Neuer Ansatz in der Gesundheitspolitik: Die besonders Verwundbaren im Blick
Die vor vier Jahren in den Bremer Senat gewählte Linke Claudia Bernhard lernte in der Pandemie, den Spielraum von Gesundheitspolitik auszuweiten.
Zwar ist der Staat verpflichtet, für die Gesundheit seiner Bürger:innen zu sorgen, hat aber die Entscheidungen darüber, wie das geschieht, in die Hände der gesetzlichen Krankenversicherungen und Ärztevertreter:innen gelegt. Selbst heilen darf der Staat anders als in Skandinavien oder Großbritannien mit wenigen Ausnahmen nicht.
Deshalb versprechen zwar Bildungssenatorinnen vor Wahlen gute Schulen, Innensenatoren mehr Sicherheit und Umweltsenatorinnen alles mögliche, aber Gesundheitssenatorinnen und ihre Kolleg:innen in anderen Bundesländern schweigen. Das geht, weil sich die Bürger:innen daran gewöhnt haben, dass die Politik hier wenig Einfluss hat oder daran scheitert, sich zwischen den Interessen der zahlreichen Akteur:innen im Gesundheitswesen durchzusetzen. Sonst stünde sicher einiges auf einer Wunschliste, etwa dass jede:r zeitnah die Behandlung bekommt, die er oder sie braucht und alle würdevoll gebären können.
Und dann kam die Pandemie, etwa ein halbes Jahr nach Claudia Bernhards Vereidigung als Gesundheitssenatorin im ersten rot-rot-grünen Senat der Hansestadt Bremen – die erste seit 1959, die nicht der SPD angehört. Wie wenige andere Bundesländer hatte Bremen sich der Aufgabe verschrieben, möglichst alle Einwohner:innen des Stadtstaates gegen das Coronavirus zu impfen. Die Impfungen begannen wie überall Ende Dezember 2020. Im März 2021 wurde ein in seinen Kapazitäten überdimensioniertes Impfzentrum in Betrieb genommen.
Medizinische Versorgungszentren geplant
Keine zwei Monate später, als der Impfstoff noch knapp war, begann Bremen mit Impfaktionen in benachteiligten Stadtteilen – in denselben, in denen Gesundheitsfachkräfte über Infektionsrisiken aufklärten. Diese hatte die Gesundheitssenatorin initiiert, weil sie schon seit der ersten Welle im Sommer 2020 Daten über die überdurchschnittlich hohen Infektionsraten in diesen Stadtteilen hatte. Nach dem Pandemie-Ende sind 18 von ihnen immer noch in 14 Quartieren in Bremen und Bremerhaven als Streetworker:innen unterwegs.
Bremen hat in der Pandemie viel Geld ausgegeben – und war erfolgreich. Die Coronasterberate ist eine der niedrigsten, die Impfquote eine der höchsten. Diese Erfahrungen hätten ihr und ihren Mitarbeiter:innen das Gefühl gegeben „da muss doch was gehen“. Das sagt Claudia Bernhard Ende Februar 2023 während einer Podiumsdiskussion zum Thema „Gesundheitsversorgung unter Druck – welchen Weg geht Bremen?“. Es ist der zweite Teil einer Veranstaltungstrilogie. An diesem Abend ist der Bielefelder Professor Thomas Gerlinger zu Gast. Er spricht über die Probleme des Gesundheitssystems, den Fachkräftemangel, das Nebeneinander von ambulanter und stationärer Versorgung. Alle im voll besetzten Saal wissen, was das im Alltag bedeutet: volle Wartezimmer, keine Termine.
Sie fragen, wie das möglich sein kann in einem reichen Land, das so viele Mediziner:innen ausbildet und hören von der Senatorin und dem Professor, was sie bereits wissen: dass nur wenige Hausarzt oder Hausärztin werden wollen und die sich am liebsten in einem Stadtteil oder einer Region niederlassen, in der sie sich mit ihren Patient:innen auch auf Deutsch gut verständigen können und deren Probleme nicht so erdrückend sind, dass sie sehr viel mehr brauchen als eine Diagnose und einen Behandlungsplan.
„Die Selbstverwaltung ist an ihre Grenzen geraten“, sagt Claudia Bernhard während der Podiumsdiskussion – und meint: Der Staat muss eingreifen; Kassen und Ärzt:innen bekommen es nicht mehr hin, die Versorgung sicher zu stellen. Das sieht sie auch an anderer Stelle. Kein Bundesland versucht so offensiv wie Bremen, die Versorgungslücken beim Schwangerschaftsabbruch zu stopfen. Zu diesem Zweck betätigt sich das Land sogar in der ärztlichen Fortbildung.
