Eine junge Frau mit Fellmütze steht auf einem Baumstumpf

Kunststudentin Ash im Naturschutzgebiet Denham Park Foto: Daniel Zylbersztajn

Neue Schnellbahn in Großbritannien:Ökorebellion im alten England

Der Bau des derzeit größten Infrastrukturprojekts Europas HS2 beginnt – und der Widerstand wächst. Denn jahrhundertealte Wälder müssen weichen.

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1.10.2020, 14:54  Uhr

Es ist Teezeit im Wald. Idyllisch wirkt das Zeltlager. Durch die Bäume scheint die Nachmittagssonne, ein Traktor tuckert irgendwo, Kornblumen warten auf die Ernte. Plötzlich erscheint ein Pick-up am Waldrand, und alle rennen aufgeregt herum.

Die Leute im New-Poors-­Piece-Lager rechnen permanent mit der Räumung. Dieses Altwaldgebiet ist eines von vielen in England, das der Bahnstrecke HS2 weichen soll, die gigantische neue Hochgeschwindigkeitsbahn.

Die Aufregung im Wald entpuppt sich als Fehlalarm. Es war nur ein Fahrzeug des örtlichen Stromversorgers, ermittelt der 32-jährige Forstökologe und Aktivist, der sich wie alle der Stop-HS2-Aktivisten gegenüber Medien nur mit einem Pseudonym identifizieren lassen will: „Poet of Poors ­Piece“, der Poet von Poors Piece. „Können Sie die Alliteration im Namen auf Deutsch rüberbringen?“, bittet er neugierig.

Die Grundidee für HS2 entstand noch zu Zeiten der letzten Labour-Regierung 2009. Eine neue Schnellbahnstrecke soll London zunächst besser an Birmingham und später an den ehemals industriellen Norden anbinden. Nach jahrelangem Hin und Her gab Boris Johnson im Februar grünes Licht. Für ihn erfüllt das Projekt sein Wahlversprechen, massiv ins eigene Land zu investieren, vor allem zugunsten der abgehängten Regionen.

Laut Regierung wird HS2 Straßen- und Luftverkehr auf die Schiene verlagern, die Passagierkapazität zwischen London und Birmingham erhöhen, die alte Bahnstrecke für den Güterverkehr frei machen und einen Umschwung auf „grünen“ Verkehr symbolisieren. Doch der Bau zerstört viel Natur und verbraucht Unmengen Beton.

Hunderte Naturschutzgebiete und Wälder müssen weichen
Ein Mann mittleren Alters sitzt im Fahrerhaus eines Traktors

„Blöder Zug, den niemand braucht“: Ben Higgins, Waldbesitzer Foto: Daniel Zylbersztajn

Selbst nach den eigenen Berechnungen wird HS2 erst nach 120 Jahren Klimaneutralität erreichen, und all das mitten in der Klimakrise. Und die Stecke ist nicht mal richtig an andere Bahnlinien angebunden, weder an den Eurostar – Großbritanniens erste Hochgeschwindigkeitslinie, genannt HS1- noch an Schottland oder Wales oder auch nur die richtig abgelegenen Nordregionen Englands.

Während jahrelang politisch um HS2 gestritten wurde, stiegen die prognostizierten Baukosten von umgerechnet rund 40 auf rund 120 Milliarden Euro – die Strecke entsteht nicht entlang bestehender Bahnlinien, sondern völlig neu, einschließlich vieler Tunnel aus Landschaftsschutzgründen. Dennoch müssen 700 Naturschutzgebiete und 100 Altwälder weichen, sagen Naturschützer. Von ländlichen Konservativen bis zu Umweltaktivisten reicht die Spanne der HS2-Gegner. Besetzer haben Lager entlang der Strecke errichtet, oft in Bäumen verschanzt.

