Nazis an der Macht in Weimar: Thüringen, der Mustergau
In Thüringen waren die Nazis während der Weimarer Republik früh indirekt, später auch direkt an der Macht beteiligt. Entzaubert hat sie das nicht.
Mit der SA-Parole „Alles für Deutschland“ erfreute der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke vor vier Jahren seine Fans. Dafür wurde er vor Kurzem zu einer Geldstrafe wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verurteilt. Seinen Wahlerfolg verhinderte das nicht. Das bewusst provokante Auftreten des Rechtsradikalen könnte vielmehr dazu beigetragen haben, dass bei der jüngsten Landtagswahl erstmals die AfD in Thüringen zur stärksten Partei gewählt worden ist.
Nicht nur im Ausland werden besorgte Stimmen laut, die den Erfolg der Neurechten mit dem Sieg der altrechten NSDAP vergleichen. „Früher NSDAP. Heute AfD?“, fragt die polnische Tageszeitung Rzeczpospolita.
Thüringen war Stammland der NSDAP. Am 23. Januar 1930 wurde mit Wilhelm Frick hier zum ersten Mal ein Nazi zum Minister einer deutschen Landesregierung gewählt, zuständig für Inneres und Volksbildung. So entwickelte sich Thüringen zum „Mustergau“ der Nazis in Deutschland – und dies drei Jahre vor ihrer Machtübernahme im Reich. Ist Thüringen also besonders anfällig für rechtsradikale Parolen? Wiederholt sich die Geschichte doch?
Während der Weimarer Republik sah Thüringen geografisch anders aus: Der Freistaat entstand 1920 aus der Konkursmasse von sieben Fürstentümern. Preußische Landesteile wie die Stadt Erfurt zählten aber nicht zu dem neuen Land, Weimar war damals die Landeshauptstadt.
Affinität für rechtsradikale Bewegungen
Dass die Thüringer, ob mit oder ohne Erfurt, in den 1920er wie in den 2020er Jahren eine gewisse Affinität für rechtsradikale Bewegungen besaßen und besitzen, ist unverkennbar. Der eigentliche Weimarer Sündenfall geschah aber nicht 1930 mit dem ersten Nazi-Minister, sondern sechs Jahre zuvor. Nach einer vom Reich aufgelösten „Volksfrontregierung“ aus SPD und KPD triumphierten 1924 angesichts von Geldentwertung und Verarmung die reaktionären Kräfte. „Das ganze Land kam auf den Hund, nun rettet nur der Ordnungsbund“: Mit dieser Parole erzielte der „Thüringer Ordnungsbund“ bei der Landtagswahl 48 Prozent.
Es handelte sich um einen Zusammenschluss bürgerlicher Parteien von der liberalen DDP bis zur deutschnationalen DNVP. Doch weil 48 Prozent nicht zum Regieren reichten, schloss der seltsame Bund ein Abkommen mit der „Vereinigten Völkischen Liste“, einer Tarnorganisation der NSDAP, die nach dem Hitler-Putsch im November 1923 verboten worden war.
Die Nazis waren durch dieses Abkommen indirekt an der Macht beteiligt. Das trug Früchte: Das Redeverbot für Hitler wurde in Thüringen früher als irgendwo anders schon 1924 aufgehoben, ebenso das Verbot der NSDAP. So wurde Thüringen zum Sammelhort der Nazis. Noch war die Partei aber klein – bei der Reichstagswahl 1928 erhielt sie lediglich 2,6 Prozent.
Thüringen war bei Hitler und Konsorten beliebt. Der Reichsparteitag 1926 wurde in Weimar abgehalten, wo die Nazis auch die Hitlerjugend gründeten. Zeitweise überlegte Hitler, die Leitung der Partei von München in seine „Lieblingsstadt“ Weimar zu verlegen. Er durfte auch im Deutschen Nationaltheater sprechen – dort, wo 1919 die deutsche Nationalversammlung getagt und die Weimarer Verfassung beschlossen hatte.
Keine Brandmauer gegen die NSDAP
Eine ganze Reihe Karrieren später einflussreicher NS-Führer begann damals in Thüringen. Anders als 2024 bei der AfD konnte zu Weimarer Zeiten von einer Brandmauer gegenüber der NSDAP keine Rede sein. Im Gegenteil: Die nationalliberale DVP versicherte 1930, man stehe „weltanschaulich und politisch“ näher bei der Hitler-Partei als bei den Sozialdemokraten.