Als Linke hat Claudia Bernhard ein besonderes Augenmerk auf die Situation in den armen Quartieren am Rand der Stadt, zum Beispiel in Tenever, einem der kinderreichsten Ortsteile Bremens, in dem es keinen einzigen Kinderarzt oder -ärztin gibt, wie eine Frau im Publikum empört anmerkt. Laut statistischem Landesamt leben dort 2.541 Minderjährige. Im reichen Schwachhausen sind es etwas mehr als doppelt so viele. Die kassenärztliche Vereinigung listet für diesen Stadtteil 19 Kinder- und Jugendärzt:innen. Diese ungleiche Verteilung gibt es in ganz Deutschland. Bekannt ist auch die Unterversorgung von ländlichen Regionen mit geringer Bevölkerungsdichte.
Der Bielefelder Professor bestätigt die Bremer Gesundheitssenatorin in ihrem Vorhaben, sich in etwas einzumischen, was Kassen und Ärzt:innen bislang unter sich ausmachen. Deshalb hat sie ihn eingeladen. Zwar könne Bremen die Probleme nicht alleine lösen, dafür seien einige sehr grundlegende Gesetzesänderungen auf Bundesebene nötig, sagt er. Aber er ermutigt sie zur Gründung medizinischer Versorgungszentren in kommunaler Trägerschaft, was seit 2015 möglich ist. Zuvor mussten diese ärztlich geleitet werden. Die Zentren können Haus- und Fachärzt:innen unter einem Dach anstellen, was für diese den Vorteil hat, sich nicht selbstständig machen zu müssen und besser in Teilzeit arbeiten zu können.
Claudia Bernhard sagt, dass ihr Ressort an der Umsetzung eines solchen Zentrums arbeite, aber auch, wie schwierig es vor allem sei, die Finanzierung zu klären, wie viel die Kommune trage, wie viel die Kassen. „Das ist ein steiniger Weg.“ Auch die Rechtsfragen seien kompliziert. Das habe sich gezeigt, als Bremen Anfang des Jahres für zehn Wochen eine Kinderambulanz unterhalten hat, um die Kinderärzt:innen kurzfristig zu entlasten. „Die war im Grunde rechtswidrig“, sagt die Senatorin.
Das Wahlprogramm der Linken für die Bürgerschaftswahl am 14. Mai verspricht sogar noch mehr. Danach sollen Bürger:innen in „von Armut betroffenen Stadtteilen“ in „Gesundheits- und Sorgezentren in öffentlicher Hand“ nicht nur auf Ärzt:innen treffen, „die mit ihnen auf Augenhöhe arbeiten“, sondern auch noch auf „Pflegepersonal, Sozialarbeiter:innen, Hebammen sowie vielfältiges Beratungs- und Betreuungspersonal“.
Ein Vorbild aus Berlin
Vorbild dafür ist das Berliner „Gesundheitskollektiv Neukölln“, das eine der dort tätigen Ärzt:innen im dritten Teil der Veranstaltungstrilogie Anfang März vorstellte. Dieses ist allerdings kein medizinisches Versorgungszentrum, sondern wird von einem privaten Verein getragen, der nicht Träger einer medizinischen Einrichtung sein darf. Deshalb sind die Ärzt:innen dort selbstständig tätig – unfreiwillig, wie die Berlinerin sagt.
Was die Berliner Ärztin erzählt, klingt nahezu paradiesisch. Jemand kommt mit mehr als körperlichen Problemen in die Praxis und die Ärztin, die das erkannt hat, kann die Person nach nebenan in die Sozialberatung oder zur Psychologin schicken. Im Erdgeschoss sorgt ein Café dafür, dass die Leute sich ins Haus trauen. Es gibt Bewegungsangebote, Mitarbeiter:innen machen aufsuchende Arbeit, geben Kurse. Natürlich reicht das Angebot nicht aus, aber die Ärztin erzählt von Menschen, denen sonst wahrscheinlich gar nicht geholfen worden wäre.
In Bremen gibt es nur Ansätze davon, engagierte Vereine und Verbände, von denen Claudia Bernhard einige bereits als Oppositionspolitikerin in der Bürgerschaft unterstützt hat, wie die fünf Hebammenzentren, von denen bisher zwei eröffnet wurden. Sie sollen in benachteiligten Stadtteilen die Wochenbettversorgung verbessern, kämpfen aber damit, dass sie keine Hebammen finden. Denn Bremen will nicht anstelle der Krankenkassen die Hebammen für ihre Arbeit bezahlen. Deshalb müssen sie freiberuflich tätig sein, was viele abschreckt.
Medizinische Berufsgruppen jenseits der Ärzt:innen stärken
Im ehemaligen Werftenquartier Gröpelingen ist eine Idee des seit langem bestehenden Gesundheitstreffpunkts West aufgegriffen worden: Dort wurde jetzt das Liga-Gesundheitszentrum eröffnet, das Modell sein soll für weitere solcher Zentren – irgendwann auch mit Ärzt:innen – die wiederum in „Gesundheitspunkten“ vorbereitet werden. Im April wurden zwei von ihnen eröffnet, in Huchting und in Grohn. In ihnen berät jeweils eine Pflegefachkraft mit Zusatzausbildung zu gesundheitlichen Fragen.