Anfang September scheiterte die letzte gerichtliche Prüfung. Am 5. September war offizieller Baubeginn, seitdem betreibt die von der Regierung gegründete Firma HS2 Ltd die Räumung, Rodung und Absperrung großer Flächen. Abzäunungen, teilweise mit Stacheldraht, rasche Abholzungen und Betonierungen sollen irreversible Fakten schaffen.

Die Kampagnen „Stop HS2“ und „HS2 Rebellion“ – letztere ist mit Extinction Rebellion verbunden – versuchen ihrerseits, durch Störaktionen Aufmerksamkeit zu erzeugen und die Arbeiten zu erschweren, nicht nur in Naturschutzgebieten, auch auf Bäumen vor dem Parlament und vor dem Endbahnhof Euston in London.

Der Bauernhof in Jones Hill, Buckinghamshire, ist von einem Metallzaun umgeben. Im Stall liegt noch Heu, doch der Hof steht gespenstisch leer. Sicherheitsleute in gelber Schutzkleidung stehen anstelle der Kühe herum. „Die Bahnstrecke geht mitten durch unser verdammtes ehemaliges Wohnzimmer!“ sagen die Besitzer, ein junges Pärchen, die zufällig anderswo angetroffen werden.

In unmittelbarer Nähe liegt ein Stop-HS2-Waldlager. Dort erklären Ross, 37, und Punky, 48, dass die Räumung des Waldes bevorsteht. Er ist an die 400 Jahre alt, die uralten Bäume stehen eigentlich unter Schutz. Angeblich will HS2 Erde von hier „retten“ und abtransportieren. Solange sie noch hier sind, dokumentieren die Umweltschützer*innen die Artenvielfalt und die Zerstörung.

Zwei Männer, einer davon mit Irokesen Schnitt, der andere mit einem Hund im Arm stehen vor einem Zelt

„Sie zerstören diese kleine Oase und alles, was darin lebt“: Ross und Punky im Protestcamp Foto: Daniel Zylbersztajn

„Während der Pandemie hat HS2 trotz Verbots auch während der Vogelbrutzeit gerodet, und wenn nun bald die Schutzzeit für Dachse abläuft, kann es nur bedeuten, dass die Kettensägen und Planierraupen bald anrücken, um auch diese kleine Oase zu zerstören und alles, was darin lebt“, sagt Ross, dreht sich einen Spliff und zählt auf: „43 verschiedene Falter und Motten, Eulen, drei Dachsfamilien, ein Fuchs, elf verschiedene Heckensorten, sieben Arten von Fledermäusen, acht Muntjaks (Zwerghirsche), Siebenschläfer.“

Ganze Familien wehren sich

Punky, mit rosa Irokesenschnitt, glaubt, dass HS2 symptomatisch für vieles ist. „Die Enteignung von Land, die Konstruktion eines staatlich sanktionierten Projekts ohne sozialen oder wirtschaftlichen Sinn, sondern nur für die beteiligten großen Firmen, die Zerstörung von Natur und Tierwelt und die globale Naturzerstörung.“ Die Allgemeinheit verstünde nicht richtig, was hier geschehe, sind sich beide sicher. Seit Neuestem gehen sie auf die Wochenmärkte, um die Bevölkerung besser aufzuklären.

Die Naturschützer*innen in New Poors Piece weiter nördlich setzen auf Öffentlichkeitsarbeit. An einer Landstraßenkreuzung zimmern Freiwillige aus alten Brettern ein Infozentrum zusammen. Es war die Idee des 30-jährigen Luke, der einst bei Anti-Fracking-Protesten in Yorkshire mithalf. Anders als HS2 ist Fracking in Großbritannien inzwischen Geschichte, es fiel Protesten und dem Klimawandel zum Opfer. „Wir müssen sichtbar sein, denn im Wald sehen die Menschen uns nicht“, glaubt Luke.

