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Nathan Thrall über Israel und Palästina„Ich hatte Tränen in den Augen“

In „Ein Tag im Leben von Abed Salama“ beschreibt Nathan Thrall die Situation der Palästinenser. Ein Gespräch über die Entstehung des Buchs.

Zwei Städte, getrennt durch eine Mauer: die palästinensische Gemeinde Anata (rechts) und die israelische Siedlung Pisgat Ze’ev Foto: Depositphotos/imago
Leon Holly
Interview von Leon Holly

taz: Herr Thrall, in Ihrem Buch geht es um einen tragischen Busunfall in Jerusalem. Dieser Unfall, behaupten Sie, habe aber auch eine politische Dimension. Können Sie das erklären?

„Der Bus wurde von einem riesigen Sattelschlepper erfasst, wodurch er umkippte und Feuer fing. Sechs Kinder und ein Lehrer starben“

Nathan Thrall, Autor

Nathan Thrall: In dem Bus, der verunglückte, saßen palästinensische Kindergartenkinder. Sie lebten im Großraum Jerusalem, in der von Mauern umgebenden Gemeinde Anata. Die Hälfte der Menschen dort wohnt in einem Gebiet, das Israel im Juni 1967 annektiert hat. Die Menschen zahlen Gemeindesteuern an Jerusalem, erhalten aber praktisch keine Dienstleistungen. Sie leben ohne Bürgersteige, Spielplätze und mit baufälligen Straßen. Sie sind gezwungen, ihren Müll mitten in der Nacht auf der Straße zu verbrennen. Und genau auf der anderen Seite dieser Mauer in Ostjerusalem befinden sich wohlhabende jüdische Siedlungen.

taz: Wie erfuhren Sie von dem Unfall?

Im Interview2Inews: Nathan Thrall

Die Person

Der US-amerikanische Autor und Journalist stammt aus einer jüdischen Familie und lebt seit 2011 in Jerusalem. Bis 2020 arbeitete er als Analyst für die International Crisis Group mit Fokus auf Israel, Gaza und das Westjordanland.

Das Buch

2021 erschien Thralls Essay über einen Busunfall im Großraum Jerusalem in der New York Review of Books. Die deutsche Buchfassung ist kürzlich im Pendragon Verlag erschienen.

Thrall: Ich war mit einer palästinensischen Kollegin auf dem Weg nach Hebron. Wir hörten die Nachrichten über den Unfall im Radio. Von dem Moment an, als ich die Einzelheiten erfuhr, wurde mir klar, dass er für eine viel umfassendere Politik steht, die Palästinenser absichtlich vernachlässigt.

taz: Was meinen Sie damit?

Thrall: Die Kinder haben sich darauf gefreut, einen Ausflug zu einem Spielplatz am Rand von Ramallah zu machen, denn in der ummauerten Enklave, in der sie lebten, gab es keine Spielplätze. Da die Kinder aus Familien kamen, die nicht die richtigen Ausweise haben, um einfach zu den Spielplätzen auf der anderen Seite der Mauer zu gehen, waren sie gezwungen, einen langen Umweg entlang der Mauer zu nehmen und einen Kontrollpunkt zu passieren. Kurze Zeit später wurde der Bus von einem riesigen Sattelschlepper erfasst, wodurch er umkippte und Feuer fing. Sechs Kinder und ein Lehrer starben.

taz: Wer hat den Opfern geholfen?

Thrall: An diesem Morgen waren ausschließlich Palästinenser auf der Straße unterwegs. Die Route 4370 ist eine getrennte Straße mit israelischem Verkehr auf der einen und palästinensischem Verkehr auf der anderen Seite, sie steht aber unter israelischer Verwaltungs- und Sicherheitskontrolle. Die Menschen, die den brennenden Bus sahen, waren ganz normale Menschen auf dem Weg zur Arbeit, die am Straßenrand anhielten und verzweifelt versuchten, das Feuer zu löschen – mit wenig Erfolg.

