Nachwahl in Großbritannien: In die Fresse!
Nach langer Dominanz verlieren die Toris einen Wahlkreis an die Liberaldemokraten. Das ist auch ein Votum über Johnsons Politik.
Für den an Wales grenzenden ländlichen Wahlkreis war es das erste Mal in seiner Geschichte, dass dort eine andere Partei als die Konservativen gewann. Die im Landkreis in einem kleinen Städtchen lebende und arbeitende Buchhalterin Morgan setzte sich mit einer Mehrheit von 47,14 Prozent der Stimmen gegen den konservativen Anwalt und Arzt Neil Shastri-Hurst aus der Stadt Birmingham (31,59 Prozent) durch.
Damit verloren die Konservativen eine ihrer sichersten Hochburgen – zum zweiten Mal innerhalb von sechs Monaten. Bereits im Juni hatten die Liberaldemokrat:innen über die Konservativen im südenglischen Wahlkreis Chesham and Amersham in der Nähe von London triumphiert. Bei einer Nachwahl im Londoner Außenbezirk Old Bexley and Sidcup im vergangenen Monat konnte der konservative Kandidat den Wahlkreis zwar gewinnen, fuhr jedoch starke Verluste gegenüber der Wahl 2019 ein.
Im Wahlkreis North Shropshire, in dem die Wähler:innen mehrheitlich für den Brexit gestimmt hatten, hatten die Konservativen 2019 mit 62,7 Prozent der Stimmen die Labour-Party auf den zweiten Platz (22,1 Prozent) vewiesen. Morgan war nur auf zehn Prozent gekommen.
Slogan zieht nicht mehr
Bei der Nachwahl am Donnerstag landete der Labour-Kandidat Ben Wood bei 9,7 Prozent. Die Brexit-Party, die jetzt Reform UK heißt, landete mit 3,7 Prozent hinter den Grünen (4,5 Prozent).
Dieses Wahlergebnis scheint ein Indiz dafür zu sein, dass der Slogan „Get Brexit Done,“ der Johnson zu seinem überragenden Sieg bei der Unterhauswahl 20219 verhalf, nicht mehr zieht
Für die Regierung Boris Johnsons ist dies eine weitere katastrophale Niederlage in einer ohnehin schockierenden Woche, in der sich 100 Tory-Abgeordnete bei einer Abstimmung über 3G-Regeln gegen Johnson gestellt hatten. Sie folgt zudem auf wochenlange Enthüllungen über schludriges Vorgehens bezüglich der Einhaltung von Distanzregeln während des Lockdowns vor einem Jahr. Damals waren in 10 Downing Street und verschiedenen Ministerien Weihnachtsfeiern abgehalten worden, was dem Rest der britischen Bevölkerung untersagt war.
Die Krönung war eine nicht deklarierten Parteispende für eine überteuerte Luxusrenovierung der Wohnung Johnsons in 10 Downing Street, für welche die Partei von den untersuchenden Behörden zu einer Strafsumme verdonnert wurde. Zur Nachwahl war es gekommen, weil sich der vorherige Abgeordnete des Wahlkreises Owen Paterson für ministerielle Lobbyarbeit von zwei verschiedenen Unternehmen gut hatte bezahlen lassen.
Schäbiger Versuch
Paterson wurde nicht nur für einen Monat suspendiert, sondern die Affäre führte auch einem schäbigen Versuch der Johnson-Regierung, die Prüfstelle für parlamentarische Standards abzuschaffen. Gleich am nächsten Tag mussten die Tories die Entscheidung zurückzunehmen.Kurz darauf trat Paterson zurück.
Morgan sagte in ihrer Siegesansprache, dass der Sieg in North Shropshire ein Urteil des britischen Volkes über Boris Johnson sei. „Ihre Regierung, die auf Lügen und Wutausbrüchen fußt, wird zur Verantwortung gezogen werden. Vorbei ist die Zeit von nächtlichen Eskapaden und Chaos.“ „Mister Johnson, Sie sind keine Führungskraft“, sagte Morgan.