Der Wald „Poors Piece“ ist ebenfalls Jahrhunderte alt. Seit 400 Jahren ist verfügt, dass er unberührt bleiben soll, damit die Armen Reisig für Feuerholz haben. Der heutige Besitzer Ben Higgins kaufte vor fünf Jahren zwei Äcker, zu denen auch der Wald gehört, um einen ökologischen Betrieb aufzubauen.

Auf seinem Traktor erzählt der 48-Jährige, wie er als Junge mit seinen Freunden im Wald spielte, obwohl die Eltern es verboten. Heute ist die Hälfte abgeholzt. „Wir hoffen, dass HS2 nicht all unser Land nimmt“, sagt er. Die Landstraße zu seinem Hof ist einen Kilometer weiter bereits abgesperrt, die Bahnstrecke soll mitten über die Straße führen. Auch Higgins glaubt, dass die Leute vor Ort noch nicht ganz verstehen, was hier abgeht. Es könne jedoch nicht lange dauern, bis es allen klar werde.

Manche bezeichnen das Camp als „War Camp“. Doch die meisten bleiben beim gewaltfreien Protest

Die ganze Familie wehrt sich, erzählt er, selbst sein hochbetagter Vater. Deswegen tolerieren sie auch die Stop-HS2-Leute. „Es war für uns einfach unmöglich zuzusehen, wie all das hier für einen blöden Zug zerstört wird, den niemand braucht. Wir mussten etwas tun“, verkündet Higgins mit ernster Miene. In der Zwischenzeit bleibe ihm nichts weiter übrig, als das Feld fertig für den Winter zu machen.

Im Londoner Bezirk Camden bedeutete HS2 bereits das Abholzen alter Bäume in der Nähe der Stadtautobahn und die komplette Zerstörung eines ehemaligen Friedhofs, samt Umbettung von über 40.000 menschlichen Überresten. Der Labour-Bezirksrat schaute weg, lediglich Grüne und Liberaldemokraten engagierten sich. Lokalaktivistin Dorothea Hackman, 68, bekämpft HS2 hier bereits seit 2014. Ihr Erfolg? Ein paar gerettete Bäume, sonst nichts.

Offiziell behauptet HS2, für verlorene Wälder anderorts neu aufzuforsten. Aktivist Ross in Jones Hill weiß, was solche Aktionen wirklich bedeuten: „5000 Bäumchen von nur drei Sorten werden gepflanzt, die dann alle vertrocknen.“

Gebrochene Nasenbeine bei der Räumung

Im Naturschutzgebiet Denham Park am Rand Londons wurde ein Stück Altwald innerhalb eines Tages abgeholzt, darunter uralte Bäume mit Naturschutzsiegel – für eine temporäre Zugangsstraße zur richtigen Baustelle. Die Aktivist*innen im Protestcamp verstehen das nicht: Gleich nebenan verläuft ein alter Wasserkanal aus dem 19. Jahrhundert, der auch als Transportweg dienen könnte.

Die 22-jährige Kunststudentin Ash im Protestcamp von Denham Park erzählt von klammheimlichen HS2-Aktionen, die urplötzlich irgendwo mit großen Teams auftauchen und Bäume fällen. „Hier benutzt HS2 nachts absichtlich ins Lager strahlendes grelles Licht“, berichtet sie.

Immer wieder wird erzählt, wie gewaltsam HS2 bei Räumungen vorgeht: Verhinderung des Absteigens von Baumhäusern, Zerschneiden der Seile, Wegzerren von Aktivist*innen von öffentlichem Land auf gesperrtes, um sie dort „legal“ festzunehmen; Schläge, Brandwunden beim Zerschneiden von Schlössern, mit denen sich Stop-HS2-Aktivist*innen an Baugeräte fest schließen; gebrochene Nasenbeine, Schultern und Finger.

