Neue Elektroalben für den Sommer: Raumgrenzen mit Ohren streicheln
Was rumpelt denn da? Wer spricht so blechern? Vier neue Elektronikalben von Actress, Lolina, Jan Jelinek und CHBB, die dem Sommer Stempel aufdrücken.
In der jüngeren Architekturtheorie geht es beim Thema Stadtplanung nicht mehr allein um die Bauform, Architektur werden im Rückgriff auf Kognitionstheorie auch sinnerzeugende Eigenschaften bescheinigt. Jene sensorische Komponente hat der finnische Architekt Juhani Palasmaa mit den Worten beschrieben, dass Menschen „die Grenzen des Raums mit den Ohren streicheln“. Klang und seine spezifische Umgebung spielen auch in Gebäuden eine wichtige Rolle.
In der Sphäre der elektronischen Musik streichelt momentan niemand die Grenzen des Raums besser mit den Ohren als der britische Elektronikproduzent Actress (Darren J. Cunningham). Passend zum kleinen Architekturexkurs ist sein neues Album mit dem Begriff „Statik“ deutsch betitelt.
Schroff, verwaschen, eiernd klingt sein Entwurf, und doch packen einen diese elf Stücke, gerade weil Cunningham grundsätzlich keine Flächen quantisiert und seine Beats nie mit Metronom programmiert. Die Statik mag schief sein, aber sie trägt durch den Einsatz alter Drumcomputer oder durch das völlige Ausblenden von Rhythmus.
Seine eigene Musik bezeichnet der 45-Jährige als „R&B Concrète“, ihm liege viel an der elektronischen Avantgarde, wobei die Popaspekte zwar in den Innereien seiner Musik vergraben sind, aber dennoch die eine oder andere Hookline sich gegen dicke Schlieren abstrakter Klangflächen behauptet.
Filigranes Rauschen
Actress’ Musik rauscht gewaltig, doch das Rauschen ist weniger monumental als filigran und selten geradlinig, so dass immer ein interessanter Stop-&-Go-Effekt entsteht. Actress hat in einem Gespräch mit dem Onlinemagazin „Kaput“ erklärt, er produziere keine Tracks, sondern Sequenzen und setze diese nach und nach zusammen. Trotzdem hat diese Musik deutliche Konturen.
Actress: „Statik“ (Smalltown Supersound/Rough Trade)
Actress DJ-Set: 11. Juli 2024, „Hamburger Bahnhof“, Berlin, (Eintritt frei!)
Lolina: „Unrecognisable“ (Relaxin/Import)
Jan Jelinek: „Social Engineering“ (Faitiche/Morr Musik/Indigo)
CHBB: „CHBB“ (Soulsheriff/Morr Musik/Indigo)
Das Video zum Stück „Dolphin Spray“ ist bei einer Autofahrt auf dem Land vermutlich in Skandinavien mit verwackelter Kamera in körnigem Schwarzweiß gedreht und fasst Bauten, Landschaft und Straßen ins Bild, „Statik“ nimmt viele lose Enden der urbanen britischen Dancefloorkultur auf und baut sie zu einer hyper-illusionistischen Klangarchitektur aus.
Obwohl sie für ein früheres Album (unter dem Künstlernamen Inga Copeland) Musik mit Actress eingespielt hat, kommt das aktuelle Album der in London tätigen estnisch-russischen Künstlerin Lolina (Alina Astrova) scheinbar aus einem Klangparalleluniversum. „Unrecognisable“ ist Teil eines größer angelegten immersiven Kunstwerks. Teil eins war ein im Stile von Modezeichnungen entworfener interaktiver Comic.
Interaktiver Comic
Darin geht es um eine SciFi-Story, in der zwei Londoner Gebäude eine Hauptrolle spielen. Der 87-stöckige zylinderförmige Wolkenkratzer „The Shard“ einerseits, andererseits der Underground-Musikclub „Ormside Projects“, in dem Lolina in realiter auftritt. Im Comic gibt es in London keine Kultur mehr, es ist eine dystopische Stadt mit zugenagelten Häusern und schwer bewachten, von der Regierung beherrschten Wahrzeichen wie „The Shard“.
Menschen agieren im Verborgenen, telefonieren nonstop, sitzen in Autos und observieren. Eine Widerstandsgruppe namens „The Unrecognisables“ will „The Shard“ sprengen, bricht die Operation aber ab, damit niemand zu Schaden kommt. Die Regierung kommt diesem Plan auf die Spur. Verdächtigt sind zwei junge Frauen, Paris und Geneva, Stadtplanerin die eine, Ex-Clubgängerin die andere, beide bei den Unrecognisables aktiv.
Lolina nimmt in ihrer Story Anleihen bei JG Ballards Klassiker „High-Rise“, aber auch die klandestinen Aussteigertipps aus „Die elektronische Revolution“ von William S. Burroughs kommen in den Sinn. Klickt man im Comic die Kopfbedeckungen der beiden Frauen an, ertönen disparate Einzelspuren – Stimmen, Pianogeklimper, Percussionkrach –, die beim Weiterscrollen einen unheimlichen Soundscape ergeben.
