Nachruf auf US-Kritiker Greg Tate: Von morgen auf heute blicken
Der afroamerikanische Musiker und Kritiker Greg Tate ist am Dienstag überraschend in New York gestorben. Nachruf auf einen formidablen Denker.
Ich lernte Greg Tate Anfang 1992 durch Renée Green kennen. Wir sprachen über Themen wie HipHop und Antisemitismus, Black Nationalism und die Linke und er sagte gleich beim ersten Treffen den Satz über die deutsche, weiße, europäische HipHop-Rezeption, den ich ein halbes Jahr später als Motto über einen Aufsatz in Spex setzte, der sich mit der politischen Unzuverlässigkeit popmusikalischer Aufstände beschäftigte: „Ich liebe es, wie das Zeug bei euch Verwirrung stiftet.“
Renée filmte das Gespräch für ihre rezeptionstheoretische Installation „Import-Export: The Funk Office“, die zufälligerweise gerade jetzt in den Berliner Kunstwerken als Teil ihrer Retrospektive zu sehen ist. Ich stellte damals für die Edition ID Archiv einen Reader mit afrodiasporischer Kulturkritik zusammen, „Yo! Hermeneutics!“, dessen Titel und mehrere Beiträge wurden ebenfalls vom Ironman beigesteuert, wie sich Greg Tate damals in einigen seiner Kolumnen nannte.
In den ersten Nachrufen auf Greg Tate, der am 7. Dezember mit 64 Jahren starb, wird er als „Godfather of HipHop Writing“ gefeiert, aber auch als „Chronist der Schwarzen Avantgarde“, was die Sache noch besser trifft, denn weder auf HipHop noch auf Musik hat er sich beschränkt, zuletzt las man von ihm über den Maler Kerry James Marshall und eine, verglichen mit dem Gegenstand, fast schon heitere, aber dennoch zutiefst beeindruckte Rezension von „Afropessimism“, dem Manifest von Frank B. Wilderson III.
Einzigartige Schriftstimme
Vor allem aber hatte Tate eine einzigartige, unvergessliche Schriftstimme: Man erkannte seinen Ton auf Anhieb, er schrieb einen aus seiner Idee von Jazz-Vernacular, ungebremstem Rap-Einfallsreichtum, radikaler politischer und postmodern-theoretischer Sprache zusammengebrauten verführerischen Mix, bei dem Behauptung und Beschreibung, freundliche Pointenüberraschungen und nicht weniger freundlich daherkommende Sarkasmen, ja Beleidigungen, sich in verführerischer Dichte abwechselten.
Robert Christgau, der ihn zu New Yorks seinerzeit massiv einflussreichem, zahlreiche Autor_innen-Karrieren lancierenden Stadtmagazin The Village Voice holte, soll in ihm, so Tate, den „schwarzen Lester Bangs“ gesehen haben. Bald folgten ihm weitere Schwarze Autor_innen nach (wie dream hampton, Barry Michael Cooper, Scott Poulson-Bryant).
Bald entstanden aber auch weitere Schwarze Publikationen, die auf den auch die politische und theoretische Fantasie anheizenden HipHop-Boom Bezug nahmen und die Tate als markanteste Stimme belieferte, etwa die von Quincy Jones initiierte, ambitionierte glossy Illustrierte Vibe.
Mystisches drittes Ohr
Tate bezeichnete sich als „Black Bohemian Nationalist“ – ideal wäre für ihn die harmonische Loyalität zu beiden Bestimmungen, Bohemianism und Black Nationalism, gelegentlich müsse er aber auch die Entscheidung für nur eine der beiden Orientierungen treffen. Später variierte er, er habe ein Ohr für die Straße, eines für Academia und dann noch ein mystisches drittes Ohr für die Boheme-Ecken von Brooklyn.
Die 1990er, die Zeit, in der sein Schreiben stetig an Einfluss zulegte, war einerseits durch eine Renaissance Schwarzer Kunst, Literatur, Kino und Musik – und neuer Schwarzer Theorie-Stars gekennzeichnet: bell hooks, Henry Louis Gates jr., Cornel West oder Michele Wallace, hier konnte sich Tate einreihen. Andererseits war es eine Zeit eines massiv aufflackernden neuen, alten Rassismus, der seine Antwort nicht zuletzt in dem Aufstand in Los Angeles fand, nachdem die Polizisten, die auf einem Video erkennbar das afroamerikanische Verkehrskontrollenopfer Rodney King hemmungslos misshandelt hatten, freigesprochen worden waren. Klingt alles leider nicht ganz unvertraut, oder?