Drei Kilometer entfernt entstand schon 2017 das allererste Anti-HS2-Protestlager: Harvill Road. Diese Gegend ist von besonderer Bedeutung, denn hier geht es nicht nur um Wald und Tiere. „Die dortigen tief in den Grund gehenden Bohrungen, um später hier die Zugstrecke auf einer Betonerhöhung bauen zu können, gefährden das Trinkwasser von 22 Prozent von London, insgesamt 2,3 Millionen Londoner*innen, weil sie das natürliche Filtrationssystem zerstören“ berichtet Jo Rogers, 45, eine Medienexpertin, die ihre Zeit der Stop-HS2 Kampagne schenkt.

Bereits jetzt würde sich Wasser in den umlegenden Seen und Bächen eintrüben und milchig mit Kalk vermischen. Laut Rogers erhielt die Firma, welche hier für die Wasserversorgung zuständig ist, eine nach oben offene Summe für Gegenmaßnahmen wie künstliche Filtrierung. Doch: „Eines der Probleme, dass wir haben, ist, dass niemand Einsicht in die Pläne hat“.

Das, so Rogers weiter, sei ein Problem mit HS2 insgesamt. Beispielsweise sei es schwer, herauszufinden, ob die Firma überhaupt befugt sei, ein bestimmtes Gebiete zu räumen, und wo genau die Grenzen ihrer Befugnisse stehen. Es habe sich beispielsweise herausgestellt, dass HS2 breitere Strecken räumt als von den meisten erwartet.

Die gesamte zukünftige Strecke von London nach Birmingham entlang reihen sich bereits Absperrungen und Bauzufahrten. Es wird kälter, viele der Aktivist*innen bereiten sich auf schwere Monate vor. In den Camps wird nun versucht, den Abbau von Baumhäusern zu erschweren. Es gibt Spähtürme und Absperrungen aus Holz. Im Lager Wendover sind Leute bereit, jegliche gegen sie gerichtete Gewalt ähnlich zu beantworten, manche bezeichnen das Camp als „War Camp“.

Doch die meisten bleiben beim gewaltfreien Protest. Ruby, 36, eine schottische Therapeutin im New Poors Piece Camp, will einfach mit dem Sicherheitspersonal reden. „Ich versuchte, ihnen klar zu machen, dass sie diese Naturzerstörung möglich machen, indem sie den Arbeitern Schutz und Deckung geben.“

Wie aus einem Science-Fiction-Film

Kann HS2 noch gestoppt werden? In Covid-19-Zeiten, wo der Pendlerverkehr einbricht, erscheint das Projekt widersinnig und finanziell kaum tragbar. Aber die Zerstörung von Natur und die Zwangsenteignung von Privatbesitz können wohl nicht mehr rückgängig gemacht werden. Vielleicht werden dann einfach Häuser gebaut.

Indra, 50, und ihre Tochter Morgana, 29, haben sich im Crackley Wood Camp bei Coventry niedergelassen, auf dem privaten Land von Besitzern, die die Aktivist*innen unterstützen. Für Indra, eine Veteranin unterschiedlicher Proteste, ist HS2 – offiziell das größte Bauvorhaben Europas – ein Skandal von unfassbarer Dimension, ein Denkmal von Korruption und Selbst­ermächtigung, Enteignung, fehlender Demokratie, Machtmissbrauch, Zertrampeln von Menschenrechten und Zerstörung der Natur. „Die Polizei schaut oft zu und greift nicht ein, selbst wenn Aktivist*innen klar misshandelt werden“, berichtet Indra von den Räumungen.

Schließlich geht es in den Wald. Unberührte Natur grenzt an zerstörte. Dazwischen ein Zaun. Von der anderen Seite, wo bereits gerodet wurde, blitzt plötzlich ein Gerät auf, das den berüchtigten Dalek-Robotern aus der TV-Science-Fiction-Serie „Dr Who“ gleicht. Es handelt sich um eine Sicherheitskamera mit eingebauter nordirischer Stimme – Sicherheitstechnik aus dem Nordirlandkonflikt, mitten im englischen Wald.

Eine ganze Schar Daleks ist hier unterwegs. Bis zum Verlassen des Waldes blitzt es dreimal.

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