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Nahostforscher zur Hamas im Libanon„Hamas ist mutiger geworden“

Die Hamas ist auch im Libanon aktiv. In palästinensischen Geflüchtetenlagern rekrutiert sie junge Menschen, sagt der Nahostforscher Erling Lorentzen Sogge.

Jugendliche spielen Fußball im Flüchtlingslager Shatila in Beirut im November 2023 Foto: Alaa Al-Marjani/Reuters
Julia Neumann
Interview von Julia Neumann

taz: Anfang der Woche hat die Hamas angekündigt, unter Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen im Libanon einen „Vortrupp“ einzurichten. Sie rief Jugendliche auf, sich der „Widerstandsbewegung“ anzuschließen, um Jerusalem „zu befreien“. Was hat das zu bedeuten?

Erling Lorentzen Sogge: Bis vor Kurzem hat die Hamas nicht zugegeben, militärische Einheiten im Südlibanon zu haben. Die Bewegung hat lange Zeit behauptet, dass sich ihr bewaffneter Kampf auf die besetzten palästinensischen Gebiete beschränkt und dass ihre Rolle im Libanon hauptsächlich politisch und sozial ist. Sie hat nicht einmal ihre bewaffnete Präsenz in den palästinensischen Geflüchtetenlagern anerkannt. Nach dem 7. Oktober scheint sich dies geändert zu haben. Die Hamas ist mutiger geworden. Sie hat Berichten zufolge von libanesischem Boden aus Raketen auf Israel abgefeuert und sich zu einzelnen grenzüberschreitenden Anschlägen palästinensischer Geflüchteter bekannt. Die Erklärung, sie habe „den Vortrupp der Aksa-Flut“ [der Hamas-Begriff für den Angriff auf Israel am 7. Oktober] gebildet, waren jedoch sehr vage. Es ist unklar, ob es sich um eine tatsächliche militante Struktur oder nur um eine Idee handelt.

Im Interview: Erling Lorentzen Sogge

ist leitender Dozent für Nahoststudien an der Universität Oslo. Seine Forschungsschwerpunkte sind die palästinensische Nationalbewegung, das soziopolitische Leben in Geflüchtetenlagern und militante, nichtstaatliche Akteure in Palästina und Libanon.

Die Hamas hat die Erklärung einen Tag später bei einer Pressekonferenz in Beirut zurückgezogen. Warum?

Ich weiß es nicht. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass die Erklärung von verschiedenen libanesischen Kräften – insbesondere von denen, die nicht mit der Hisbollah verbündet sind – heftig zurückgewiesen wurde. Nach Israels verheerender militärischer Invasion zur Auslöschung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) 1982 haben sich die palästinensischen Fraktionen im Land zurückgehalten, öffentlich über die Idee der Eröffnung einer „libanesischen Front“ gegen Israel zu diskutieren. Es besteht ein Konsens, dass die Palästinenser die libanesische Souveränität in dieser Angelegenheit nicht herausfordern sollten. Das ist ein politisches Tabu. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Hamas erkannt hat, dass sie mit ihrer Erklärung eine rote Linie überschritten hat.

Wie ist das Verhältnis zwischen der Hamas und der schiitisch-libanesischen Miliz Hisbollah heute?

Die Hamas hat größtenteils ein gutes Verhältnis zur Hisbollah. Sie sind enge Verbündete. Man muss wissen, dass die Hisbollah seit Ende der 1980er Jahre den bewaffneten Kampf auf libanesischem Boden mehr oder weniger monopolisiert hat. Wenn die Hisbollah palästinensische Verbündete an den Kämpfen teilnehmen ließ, dann nur, um Abschreckung zu schaffen oder den Druck von sich zu nehmen. Sie hat ihnen nicht erlaubt, eine führende Rolle zu übernehmen. In diesem Sinne interpretiere ich auch die jüngsten militanten Aktivitäten der Hamas im Libanon sowie anderer Randgruppen, die nach dem 7. Oktober Raketen über die Grenze abfeuerten. Ich gehe davon aus, dass dies in enger Abstimmung mit der Hisbollah geschehen ist.

Im Libanon gibt es zwölf Geflüchtetenlager, die vor Jahrzehnten als Behelfsunterkünfte für Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen angelegt wurden und längst zu überfüllten Stadtteilen für geschätzt 200.000 Menschen geworden sind. Zwischen welchen Fraktionen ist die Macht innerhalb der Lager aufgeteilt?

