Neuer Roman von Elena Ferrante: Genau so wollte sie es machen
In „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ porträtiert Elena Ferrante eine fragile familiäre Idylle. Der Roman lässt formale Risiken vermissen.
„Zwei Jahre bevor mein Vater von zu Hause wegging, sagte er zu meiner Mutter, ich sei sehr hässlich.“
Elena Ferrante, Autorin der neapolitanischen Erfolgssaga „Meine geniale Freundin“, borgte sich den ersten Satz ihres neuen Romans „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ bei keiner Geringeren als Madame Bovary: „Es ist seltsam“, ließ Flaubert seine Protagonistin Emma Bovary mit Blick auf ihre Tochter Berthe denken, „wie hässlich dieses Kind ist!“
Madame Bovary, eine der berühmtesten Frauenfiguren der Literatur, erschaffen von einem Mann, schreit förmlich nach der Frage: Hätte ein so unsäglicher, in seiner Wirkung bis heute seinesgleichen suchender Satz auch von einer Frau stammen können? Oder waren, sind, bis heute, einzig Schriftsteller in der Lage, ihre literarischen Frauenfiguren Dinge sagen zu lassen, die Frauen denken, sagen, in der Realität leben, in ihrer ganzen ungeschönten Brutalität jedoch niemals aufs Papier bringen würden?
Elena Ferrante, das zeigt auch ihr neuer Roman, hält nichts von Selbstzensur: Ihre zwölfjährige Protagonistin Giovanna überwacht sich, ohne sich überwachen zu lassen, masturbiert, mit oder ohne Freundinnen, erlebt erste sexuelle Gehversuche, ohne dass diese in der Lage wären, sie zu begeistern. Als der Junge, an den sie ihre Unschuld verliert, sagt: „Selbst schuld, das hätte man besser machen können“, antwortet ihm Giovanna: „Genau so wollte ich es machen.“
Furcht vor rohen Umgangsformen
Ferrante, dafür bekannt, die vielen (nach wie vor ungeschriebenen) Aspekte weiblicher Erfahrung zu kartografieren, legt den Flaubert’schen Eingangssatz ihres Romans, der Giovannas Leben von Grund auf erschüttert, in den Mund ihres Vaters: Seine Tochter, stellt dieser verdrießlich fest, gerate immer mehr nach ihrer Tante. Seiner Schwester, einer primitiven Jungfer, nie rausgekommen aus dem peripheren Neapel der Zona Industriale, die Art Tante, die auf Familienfotos ausgemerzt wird.
Für Giovanna, Ich-Erzählerin des Romans, markiert jener Satz das Ende ihrer unschuldigen Kindheit. Bei ihr zu Hause, in einer betuchten Gegend Neapels, fürchtet man die ungehobelten, verrohten Umgangsformeln der väterlichen Verwandtschaft. Vater Andrea hatte über den Rettungsanker der Bildung alles daran gesetzt, seiner ärmlichen Herkunft zu entfliehen. Seine Schwester Vittoria inkarniert all die Eigenschaften, die das gutbürgerliche Neapel verabscheut: Sie ist ungebildet und unkontrolliert, arm, hat das Herz auf der Zunge, spricht im Dialekt. Und löse, so schildert es Giovanna, in ihren Eltern „Angst“ und „Ekel“ aus.
Um jeden Preis gelte es, die unzivilisierte Tante von ihrer Tochter fernzuhalten. Doch die Worte ihres Vaters bewirken das genaue Gegenteil: Giovanna will sehen, wie das Gesicht und Leben ihrer Zukunft ausschaut.
Wie zwei verschiedene Städte
Sie besucht ihre Tante. Vom Rione Alto rund um den gutbürgerlich-gepflegten Vomero-Hügel geht es sowohl geografisch als auch sozioökonomisch bergab. Giovanna gewinnt den Eindruck, sie und ihre Verwandtschaft lebten „in zwei verschiedenen Städten“. Nach und nach tut sich ein anderes Neapel auf, dessen Bewohnerinnen und Bewohner womöglich einfacher, jedoch auch vielleicht ehrlicher sind.
Sie sprechen im Dialekt, den Giovanna nicht beherrscht und den Ferrante ihrer Leserschaft auch in diesem Roman vorenthält. Nicht jedoch ohne ihn unermüdlich zu erwähnen.
Mit dem Auftauchen ihrer Tante entgleiten Giovanna ihre Werte- und Wahrheitsanker: „Er“ [dein Vater], wird sie von Vittoria aufgeklärt, „hält sich für intelligent, aber das ist er nie gewesen. Ich bin intelligent, er ist bloß gerissen.“
Wie schon in der Vorgänger-Tetralogie kommt auch im neuen Roman das Intellektuellen-Profil nicht gut weg. „Ich bin nicht klug“, sagt Giovanna von sich selbst, „ich lese nur viele Romane.“ Und, wenige Sätze später: „statt eigener Worte fallen mir Sätze aus Büchern ein.“
Giovannas Mutter, Lehrerin und Lektorin von Liebesromanen, entpuppt sich als unfähig, ein erfülltes Leben ohne einen Mann an ihrer Seite zu imaginieren. Sie verliert nach dem Fortgang ihres Ehemanns – der eine andere, die Mutter von Giovannas Freundinnen Ida und Angela, liebt – sämtliche Lebenslust.