Zwei Personen, eine Lehrerin und ein Mann, der in der Nähe wohnte, stiegen in den brennenden Bus, zogen die rußverschmierten Kinder heraus und setzen sie auf die Rücksitze von Privatfahrzeugen, die am Straßenrand angehalten hatten. Die Autos mit den Kindern fuhren in verschiedene Richtungen, je nachdem welche Rechte die Inhaber hatten. So konnten einige Kinder in die besseren Jerusalemer Krankenhäuser gefahren werden. Die meisten jedoch nicht.

taz: Sie nahmen dann Kontakt zu den Eltern der Kinder auf, um mit ihnen über das Unglück zu reden.

Thrall: Viele Eltern hatten ein großes Bedürfnis, ihre Geschichte zu erzählen, denn sie lebten in einer Wolke des Schweigens. Ihre eigenen Verwandten erwähnten den Unfall nicht in ihrer Gegenwart, weil es zu erschütternd war. Und als ich kam und sagte, ich würde gerne die ganze Geschichte und Ihre Lebensgeschichte hören, waren sie begierig, sie mir zu erzählen. Ich war der Erste, der zu ihnen kam und ein bedeutsames Ereignis darin sah.

taz: Eine besondere Beziehung entwickelten Sie zu Abed Salama, den Vater des verunglückten Milad.

Thrall: Abed war einer der Ersten, mit dem ich sprach. Von dem Moment an, als er mir in seinem Haus in Anata seine Geschichte erzählte, dachte ich, dass er der Mittelpunkt eines Buches sein könnte. Seine Geschichte hat mich tief bewegt. Ich hatte immer Tränen in den Augen, wenn er erzählte. Auch er hatte Tränen in den Augen, wegen der Dinge, die ich ihn zu erinnern bat. Und jedes Mal entschuldigte ich mich bei ihm und sagte: Es tut mir leid, dass ich das wieder hervorgeholt habe und dir Schmerz bringe. Und er sagte immer das Gleiche: Entschuldige dich nicht. Ich bin wirklich froh, dass ich dieses Gespräch führe, weil ich mich meinem Sohn näher fühle. Wenn ich über ihn spreche, spüre ich, dass er jetzt bei uns ist.

taz: Die Mauer, die Jerusalem trennt, spielt in Ihrem Buch eine große Rolle. Viele Israelis sehen darin einen effektiven Schutz gegen Terror. Können Sie das verstehen?

Thrall: Für mich war es sehr wichtig, in dem Buch beide Blickweisen darzustellen: Sowohl die der Juden als auch die der Palästinenser. So zeige ich die Perspektive des Architekten dieser Mauer, der ihren Verlauf in Jerusalem bestimmte und entschied, dass die Mauer die Gemeinde, aus der die Kinder stammten, umschließen würde. Auch gibt es einen israelischen Armeechef, der als einer der ersten Israelis am Unglücksort war und der glaubt, dass die Mauer die israelische Sicherheit erhöht hat. Es gibt aber einen Unterschied zwischen der Errichtung einer Mauer einerseits und der Errichtung einer Mauer, die explizit bevölkerungspolitischen Zwecken dient. Das offen kommunizierte Ziel dieser Mauer war es, im Raum Jerusalem so viele Palästinenser wie möglich aus dem Stadtzentrum auszuschließen.

taz: Nach dem Busunfall habe es in Israel empathielose Reaktionen gegeben, schreiben Sie.

Thrall: Einige junge Israelis feierten den Tod der Kindergartenkinder im Netz unter ihren Klarnamen. Das zeigt die völlige Entmenschlichung der Palästinenser. Ich behaupte nicht, dass die meisten Israelis so denken, aber es ist eine wichtige Strömung innerhalb der israelischen Gesellschaft und sie wird stärker. Heute sehen wir Soldaten, die Videos von sich posten, in denen sie zivile Infrastruktur in Gaza in die Luft jagen und Palästinenser demütigen. Politiker sprechen offen genozidal über das Aushungern von zwei Millionen Palästinensern oder den Abwurf einer Atombombe auf Gaza. Und der zentristische Präsident Israels sagt, es gebe keine Unschuldigen in Gaza.

taz: Wie hat sich nach dem Angriff der Hamas auf Israel das Leben in Ostjerusalem verändert?

