Neuer Roman von Marion Poschmann: Nichts ist dem Zufall überlassen

Wo die Vernunft nicht weiterweiß, kann vielleicht der Mythos helfen. Schwindelerregend erzählt Marion Poschmann den Roman „Chor der Erinnyen“.

Der Rauch eines Waldbrandes verdeckt die Sonne

„… und der ganze Wald würde in Flammen aufgehen“, sinniert sie Foto: Christian Mang/reuters

Drei Frauen unternehmen eine Wanderung durch einen trockenheißen Wald. Mathilda, Birte und Olivia kennen sich gut, mögen sich aber nicht. Neidisch schaut jede von ihnen auf die Lebensentwürfe der anderen. Dabei sind sie alle drei nicht glücklich, haben Probleme in der Ehe, mit der Tochter oder im Beruf. Sie könnten sich gegenseitig unterstützen, stattdessen machen sie sich das Leben zur Hölle.

Plötzlich überqueren zwei Männer eine Lichtung. Im Schnellschritt! Mathilda denkt: „Managertypen, Firmeninhaber, Klimavernichter.“ Vielleicht ein Vorurteil, auf jeden Fall ist sie von den durchtrainierten Körpern in synthetischer Sportkleidung abgestoßen. Olivia aber nimmt die Kerle mit in ihr Forsthaus. Was Birte freut und Mathilda wütend macht. Eigentlich wollte sie das Wochenende nur mit Olivia verbringen. Schon Birte war außerplanmäßig mitgekommen.

Marion Poschmann: „Chor der Erinnyen“. Suhrkamp, Berlin 2023, 191 Seiten, 23 Euro

Deshalb trinkt Mathilda „mehr als sonst, weil sie den Männern nicht die gesamten Vorräte überlassen wollte“. Sie nennt es eine „Vernichtung von Rotwein aus dem Impuls der Missgunst“. Wie eine Furie, sagt der frauenfeindliche Volksmund. Aber vielleicht ist Mathilda ja wirklich eine Rachegöttin, und zwar nicht nur im übertragenen Sinn.

Eigentlich bevorzugt die Hauptfigur in Marion Poschmanns Roman „Chor der Erinnyen“ einen gemäßigten, man könnte auch sagen: ziemlich rationalen Umgang mit allem und jedem. Mathilda arbeitet als Mathe- und Musiklehrerin. Zu den Schülerinnen und Schülern pflegt sie ein distanziertes Verhältnis. Sie möchte vor allem eine Autorität sein, die Wissen vermittelt. Ihre hohen Ansprüche gelten für Mathilda auch in anderen Lebensbereichen. Was nicht eindeutig und exakt ist, versucht sie aus dem Alltag zu verbannen.

So hat sie auch seit Jahren nichts mehr in ihr Tagebuch geschrieben, weil ihr die schwungvollen, zunehmend krakeligen Buchstaben auf Papier nicht geheuer waren. „In ihren Fächern Musik und Mathematik musste sie nicht sonderlich viel schreiben, die Korrekturen erforderten eher Ziffern und Symbole als Worte und Sätze, und es gab richtige und falsche Lösungen, keine Halbheiten, keine Ambivalenz.“

Unerwartete Störung

Mit genau solchen Ambivalenzen aber wird sich Mathilda nun häufiger beschäftigen müssen. Es beginnt damit, dass ihr Ehemann plötzlich verschwindet. Sie meint, mit ihm stets in „ruhiger, unauffälliger Harmonie“ gelebt zu haben. Doch jetzt ist er ohne Erklärung „aus dem Haus gegangen und nicht mehr zurückgekommen“. Die Verlassene redet sich tagelang ein, der Gatte werde schon bald wieder auftauchen.

Doch nicht nur die eheliche Ordnung ist auf mysteriöse Weise gestört. Birte, ihre hämische Kameradin aus ­Kindertagen, steht zunächst als Vision, dann leibhaftig vor der Tür.

Seit Jahren haben sich die beiden nicht mehr gesehen, doch Mathilda scheint den überraschenden Besuch vorausgeahnt zu haben. Sie hört nun immer häufiger geisterhafte Stimmen, ist mit geflügelten Frauen aus mythischen Erzählungen konfrontiert. Wird das Unvorstellbare real? Für eine Verfechterin der reinen Vernunft ein existenzielles Problem.

Die Protagonistin könnte alte Gewissheiten aufgeben, dennoch versucht sie, die unerklärbaren Phänomene zu rationalisieren: „Spukhafte Fernwirkung galt in der Quantentheorie als gesichert. Zwei Teilchen kommunizierten über ungeheuerliche Entfernungen miteinander und verhielten sich aufeinander bezogen, obgleich so etwas räumlich nicht möglich war, es sei denn, man gab das Lokalitätsprinzip vollständig auf. Mathilda hatte es augenblicklich eingeleuchtet.“

Marion Poschmann erzählt mit nahezu akademischer Akribie vom Unheimlichen. Dabei ist ihr Roman als eine Art „Dialektik der Aufklärung“ angelegt, wie sie die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrem gleichnamigen Werk beschrieben haben. Der Grundgedanke besteht darin, dass im historischen Mythos auch eine Vernunfterzählung steckt und dass radikalisierte Aufklärung wiederum mythische Muster und irrationale Gesellschaftsverhältnisse hervorbringt.