Der Preis für die Bildung
Gebildete, emanzipierte (Frauen-)Figuren in Ferrantes Romanen – wir erinnern uns an die emsige Elena, die trotz ihrer akademischen Anstrengungen Lila als die ihr Überlegene begreift, den ungerührten Langweiler Pietro, Nino, den fadenscheinigen Opportunisten – so bekommt man den Eindruck, haben durch ihr Streben nach Aufstieg und Anerkennung mehr verloren als gewonnen. Sie haben, in Giovannas Augen, die von „den vielen Stimmen des Vaters“ spricht, ihre Wahrhaftigkeit eingebüßt. Jene Form der Authentizität, die Ferrante im Dialekt verortet.
Giovanna ist angezogen von dieser Tante, die sie behandelt und mit ihr spricht wie eine Erwachsene. Sie findet in ihr Rohheit und Impulsivität genauso wie Herzlichkeit und Güte. Wohingegen die hyperkorrekten Sätze ihrer Eltern, ihr beherrschter Ton zunehmend klängen, „als würde jedes Wort eigentlich andere, wahrhaftigere Wörter verbergen“.
Elena Ferrante
Die familiäre Idylle entpuppt sich als fragil. Nicht nur entlarvt Giovanna die Konstruiertheit ihrer Umgebung, sie verweist auch unaufhörlich auf den fingierten Charakter der eigenen Geschichte: „Offen gesagt weiß ich nicht mehr, was wir gesprochen haben, doch ich möchte gerne erzählen, dass es folgendermaßen war.“
Ferrante, so scheint es, möchte ihre Leserschaft nicht vergessen lassen, welches Maß an Kniffen und Kunstfertigkeit vonnöten ist, um Geschichten zu schreiben, die wahr scheinen. Vielleicht deshalb wirken einige von Giovannas Empfindungen gestelzt, ihre Aussagen konstruiert, als hätte die Autorin zu lange an ihnen geschliffen. Und auch ein derart ausgeprägtes Reflexionsvermögen, wie Giovanna es an den Tag legt, würden wohl nur die wenigsten einer zwölfjährigen, pubertierenden Teenagerin zusprechen.
Auch der für Ferrante typische lakonische Stil, in deutscher Übersetzung von Karin Krieger, wird an seine Grenzen getrieben. Statt Fahrt aufzunehmen, plätschert die Erzählung über die ersten Kapitel vielmehr vor sich hin. Erst mit dem Auftritt Vittorias, die gleichwohl selbst in ihren stärksten Momenten nicht an die Stahlkraft einer Lila, ihre Vielschichtigkeit und ihre Spitzzüngigkeit, heranzureichen vermag, tut sich etwas. Stellenweise baut sich, dem Ferrante-Schema entsprechend, an Kapitelenden Spannung auf.
Doch insgesamt lässt der Roman formale Risiken vermissen. Giovanna benutzt ihre Tante wie eine Sparringspartnerin, um den eigenen Transformationsprozess in Gang zu bringen. Bis sie, einmal selbst zur Meisterin des Betrugs und Selbstbetrugs aufgestiegen, ihrer Tante überdrüssig wird.
Elena Ferrante: „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 416 Seiten, 24 Euro
Mit dem Verschwinden Vittorias büßt der Roman Dynamik ein. Zumal eine der großen Errungenschaften der Erzählerin Ferrante darin besteht, in „Meine geniale Freundin“ ein halbes Jahrhundert italienischer Geschichte vielgestaltig erzählt zu haben, ohne dass die psychologische Präzision und Pertinenz von Protagonistinnen wie Randfiguren gelitten hätte.
Wo das neapolitanische Quartett anhand eines mannigfaltigen Personals die komplexen sozialen und politischen Verstrickungen im Neapel des 20. Jahrhunderts nachzeichnete, fokussiert Ferrantes neuer Roman zu vehement auf das Innenleben seiner Protagonistin. Dabei hätte es gelohnt, der Spur anderer spannender, aber doch allzu wenig ausgearbeiteter Figuren zu folgen. Ihren Träumen, Kämpfen und Illusionen, einer Zeit geschuldet und einem Ort – den Neunzigern, dem beginnenden Aufstieg Berlusconis, dem beginnenden Abstieg eines Landes, von denen uns „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ leider nicht erzählt.
Daran ändert auch ein Ende nichts, das den Beginn einer neuen Saga erahnen lässt.
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