Thrall: In Abeds Gemeinde leben 130.000 Menschen in einer ummauerten Enklave mit zwei Ausgängen. Nach dem 7. Oktober schloss Israel beide Ausgänge. Es brauchte nicht mehr als vier Soldaten, um 130.000 Menschen einzukesseln, und seine Familie konnte die Stadt nicht mehr verlassen. Dazu fielen alle Arbeitsplätze in Israel und den Siedlungen weg. Wie die meisten Großfamilien im Westjordanland ist Abeds Familie für ihren Lebensunterhalt auf diese Arbeitsplätze angewiesen, die wesentlich besser bezahlt sind als die Arbeitsplätze im palästinensischen Sektor. Diese Einschränkung hielt nicht sehr lange an. Aber die weiteren Einschränkungen der Bewegungsfreiheit im Westjordanland bestehen auch heute noch, und es dauert jetzt Stunden, um Entfernungen zurückzulegen, die früher eine halbe Stunde dauerten.

taz: Was hat sich im Westjordanland noch verändert?

Thrall: In den sechs Wochen nach dem 7. Oktober wurden mehr als 1.200 Palästinenser vertrieben und zwangsumgesiedelt. Das Militär setzt bei Luftangriffen jetzt im Westjordanland Waffen ein, die es seit vielen Jahren – seit der Zweiten Intifada – nicht mehr verwendet hat, wie Drohnen und Raketen. Die israelische Armee hat diese Waffen öfter in Gaza eingesetzt, und jetzt tut sie das auch wieder im Westjordanland.

taz: Die englische Originalausgabe Ihres Buches erschien wenige Tage vor dem 7. Oktober. Wie kam Ihr Buch danach an?

Thrall: Seit dem 7. Oktober findet im Jerusalem nur sehr wenig kulturelles Leben statt. Aber Anfang Juli gab es eine Buchvorstellung, bei der Abed und ich gemeinsam sprechen wollten. Wir haben uns sehr bemüht, von den Behörden eine Genehmigung für Abed zu bekommen. Letztlich erhielt er aber keine Genehmigung für eine Veranstaltung, bei der es um sein Leben ging, nur ein paar Kilometer von seinem Haus entfernt, in der Stadt, in der er aufgewachsen ist. Es war ein Spiegelbild der Realität, die dieses Buch beschreiben möchte.

taz: Sie beschäftigen sich auch mit der Geschichte der israelisch-palästinensischen Friedensverhandlungen. Wie könnte der Gazakrieg zu einem Ende kommen?

Thrall: Wenn sich die internationale Gemeinschaft um die Gewaltspirale sorgt, ist sie eher gewillt, Vorschläge zur Lösung zu unterbreiten. Und das sehen wir heute. Seit dem 7. Oktober zeigen andere Staaten mehr Interesse an einer Lösung, sowohl in den USA als auch in Europa. In den letzten Monaten haben europäische Regierungen erstmals den Staat Palästina anerkannt. Wenn Israel in der Vergangenheit territoriale Zugeständnisse gemacht hat, tat es das wegen Gewalt seitens der besetzten Bevölkerung oder wirtschaftlichem oder politischem Druck von außen. Die EU könnte etwa ihr Assoziierungsabkommen mit Israel infrage stellen. In den USA könnten wir dazu übergehen, die Hilfe an Israel an Bedingungen zu knüpfen oder Militärhilfe einzustellen. Davon sind wir noch weit entfernt. Aber diese Schritte könnten Israels Kosten-Nutzen-Kalkulation ändern.

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