Empfohlener externer Inhalt
Lolina „Paris Hell Rising“
Die Unkenntlichen
Teil zwei von „Unrecognisable“ war eine Live-Performance, in der Lolina die Protagonistin Paris in den Mittelpunkt rückte, die in „The Shard“ eingebrochen war, um ein abspenstiges Mitglied der Unrecognisables zu suchen. Teil drei ist nun ein Album mit neun Tracks. In den Texten geht es um den aufreibenden Alltag von Paris und Geneva, zwischen Panikattacken und Fluchtweg-Ausbaldowern. Die Künstlerin schlüpft mit dem modulierten Pitchshifting ihrer Stimme in verschiedene Rollen.
Wie immer bei Lolina zieht das hypnotische Gemurmel von Massenmedien an der musikalischen Grundstruktur und sorgt für Stress. Die Vocals atmen Ennui und verzerren durch aufreizende Relaxtheit den Storyplot derart, dass man irgendwann diesen permanenten musikalischen Dämmerzustand als Labsal empfindet. „A disaster is never really that far away / When you don’t know anybody on the streets“.
Dazu rumort es klaustrophobisch dissonant mit eiskalter Eleganz. Fast alle Sounds werden von einem Billo-Casio Sampling-Keyboard erzeugt. Lolina war schon immer eine Meisterin der Selbstbeschränkung. Und man wünscht sich, dass diese Geschichte von „Unrecognisable“ weitergeht, als Spammail-Fortsetzungsgeschichte?
Spammail-Manipulation
„Social Engineering“ heißt das neue Album des Berliner Produzenten Jan Jelinek. Stimmen spielen darauf eine entscheidende Rolle. Sie sind nicht menschengemacht, sondern basieren auf einem Speechprogramm. Jelinek hat die Texte von 13 Spammails mittels Voice-Synthesis von einem Casiotone-Synthesizer in Sprache umwandeln lassen. „Social Engineering“ ist der soziologische Begriff für Manipulationen, die mit Spam- und Phishingmails einhergehen.
Eine weibliche Stimme, die entfernt an die Vocoderstimme aus Laurie Andersons Song „Oh Superman“ erinnert, sagt: „Dieses Video wird dir die Augen öffnen und endlich den Weg in die finanzielle Freiheit aufzeigen.“ Kurz danach zerbirst diese Aufforderung in Fragmente, einzelne Wortsilben werden gedehnt wiedergegeben. In einigen der 13 Tracks fungieren die stimmgewordenen Zahlungsaufforderungen a capella, in anderen sind sie subkutan von Fieldrecordings durchlöchert, zerrende Störtöne sorgen für akustische Aussetzer.
Bei „Social Engineering“ gefällt die Weiterverarbeitung von Text in synthetische Stimmen. William Burroughs hat in „Die elektronische Revolution“ die Stimme als Waffe bezeichnet. So ausdruckslos, wie die generierten Stimmen bei Jelinek inszeniert sind, trifft das zu. Der ganze Schutt des Kapitalismus, verdichtet zu enervierenden Lockrufen, nervt gewaltig und klingt so ungeschlacht wie alte KI. Jelinek, der selbst einmal Opfer einer Phishingmail wurde, sieht in der unheimlich seltsamen Fabelwelt aus Warenfetischismus und horrenden Geldgeschenken absurden Humor am Werk.
Social Engineering als Kunstform
Warum nicht dieses Wonnegrausen als Kunstform etablieren? Für den Fall sammelt am Informatik-Fachbereich der TU München schon mal ein wissenschaftliches Projekt Spammails und wertet sie aus. Ihre akustische Umsetzung zu hörspielartigen Vignetten ist dem „Collagisten“ (Jelinek über Jelinek) mit „Social Engineering“ definitiv gelungen.
Stimmfetzen tauchen auch auf dem prähistorischen Technoalbum „CHBB“ auf. So benannt nach den Initialen der beiden Musiker:innen Chrislo Haas und Beate Bartel. Beide wurden unter dem Namen Liaisons Dangereuses mit ihrem Song „Los Ninos Del Parque“ 1982 weltberühmt. Die Aufnahmen für „CHBB“ sind zeitlich vorher entstanden. Bisher war nur ein Bruchteil der 20 Tracks bekannt.
Sie erschienen 1981 als limitierte Tapes beim Düsseldorfer Kassettenlabel Klar!80. Dass nun ein delikat klingendes Doppelalbum veröffentlicht wird, ist die archäologische Musiksensation des Jahres. Denn die fraktalen Hypnobeats und Sequenzer-Loops, erzeugt mit einem einzigen monofonen Korg MS-20 Synthesizer, waren ihrer Zeit so weit voraus, dass sie auch heute einen Sandsturm auf dem Mars auslösen könnten.
Der Schriftsteller Peter Glaser hat damals mit dem „unheimlich straighten“ Duo in Düsseldorf zusammengewohnt und beobachtete an ihm einen „Projektprozess“ beim Musikmachen. Die Versenkung ins Material sei so tief gewesen, dass sich das Duo selbst wieder „aus den Sequenzern herauszuholen versuchte“.
Die Toningenieurin Beate Bartel erklärt, „Chrislo hat nur in den Maschinen gelebt“. Chrislo Haas hat Sequenzer Loops entworfen, die sich im Takt umdrehen. Beim Drehen an den Knöpfen seines Korg hat er die Grenzen des Raums mit den Ohren gestreichelt.
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