Denn auch das ist der Feministin Claudia Bernhard ein Anliegen: Die in Deutschland gewachsene Arztzentrierung aufzuweichen und andere medizinische Berufsgruppen – in denen größtenteils Frauen arbeiten – zu stärken. Diese seien in vielen anderen europäischen Ländern die erste Anlaufstelle für gesundheitsbezogene Anliegen, hatte Gerlinger in seinem Vortrag erinnert.
Natürlich gefällt nicht allen in Bremen Claudia Bernhards Politik – wobei dabei nicht nur die Inhalte, sondern auch der Stil eine Rolle spielen dürften. „Warum redet sie nicht mit uns?“, fragt Hans-Michael Mühlenfeld, bis vergangene Woche Vorsitzender des Bremer Hausärzteverbandes. Mehrfach habe er erfolglos um einen Termin gebeten und irgendwann aufgegeben, erstmals während der Pandemie, als es um die Impfstrategie ging. Erst ab April 2021 konnten auch Praxen gegen das Coronavirus impfen – wenn der noch knappe Impfstoff lieferbar war. Hans-Michael Mühlenfeld kritisierte damals, dies gehe zu Lasten der Alten und Schwachen, die es nicht ins Impfzentrum in die Innenstadt schafften oder zu lange auf Termine dort warten mussten.
Ärzte kritisieren „Parallelstrukturen“
Jetzt findet er – wie zuvor schon der Verband der Kinderärzt:innen – Claudia Bernhard würde mit den geplanten medizinischen Versorgungszentren „Parallelstrukturen“ aufbauen. Er lässt kaum ein gutes Haar an ihrer Arbeit. Manche Kritik ist überzogen oder unsachlich, etwa wenn er schimpft, die Praxen hätten günstiger impfen können als das teure Impfzentrum. Dabei hatten die Praxen gar nicht die Kapazitäten, so viele Menschen gleichzeitig zu impfen. Viele brachte die Pandemie weit über die Belastungsgrenze hinaus. Dennoch wird nach einem Besuch in seiner Praxis im Stadtteil Woltmershausen klar: Im Grunde haben er und die Senatorin sehr ähnliche Interessen: Beide wollen die gesundheitliche Versorgung von Menschen verbessern, die besonders vulnerabel sind.
Denn Hans-Michael Mühlenfeld ist gerne Hausarzt in einem Stadtteil, in dem drei Viertel seiner Patient:innen mit mehr Problemen kommen als körperlichen Beschwerden, wie er sagt. „Die haben Geldprobleme, Partnerschaftskonflikte, das ist ihre Realität“, sagt er. Er wünscht sich für sie eine gute Unterstützung in all ihren Belangen.
Auf der Veranstaltung, bei der das multiprofessionelle Berliner Gesundheitszentrum vorgestellt wurde, war er nicht, aber ihm gefällt das Konzept. „Hier wäre Platz für eine Sozialberatung“, sagt er und breitet die Arme aus. Das oberste Geschoss mit dem großzügig geschnittenen Besprechungsraum im Ärztehaus hat er bisher für seine Verbandsarbeit genutzt.
Zur Not halt ohne Ärzt:innen
Statt an anderer Stelle etwas Neues aus dem Boden zu stampfen, wäre es besser, vorhandene Strukturen zu nutzen, sagt er. Dahinter steckt auch seine Überzeugung, dass Hausärzt:innen am besten geeignet sind, den Überblick über die Belange einer Person zu haben und das koordinieren zu können. „Wer soll das denn sonst machen, wenn nicht wir?“, fragt er. Diese Äußerung zeigt, für wie selbstverständlich die Arztzentrierung genommen wird. Aber ohne Zweifel hat er einen Vorteil gegenüber einer bei der Kommune angestellten Pflegekraft oder Beraterin: Die Patient:innen vertrauen sich ihm an, ohne Angst, „beim Amt“ verpetzt zu werden. Das mag vor allem für Menschen mit Diktaturerfahrung eine Rolle spielen.
Der Sprecher von Claudia Bernhard sagt, sie würde mit der Kassenärztlichen Vereinigung reden, weil diese für alle Kassenärzt:innen sprechen könne und nicht nur für die im Hausärzteverband organisierten. Allerdings ist diese viel weiter weg vom Praxis-Alltag als jemand wie Hans-Michael Mühlenfeld – und steht unter Aufsicht der Gesundheitssenatorin.
Doch auch die Kassenärztliche Vereinigung weist auf ein grundsätzliches Problem hin: Den Ärztemangel. Woher, so fragt deren Sprecher, sollen die Ärzt:innen für das medizinische Versorgungszentrum kommen? Ob sie nicht an anderer Stelle fehlen würden, in Bremen oder sonst wo? Dafür hat auch Claudia Bernhard keine Patentlösung, wie sie bei der Podiumsdiskussion im Februar einräumt: „Ich habe keine Ärzt:innen in der Tasche.“ Zur Not macht sie es erst mal ohne.
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