Mathilda ist ein literarisches Musterbeispiel für dieses Denkmodell, nur eben in anderer Reihenfolge: Gerade die strenge Rationalistin Mathilda wird Kräfte entdecken, die nicht mit wissenschaftlichen Formeln zu erklären sind.

Ihre Fähigkeiten, die Mathilda aus der Mythologie durchaus bekannt sind, stellen nicht zuletzt wegen der zerstörerischen Machtfülle eine große Gefahr dar, können aber auch Momente der Aufklärung enthalten. Die ambitionierte Musiklehrerin jedenfalls begreift allmählich, was mit ihr geschieht, und meint nun selbst beim Konzert ihrer Schülerinnen einen „grauenerregenden Chor der Erinnyen“ zu hören.

Der Tod ist allgegenwärtig

Die griechische Mythologie bleibt nicht nur kultureller Echoraum in Poschmanns Prosa. Die Romanhandlung, die anfangs eher unspektakulär verläuft, steuert auf eine sagenhafte Eskalation hinaus, auf ein tödliches Inferno. Nichts ist dem Zufall überlassen in Poschmanns Prosa, selbst kleinere Verweise fügen sich nun in den bildstarken Gesamttext. Olivia etwa ist Expertin für Sepulkralkultur. Durchaus passend, wurden die Erinnyen in der Antike nicht nur als Kämpferinnen der matriarchalen Macht verstanden, sondern auch als Hüterinnen des Totenkults verehrt.

Der Tod ist ohnehin allgegenwärtig in diesem Buch. Die Menschen bedrohen sich gegenseitig, doch vor allem scheint die Natur abzusterben. Der menschengemachte Klimawandel, Ausdruck eines falschen Verständnisses von herrschender Aufklärungs- und Ausbeutungslogik, wird schon bald zu einer Katastrophe mythischen Ausmaßes führen. Soll Mathilda, gewissermaßen mit der seherischen Kraft der spukhaften Fernwirkung, den Todesengel spielen? „Ein Funke“, sinniert sie, „und der ganze Wald würde in Flammen aufgehen.“

Vieles wird in Poschmanns Roman nur angedeutet, manches bleibt rätselhaft, auch weil die Übergänge der verschiedenen Erzählebenen ansatzlos sind: Visionen wechseln sich mit hyperpräzisen Naturschilderungen ab. Aus inneren Monologen entwickeln sich mysteriöse Chorgesänge.

Der Roman, der sich gegen eine Tradition der extremen und naturvernichtenden Vernunft wendet, spielt stilbewusst mit inhaltlichen Unklarheiten: Welche Rolle nimmt überhaupt Mathildas Mutter in dem familiären Beziehungsgeflecht ein? Was ist mit Schwester Roswita, die zeitweilig nervenkrank in der Klinik liegt? Woher kommen Mathildas Schuldgefühle, die sie seit Kindertagen plagen?

Beschädigte Weiblichkeit

Dabei eint alle Charaktere ein stupendes Unvermögen, friedlich und sinnerfüllt zusammenzuleben. Das betrifft in diesem Roman vor allem die Frauenfiguren. So ist „Chor der Erinnyen“ auch als Parabel auf eine Weiblichkeit zu lesen, die über Generationen hinweg beschädigt, nämlich von männlicher Logik definiert wurde. In so gut wie allen Epochen der Menschheit, in der Malerei und in der Literatur, in der Religion und in den unterschiedlichsten gesellschaftlich-politischen Zusammenhängen wurde Frauen nämlich unterstellt, sie seien entweder Heilige oder Megären, Furien, Hysterikerinnen, Erinnyen.

In Poschmanns Roman übt Mathilda stellvertretend für die Verschmähten nun Rache für diese Verleumdungen, indem sie ihr zugewiesenes Schicksal annimmt: „Ja, sie strahlte etwas aus, was anderen unangenehm war. Man begann sie zu meiden, ein Fluch lag auf ihr, eine Schuld, mit der niemand in Berührung kommen wollte, eine Gewalt, die ihr Umfeld irritierte.“

Poschmanns Bücher, die mit mythologischen Erzählungen, Erkenntnissen aus der Klimaforschung, Analysen der Philosophie und Psychologie sowie Erfahrungen mit fernen Kulturen gleichermaßen arbeiten, lassen sich tatsächlich als Werke einer anderen, herrschaftsfreien Aufklärung lesen.

Im „Chor der Erinnyen“ bringt die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin zudem Gedanken und Stilformen ihrer Lyrik ein. Zwischen poetischer und prosaischer Sprache changierend, hat sie ein schwindelerregendes Werk über fatale Vernunft, mythische Geschlechterrollen und die tödliche Logik der Naturzerstörung geschrieben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.