Netflix-Serie „The Days“ über Fukushima: Japan wird analog
In „The Days“ wird die nächste Reaktorkatastrophe fiktional rekonstruiert. Diesmal: die Tage nach dem Unfall von Fukushima.
Als vor vier Jahren die Sky- und HBO-Serie „Chernobyl“ die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl nacherzählte, gab es dort sowjetische Apparatschiks zu sehen, hervorgekramt aus der Mottenkiste des Kalten Kriegs. Der Unfall lag da auch immerhin schon 33 Jahre zurück. Fukushima ist erst zwölf Jahre her, Netflix ist mit seiner aktuellen Serie dazu also 20 Jahre schneller. Und Japan, obschon geografisch fernster Osten, wird ja, weil Demokratie und Rechtsstaat, politisch gern mal der westlichen Welt zugeschlagen.
„The Days“, ausschließlich von japanischen Filmschaffenden verantwortet (Regie: Hideo Nakata, Masaki Nishiura), zeigt, nicht nur, aber auch, wie fremd, wie anders die japanische Kultur doch ist. Zum Beispiel die Kleiderordnung: Kaum ist der Reaktorunfall passiert, tragen sämtliche handelnde Personen plötzlich Leibchen, wie man sie hierzulande nur aus dem Sportunterricht zur Kennzeichnung der Mannschaftszugehörigkeit kennt.
Was im feudalen Japan die Daimyōs und ihre Samurai waren, das sind heute die Konzerne und ihre Angestellten. Selbst der Premierminister und seine Entourage tauschen die dunklen Sakkos umgehend gegen kurze hellblaue Jäckchen ein, die sie aussehen lassen wie Playmobilfiguren. Das ist natürlich eine westliche Sicht.
Es gibt in „The Days“ keinen einzigen Nichtjapaner und keine erwähnenswerte weibliche Haupt- oder Nebenrolle – abgesehen von der Mutter, die anfängt buchstäblich eimerweise Origami-Kraniche zu falten, als sie erfährt, dass ihr Sohn vermisst wird. Und vermutlich hat das keinem der Filmschaffenden auch nur einen Sekundenbruchteil lang zu denken gegeben. Weil die Gegebenheiten zum Zeitpunkt des Unfalls wahrscheinlich genau so waren. In der Katastrophenschutzzentrale, im seismisch isolierten Notfalleinsatzraum in Fukushima und im Kontrollraum von Block 1 – den Innenräumen, in denen die Serie ganz überwiegend spielt.
Das Erdbeben und der anschließende Tsunami sind in Folge eins durchaus in Szene gesetzt. Und es gibt die – aus dramaturgischer Sicht viel zu zahlreichen – Episoden, in denen Männer losziehen in die stromlose Dunkelheit, um irgendein Ventil zu öffnen, während die Skalen ihrer mitgeführten Messgeräte gar nicht mehr ausreichen, die Strahlung zu messen, der sie sich aussetzen. Man ist gerne bereit zu unterstellen, dass das alles mit größtmöglicher quasidokumentarischer Akkuratesse nachgestellt wurde. Denn technisch kann man das als fachfremder Zuschauer ohnehin nicht mehr nachvollziehen.
Hochtechnologie-Land ist analog
Die dilettierenden Sesselfurzer sitzen in sicherer Entfernung, die todesmutigen Helden tun vor Ort, was getan werden kann. Das ist, in a nutshell, die Rechnung, die „The Days“ acht Folgen lang aufmacht. Die man, apropos Sprache, tunlichst nicht in der englischen Synchron-, sondern in der japanischen Originalfassung sehen sollte, mit Untertiteln.
Der Duktus ist ein ganz anderer, etwa wenn der Stationsleiter Masao Yoshida (Kôji Yakusho, gerade erst den Darstellerpreis des 76. Filmfestivals von Cannes gewonnen), auf dessen Aufzeichnungen – wie auf Ryusho Kadotas investigativer Recherche – die Serie beruht, seinem engsten Vertrauten sagt: „Ab jetzt kann ich hier nicht mehr lebend raus. Ich habe alle immer wieder an ihre Grenzen getrieben. Ich habe sie in Gefahr gebracht. Und deshalb hätte ich kein Recht, lebend nach Hause zu gehen. Das habe ich am ersten Tag so entschieden.“
So grübelt er über den Bauplänen in seinen Aktenordnern und starrt auf die von Hand auf Whiteboards notierten, sich kontinuierlich verschlechternden Zahlen. Nach dem Stromausfall sieht die Welt im Hochtechnologieland Japan plötzlich wieder sehr analog aus.
Und nachdem man dann als Zuschauer knapp acht Stunden lang vor der nur gelegentlich von arabischen Zahlen durchsetzten Vielzahl japanischer Schriftzeichen fast verzweifelt ist (selbst die Pressemappe gab es von Netflix nur auf Japanisch), staunt man nicht schlecht, als man auf der Betonpumpe, deren Einsatz das Allerschlimmste am Ende gerade noch verhindert, den sehr putzig klingenden Namen eines deutschen Unternehmens liest.
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