Viele von Johnsons Vorgänger:innen hätten das Amt des/der Premierministers/in als nationale Pflicht verstanden, doch in Johnsons Fall gehe es um egozentrisches Verhalten. Sie werde immer auf die Stimmen vor Ort hören, versprach Morgan und dankte den Wähler:innen Labours, die ihr ihre Stimme geliehen und den Weg zum Wahlsieg geebnet hätten.
Zwar hat Johnson immer noch eine Mehrheit von 78 Sitzen. Doch die Frage, die sich viele Konservative nun stellen, ist, ob Johnson auch in Zukunft für die Partei Wahlen gewinnen kann. Es sind jedoch nicht nur die Skandale der vergangenen Wochen und Monate, sondern auch die politische Orientierung Johnsons, die viele stören. Manchen konservativen Schwergewichten ist Johnsons politischer Kurs mit hohen Investitionen im Norden des Landes sowie in das Gesundheits- und Sozialsystem zu Kosten intensiv und die Steuern dafür zu hoch.
Höchste Todeszahlen
Zudem lauert im Hintergrund eine demnächst beginnende Untersuchung zu Johnsons Umgang mit der Pandemie – vor allem zu Beginn. Damals verzeichnete das Vereinigte Königreich die höchsten Todeszahlen in Europa. Wiederholt hatte Johnson bei Entscheidungen zu Lockdowns gezögert.
Weshalb Johnson damals länger brauchte, als andere Länder ist vor allen seit diesen Mittwoch offensichtlich: Druck vom libertären Flügel der Partei. Es ist dieser Brexit-begeisterte Arm der Tories, der Johnson zwar zum Premierminister krönte, sich aber nun offen gegen ihn stellt. Dabei fehlen Johnson Untestützer:innen anderer Flügel, mit denen er es sich bei seinen Attacken auf Theresa May verscherzte.
Von Johnson wird nun eine seriöse Politik gefordert – anders als zu seiner Zeit als Londoner Bürgermeister: Von der nie realisierten Londoner Gartenbrücke über die aufgelöste Stadtmautzone in Westminster, Chelsea und Kensington bis hin zu einem viel zu spätem Vorgehen gegen die Luftverschmutzung. Oder auch sein Versprechen, sich gegen den Ausbau des Flughafens Heathrows zu stellen: Staatdessen zog er es vor, sich einer wichtigen Abstimmung darüber zu enthalten. Die Mehrheit der Londoner:innen hat Johnson das alles bis heute nicht verziehen.
Alle konnten seine Ignoranz gegenüber parlamentarischen Konventionen (verlängerte Parlamentsferien) bereits vor dem Brexit beobachten. Das höchste Gericht des Landes musste ihn schließlich zurechtweisen. Nebenbei weiß das ganze Land von Johnsons wilden Affären während seiner ersten beiden Ehen.
Nerv der Nation
All das war den Konservativen 2019 jedoch egal, da Johnson als laute Stimme für den Brexit klar den Nerv der Nation traf. Diese gierte sehnsüchtig und sentimental nach einer besseren selbst bestimmten Zukunft.
Dennoch hat auch Johnson seine Qualitäten. Als Tory ist er trotz allem sozial-konservativ. Diese Haltung kommt jedoch nicht ohne patriotisch nationalistische Parolen aus, die ihm einst sowohl die Anerkennung des Ex-UKIP-Parteichefs Nigel Farages als auch des früheren US-Präsidenten Donald Trumps verschafften.
Gerade dieser Mix trug auch zu den Erfolgen für die Tories in ehemaligen Labour-Hochburgen bei. Doch scheint der teils populistische Stil der Tories in den alten konservativen Gegenden zunehmend an Zustimmung zu verlieren.
Damit stehen die Ambitionen der Tories, auch in den nächsten zehn Jahren das Land noch zu reagieren, auf dem Spiel. Labour-Chef Keir Starmer versucht dem allen einen glaubwürdigen und verantwortungsvollen Politikstil entgegen zu setzen. Das zu einem Erfolgsrezept werden. Doch wer Johnsons Ruder übernehmen könnte, ist eine andere völlig andere Frage. Dass es diesmal die Liberaldemokrat:innen waren, die die Wahl gewonnen haben, ist beachtlich, aber nicht ungewöhnlich. Ihre weitere Ausrichtung vor allem in den Labour-Regionen, bleibt abzuwarten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml