt die EU. Die Verhandlungen über ein Brexit-Handelsabkommen könnten doch noch scheitern.

Eine „harte Grenze“ zwischen der Republik Irland und Nordirland wollen auch die Anwohner verhindern Foto: Matthias Graben/imagebroker/imago

Brüssel taz | Die EU-Kommission hat Großbritannien davor gewarnt, den 2019 ausgehandelten Brexit-Vertrag infrage zu stellen und die darin enthaltenen Vereinbarungen zu Irland zu ignorieren. Indirekt droht Brüssel London sogar mit einem Abbruch der laufenden Verhandlungen über ein Handelsabkommen.

Die „volle Umsetzung“ des Austrittsvertrags sei „eine Vorbedingung“ für die Fortsetzung der Gespräche, erklärte ein EU-Sprecher am Montag in Brüssel. „Alles, was unterschrieben wurde, muss respektiert werden“, sagte Chefunterhändler Michel Barnier. Sogar Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schaltete sich ein. Das Irland-Protokoll sei wichtig für den Erhalt des Friedens und des Binnenmarkts, teilte sie mit.

Zuvor war bekannt geworden, dass die britische Regierung ein Gesetz plant, das dem Austrittsvertrag widerspricht. Laut Financial Times würde das sogenannte Binnenmarktgesetz die Zusagen zu Irland und Nordirland teilweise aushebeln.

Der Bericht ließ in Brüssel die Alarmglocken schrillen, denn er rührt an einen wunden Punkt: Das zu Großbritannien gehörige Nordirland war von Anfang an ein Stolperstein in den Brexit-Verhandlungen. Brüssel will verhindern, dass eine „harte Grenze“ zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland entsteht. Deshalb war zunächst geplant, dass Großbritannien bis zu einem Handelsabkommen in der Zollunion mit der EU bleibt.

Dieser sogenannte „Backstop“ hätte eine Grenze unnötig gemacht, da sowohl in Irland als auch in Nordirland dieselben (europäischen) Handelsregeln gegolten hätten. Der britische Premier Boris Johnson lehnte das jedoch vehement ab. Nach Gesprächen mit der irischen Regierung fand Johnson im vergangenen Herbst eine andere Lösung.

Sie sieht vor, dass in Nordirland ein spezielles Zollregime eingeführt wird, bei dem formal die britischen, de facto aber die europäischen Regeln gelten. Die Kontrolle liegt allerdings bei London. Johnson setzte zudem durch, dass Nordirland den Deal nach vier Jahren kündigen kann. Damit war der Weg für das Brexit-Abkommen frei, Großbritannien trat im Januar aus der EU aus.

Johnson beschwichtigt

Seither verhandeln die beiden Seiten über die künftigen Beziehungen und einen Handelsvertrag. Doch die Gespräche treten auf der Stelle, London droht mit einem „No Deal“. Die Sorge in Brüssel ist, dass sich Johnson auch aus den mühsam gefundenen Vereinbarungen für Irland herausstehlen könnte.

Laut Financial Times will er britische Staatshilfen für Nordirland ermöglichen und Auflagen für nordirische Unternehmen beim Transport von Waren in das Vereinigte Königreich lockern. Beides widerspräche dem Austrittsabkommen. Für die EU ist dieses Abkommen jedoch die unverzichtbare Grundlage für die laufenden Verhandlungen.

Entsprechend groß ist die Aufregung in Brüssel. Der Fraktionschef der Konservativen im EU-Parlament, Manfred Weber (CSU), warf Johnson vor, Nordirland „erneut als Geisel zu nehmen“. Der Linken-Politiker Martin Schirdewan, Mitglied in der Brexit-Koordinierungsgruppe des Parlaments, fordert sogar den Abbruch der Verhandlungen. Es wäre ein „unheimlicher Affront“, wenn Johnson einen internationalen Vertrag, also das Austrittsabkommen, brechen sollte, sagte Schirdewan der taz. Beim nächsten Treffen der Brexit-Koordinierungsgruppe am Freitag müsse man über eine EU-Reaktion nachdenken. Bei einem Vertragsbruch könne es kein neues Abkommen geben.

Johnson versucht indes zu beschwichtigen: Die Regierung bleibe den Abmachungen über das Ausscheiden aus der EU sowie den Festlegungen bezüglich Irlands verpflichtet, erklärte ein Regierungssprecher am Montag.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
  • Lasst sie gehen, sie kommen zurück. Und das vor dem Hintergund der absehbaren Doppelbelastung der britishen Wirtschaft durch Corona und No-Deal wahrscheinlich schneller als gedacht. Die Verhandlungsposition der EU wird deutlich besser sein wenn die Wirtschaft am Abgrund und Schottland kurz vor der Abspaltung steht, als jetzt wo man versucht Johnson ein Abkommen um fast jeden Preis schmackhaft zu machen.

  • Lasst die Verhandlungen bitte scheitern! 😊 Wen schmerzt es einen No-Deal mehr? Ohne Frage die UK. Ich respektiere den Wunsch der Bürger aus der EU auszutreten, wahr ist aber auch, dass Johnson und Co. schamlos Lügen und haltlose Behauptungen aufgestellt haben, um den Bürgern in Großbritannien den Austritt schmackhaft zu machen, deshalb soll die politische Elite jetzt bitte auch die Suppe auslöffeln, die sie ihren Mitbürgern eingebrockt haben. Ich halte einen No-Deal für absolut wünschenswert und folgerichtig.

    • @jonathan schulze:

      vollkommen richtig. Auch für die EU hat der NoDeal ja nicht nur Nachteile!

      Schon komisch - eigentlich sollte das Interesse der UK an einem Deal größer sein wie das der EU. Uns wird die IRA nicht die Hölle auf Erden bereiten...

    • @jonathan schulze:

      Die Nordiren wollten den Brexit nicht und würden am meisten unter einem no-Deal Brexit leiden. Das Brüssel versucht, dies zu verhindern, ist nur vernünftig.

  • Was heißt denn hier „Verhandlungen .....könnten doch noch scheitern“? Boris Johnson hat doch von Anfang an immer klargestellt, dass er an einem Austrittsvertrag, der nicht zu seinen Bedingungen aufgesetzt ist, keinerlei Interesse hat. Man fragt sich doch schon länger, warum weiterhin so getan wird, als gäbe es da noch irgendetwas zu verhandeln. Was sollte das denn jetzt noch ernsthaft sein?