In diesem Jahr kam es auch zum nächsten Sündenfall: der Koalitionsbildung zwischen einem Bündnis bürgerlicher Parteien und der NSDAP. Die hatte bei der Landtagswahl 11 Prozent erzielt. In der Stadt Weimar waren es sogar 23,8 Prozent. „Die Erbschaft der Deutschnationalen tritt die Nationalsozialistische Partei an“, kommentierte der sozialdemokratische Vorwärts damals.
Keine der bürgerlichen Parteien war 1930 zur Zusammenarbeit mit der SPD bereit, die stärkste Partei im Landtag geworden war. Bei der Ursachenforschung zu dem frühen Erfolg der Nazis gilt diese Unfähigkeit der Konservativen zu einer Kooperation mit den Sozialdemokraten als zentrale Ursache. Eine solche Verweigerungshaltung gibt es vonseiten der CDU heute nicht. Aber: Von der SPD ist auch nicht viel übrig geblieben.
Es war nicht so, dass damals niemand die Gefahren der NSDAP erkannt hätte. Der Vorwärts schrieb während der Koalitionsverhandlungen in Weimar: „Die Nationalsozialistische Partei erklärt so oft, als es nur verlangt wird, dass sie auf die Verfassung von Weimar pfeift. Ihre Redner versichern von der Tribüne des Reichstags herab, dass sie die politischen Führer der Mehrheit des deutschen Volkes aufzuhängen und zu köpfen beabsichtigen, falls sie zur Macht gelangen. Ausgerechnet diese Partei des Hochverrats und der Morddrohung soll künftig in Thüringen das Polizeiministerium führen.“
Um 1930 begannen in Deutschland die Morde an politischen Gegnern zum furchtbaren Alltag zu werden. Hitler versprach den Mördern von polnischen Landarbeitern nach einer Machtübernahme der NSDAP indirekt ihre Begnadigung.
Da nehmen sich die Provokationen eines AfD-Chefs Höcke, der jüngst Anti-Nazi-Demonstranten vorwarf, sie agierten wie Nationalsozialisten, geradezu harmlos aus. Die Grundierung freilich ist dieselbe: Mit ihrer Forderung nach einem ethnisch reinen Staatswesen verfolgen beide Parteien eine völkische Weltsicht, nach der eine Mischung verschiedener Menschen und Kulturen von Übel sei.
„Säuberung“ des Beamtenapparats
Die Nazis erledigten die Thüringer „Probe aufs Exempel“ (Goebbels) ganz nach Hitlers Vorstellungen. Der Beamtenapparat wurde von unliebsamen Linken gesäubert. Fortan waren nationalistische Schulgebete Pflicht. Der „Rassekundler“ Hans F. K. Günther erhielt einen Lehrstuhl an der Universität Jena. Der Titel seiner Antrittsvorlesung lautete „Die Ursachen des Rasseverfalls des deutschen Volkes seit der Völkerwanderungszeit“. Doppelminister Wilhelm Frick ließ Bücher beschlagnahmen, Komponisten entlassen und Kunstwerke entfernen, etwa von Otto Dix.
Am Ende übertrieb es Frick und fiel 1931 einem Misstrauensvotum zum Opfer. Inzwischen waren die Nazis aber nicht nur in Thüringen zur Massenbewegung geworden. Bei der 1932 parallel zur Reichstagswahl abgehaltenen Landtagswahl erhielt die NSDAP 42,5 Prozent der Stimmen, im Reich waren es 37,3 Prozent. Fortan führten die Nazis die Landesregierung in Weimar, so wie schon in Anhalt, Oldenburg und Mecklenburg-Schwerin. Regierungschef wurde der spätere Massenmörder Fritz Sauckel.
Was Thüringen sehr deutlich zeigt: Die Beteiligung der NSDAP an der Macht – indirekt ab 1924 und direkt ab 1930 – führte nicht dazu, dass die Nazis entzaubert worden sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Absagen vor Kunstsymposium
Logiken der Vermeidung