Grob gesagt gibt es in jedem Lager mindestens zwei konkurrierende politische Gruppierungen. Auf der einen Seite steht die PLO, in der die Fatah die wichtigste Fraktion ist. Auf der anderen Seite gibt es die Allianz der Palästinensischen Kräfte (APF), in der neben der Hamas und dem Palästinensischen Islamischen Dschihad auch pro-syrische Gruppierungen vertreten sind. Wie die Macht zwischen ihnen aufgeteilt ist, hängt von dem jeweiligen Lager ab. Die Camps haben ein sehr komplexes Innenleben und sind ein Mikrokosmos der palästinensischen politischen Landschaft.

Was machen die Fraktionen, insbesondere die der Hamas und der Fatah, in den Lagern?

Die Gruppierungen sind an der Verwaltung der Lager beteiligt und verfügen in der Regel über Sicherheitskräfte oder Milizen, die etwa Straßenecken für sich beanspruchen. Das wird stillschweigend von den libanesischen Sicherheitsbehörden unterstützt, die in den Lagern keine formelle Präsenz haben und die Sicherheitsmaßnahmen mit ihren palästinensischen Gesprächspartnern koordinieren. Sowohl die Fatah als auch die Hamas finanzieren ein komplexes Netz sozialer Einrichtungen innerhalb und außerhalb der Lager, das von Wohlfahrtsprogrammen bis zu Sportvereinen reicht. Beide Parteien sehen sich als Hauptvertreter der palästinensischen Geflüchteten. Sie haben Angst vor rivalisierenden Gruppen.

Was ist über die Rekrutierung von Jugendlichen für die Hamas in den Lagern bekannt?

Im sozialen Bereich investiert die Hamas viel in junge Menschen. Sie betreibt eine Reihe sozialer oder religiöser Initiativen, um die junge Generation zu aktivieren und sie von der Straße fernzuhalten, aber auch, um sie in die Gemeinschaft zu integrieren. Dazu gehören Koranschulen, Fußballmannschaften und kulturelle Veranstaltungen. Es ist auch bekannt, dass sie relativ junge Menschen für politische Ämter rekrutiert. Ich habe viele Hamas-Mitglieder in ihren Zwanzigern getroffen, die zum Beispiel den Erzrivalen Fatah dafür kritisieren, dass er zu einer Bewegung alter Männer geworden ist und jungen Menschen nichts zu bieten hat.

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3 Kommentare

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  • Die Frage ist ja, warum es über 70 Jahre ein Flüchtlingslager im Libanon gibt? Warum wird es den Menschen nicht ermöglicht, sich in den Libanon zu integrieren, damit sie keinen vererbten Flüchtlingsstatus haben? Bei uns leben Syrer auch keine 70 Jahre über mehrere Generationen hinweg in Flüchtlingslagern. Das gleiche in passiert in Jordanien.

    • @casio:

      Weil im politischen System des Libanons - mit durchaus demokratischen Zügen - die politische Partizipation auf der Religionszugehörigkeit fußt.

      Die politischen Ämter werden zu gleichen Teilen auf Schiiten, Maroniten und Sunniten aufgeteilt.

      Dieses System funktioniert bereits seit Jahrzehnten nicht wirklich.

      Vermutlich stimmen auch die Bevölkerungsanteile nicht mehr.



      Christen sind eher in der libanesischen Mittelschicht zu finden, wo man weniger Kinder hat

      Wegen des sozialen Friedens wird das System jedoch nicht angetastet.

      Die Palästinenser sind überwiegend sunnitisch.

      Eine Einbürgerung würden zum starken Übergewicht der Sunniten führen und deshalb dieses System sprengen.

    • @casio:

      Ich nehme an, dass es nationale und internationale Institutionen und Regierungen gibt, für die es vorteilhaft ist, wenn der Flüchtlingsstatus bestehen bleibt. Gründe dafür gibt es sicherlich mehrere. Ursprünglich waren es einmal ca. 700.000 arabische Flüchtlinge und ca. 800.000 jüdische Flüchtlinge.

      Bedauerlich ist meiner Meinung nach, dass die UN das unterstützt. Aber was u.a. die UN und UNRWA angeht, habe ich seit dem gegenwärtigen Konflikt ein paar Illusionen verloren. Ich hoffe sehr, dass nach diesem Krieg neue und bessere Wege für die Menschen in der Region eingeschlagen werden können

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