In diese Zeit fiel auch Tates Entdeckung oder Lancierung des Begriffs oder Programms Afrofuturismus als nachträglicher Überbau verschiedener afrodiasporischer Musikvisionen in Funk, Jazz und Reggae. Meist wird die Erfindung des Begriffs dem Medientheoretiker und -journalisten Mark Dery zugeschrieben, doch der hatte selbst schon Tate die Credits gegeben: Die Werke George Clintons, Sun Ras und Lee Perrys zusammendenkend, dazu die Schwarz-queeren Sci-Fi-Ideen von Octavia Butler und Samuel Delany, entdeckte Tate in der afrodiasporischen Kultur eine Konvergenz von politischer Utopie und posthumaner Technophilosophie, die eben gerade nicht auf Roots bezogen war, wie so viele afrodiasporische Diskurse der 1970er, sondern von einer postrevolutionären Zukunft aus auf die Gegenwart blickte.
Loving the Alien
Ich lud Tate 1997 zu unserem afrofuturistischen Konferenz- und Konzertwochenende „Loving The Alien“ in die Volksbühne ein, wo er seine Ideen auch gegenüber Mitstreiter_innen wie Kodwo Eshun, Skiz Fernando jr., Dietmar Dath, Renée Green und Paul Gilroy erläuterte. Man sah ihn auch später hin und wieder in Berlin und Köln, etwa im HAU und auch wieder in Sachen Sun Ra.
Tate war eigentlich Musiker und wurde es wieder in zunehmenden Maßen in den letzten 20 Jahren. Als Rock-, Funk- und Hendrix-Fan, als Gitarrist und Bassist war es ihm ein Anliegen, Rockmusik wieder als einen Bestandteil schwarzer Kultur zu begreifen und gewürdigt zu wissen: Die von ihm und Vernon Reid (Living Color) noch in den 1980ern begründete Black Rock Coalition trug dazu einiges bei, ebenso Tates grandiose Texte über Bad Brains, James „Blood“ Ulmer, Peter Cosey und andere elektrische Schwarze Gitarrenmusik aller Genres, schließlich seine Jimi-Hendrix-Monografie von 2003.
Im selben Jahr, also lange vor der aktuellen Debatte über Cultural Appropriation, erschien sein Reader „Everything But the Burden: What White People Are Taking from Black Culture“, in dem etwa Vernon Reid am Beispiel von Steely Dan geradezu liebevoll exemplifizierte, wie Appropriation gelebt wird. Wir lesen das nach wie vor aktuelle und trotz allem erstaunlich verständnisvolle Buch gerade dieses Semester wieder an der Kunstakademie.
Schnelle Pointen
Tate war einflussreich und wurde gehört, man konnte mit ihm sehr unkompliziert und unkonventionell über alles reden, sehr schnell zu Punkten und Pointen kommen. Was in dem Entsetzen über seinen frühen Tod besonders wehtut, ist, wie wenig bekannt und unterstützt sein langjähriges Musikprojekt Burnt Sugar wurde.
Tate hatte von dem ebenfalls sträflich unterbekannten Free-Jazz-Musiker, -Dirigenten und -Komponisten Butch Morris dessen sehr spezielle Kompositions- und Dirigiermethode gelernt und auf eine Band (die gelegentlich zum Arkestra anschwoll) angewandt, die sich mit Strawinsky ebenso konsequent rumschlug wie mit James Brown, Miles Davis und – eben auch ein Favorit des vielseitigen Tate – David Bowie.
Die in den letzten 20 Jahren erschienenen mindestens zehn Alben mit Titeln wie „More Than Posthuman: The Rise of the Mojosexual Cotillion“ sind Dokumente einer überbordenden Brillanz, von der definitiv nicht genügend Leute Notiz genommen haben. Auch auf den länger angekündigten Roman warten die Fans schon eine Weile. Greg Tate war die verlässliche Stimme eines ästhetisch politischen Fortschreitens in einer Welt, in der die ästhetischen Spuren politischer Errungenschaften allzu oft unverstanden vergessen oder dem vermeintlichen Zufall ihrer Schönheit zugeschlagen werden.
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