Nachspielzeit Pro & Contra: Es ist die Hölle! Oder doch nicht?

Zeitschinderei muss nachgespielt werden. Die Argumente für die Nachspielzeit sind stark. Die dagegen allerdings auch.

eine Tafel, auf der sechs Minuten Nachspielzeit angezeigt werden

Das ist zu wenig! Foto: imago/Norbert Schmidt

Nein.

Das Phänomen ist sattsam bekannt: Sobald eine Mannschaft führt, trottet sie bei Auswechslungen langsam vom Platz und hat schlimme „Verletzungen“, die erst besser werden, wenn betroffene Spieler vom Platz getragen wurden. Bei Ecken wird der Schütze gefühlt achtmal gewechselt, ehe der Ball ins Aus gedroschen wird. Oder: Der Torwart nuckelt gemütlich an seiner Wasserflasche, ehe er einen Abstoß schlägt. Mit anderen Worten: Zeitschinderei, der Grund für die Nachspielzeit.

So geschehen auch im Gruppenspiel zwischen Peru und Frankreich: Peru presste aufs Tor, hatte Chance um Chance, als Frankreichs Kylian M’Bappé eine regelrechte Odyssee hingelegt hat, um seine Auswechselbank zu erreichen. Die Peruaner protestierten vehement beim Schiedsrichter, doch dieser winkte ab: M’Bappés Spielverschleppung würde nachgespielt werden. Doch dem war nicht so: Der Schiedsrichter wollte nur vier Minuten den 90 regulären Minuten draufgeben, Perus Schlussoffensive fand kein glückliches Ende.

Solche Szenen waren bei dieser WM kein Einzelfall: Als etwa die definitiv nicht favorisierte Schweiz beim 1:1 gegen Brasilien kurz vor der Sensation einer Nichtniederlage stand, gab es auch bei den Eidgenossen elend lange Auswechslungen und Abstöße; Brasilien hatte keine Zeit mehr, einen Siegtreffer zu schaffen.

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Wer schießt die Tore? Was machen die Fans? Und wie benimmt sich Gastgeber Russland? taz leicht berichtet.

Glücklicherweise wird dennoch während der WM mehr und länger nachgespielt als in Europa (in der Champions League beispielsweise) üblich. Deshalb fallen auch wichtige Tore in der Nachspielzeit, die eben Teil eines Fußballspiels ist und kein sinnloser Zeitbonus. Etwa, um sich den Ball hin und her zu schieben.

Vor allem in der deutschen Bundesliga kommen solche unsportlichen, spieldestruktiven Aktionen wie die Zeitschinderei ungestraft durch. Selten beträgt die Nachspielzeit mehr als läppische drei Minuten, ganz unabhängig davon, wie viel Theater von irgendeinem der Teams zuvor gemacht wurde.

Laut Spiegel Online spielen Amateure in den Partien unterer Ligen sogar rund zehn Minuten mehr netto. Die Schiedsrichter lassen ihnen einfach diese Volten wider den guten Sportsgeist nicht durchgehen.

Wenn Schiedsrichter konsequent die geschundene Zeit nachspielen lassen würden, gäbe es Spiele, die nach den 90 Minuten viel länger als eine Viertelstunde Verlängerung dauern würden. Und das wäre prima so! Denn wer wie Kylian M’Bappé sich in Superzeitlupe vom Platz trödelt, ist einfach nur: unfair. (Jaris Lanzendörfer)

***

Ja.

Sie können guten Gewissens behaupten, jede Minute der mit Ihrem Arbeitgeber vereinbarten Arbeitsstunden voll und ganz Ihrer Arbeit zu widmen? Dann können Sie nach Abpfiff dieses Satzes beim Kollegen nebenan weiterlesen. Wenn nicht, dürfte es Ihnen leichtfallen, Fußballer zu verstehen, die nicht die vollen 90 Minuten durchrennen.

Und Sie dürften zu denen gehören, die wegen der neuen überlangen Nachspielzeit kurz davor sind, die WM zu boykottieren. Wer seinen Job gut macht, der macht ihn nicht mit der Stechuhr, sondern mit Leidenschaft. Wofür andere – beispielsweise Jogis Team – 95 Minuten brauchen, erledigen andere – beispielsweise Schweden – eben in der regulären Spielzeit.

Laut einer Statistik der Fifa wird im Schnitt nur 52 Minuten und 47 Sekunden Fußball gespielt. Die restlichen 37 Minuten finden wegen Spielunterbrechungen ohne Ballbewegung statt. Wer also allen Ernstes glaubt, mit einer Nachspielzeit einem fairen und gerechten Schwiegersohnfußballspiel näherzukommen, bitte.

Von mir aus probieren wir das mal aus: eine ganze WM mit Stechuhr. Voraussichtlich wird es die ödeste WM aller Zeiten. Dafür, dass die Spieler davon abgehalten werden, übermäßig Zeit zu schinden, wird übrigens der Schiedsrichter eingekauft. Der hat sich ins Gefecht zu stürzen und nicht einfach zu denken, dass er ja später noch zwölf Minuten draufschlagen kann. Als ob in der Nachspielzeit nicht genauso Zeit geschunden und Schwalben geflogen werden können.

Schon Sepp Herbergers Erkenntnis lautete nicht: Das Spiel besteht aus 90 Minuten Fußballspiel. Sondern: Das Spiel dauert 90 Minuten. Wer all die verzögerten Balleinwürfe und -abstöße, all die Zeitschindereien und Kloppereien, all das Löcher-in-die-Luft-Starren und Bälle-ins-Aus-Schießen nicht als Teil des Fußballspielens, sondern als Verbrechen betrachtet, der findet auch zuckerfreie Süßigkeiten gut und glaubt, wenn er die isst, gibt das Leben noch ’ne Nachspielzeit. Is’ aber nicht so.

Für keine Verletzung, keine Einwechslung, kein Seitenaus kann das Leben einen vermeintlich unfairen Gegner verantwortlich machen und eine gerechte Spielzeit einfordern. Wer es verpasst hat, in der Zeit, die ihm bleibt, ein Tor zu schießen, der geht ganz einfach mit einer fetten Niederlage vom Platz. So sollte es auch im Fußball sein und bleiben. (Doris Akrap)

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