Nachruf auf Juliette Gréco: Viel mehr als eine Muse
Die französische Sängerin und Schauspielerin Juliette Gréco ist tot. Sie brachte der Bundesrepublik der Nachkriegszeit die Ästhetik des Chansons näher.
Naturellement – diese Stimme! Immer war sie da, irgendwie. Wäre es möglich, einen Soundteppich der Nachkriegsjahre zu knüpfen, käme er nicht ohne gründlich hörbare Streifen ihrer Klanglichkeit aus. Er dürfte es nicht. Dunkel im Ganzen, gelegentlich hell, ohne ins Zwitscherige abzurutschen, rauchig im Timbre, als käme ihre vokale Präsenz aus dem ganzen Körper. Juliette Gréco – sie wird jetzt als eine Legende beschrieben, in allem, was über sie zu sagen ist.
Sie war die französische Künstlerin, die den Deutschen, zunächst Ende der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik, später auch in der DDR, die Bühnenästhetik des Chansons nahebrachte, ohne vordergründig sexualisiert wirken zu wollen. Am Mittwoch, 23. September, ist Gréco im Alter von 93 Jahren gestorben.
Die Gréco – das war, so heißt es, die „Muse der Existenzialisten“, die schöne junge Begleiterin von Stichwortgebern zur Zeit wie Jean-Paul Sartre (der ihr Gedichte heraussuchte, zum Singen ihr zugeeignet), Jean Cocteau (der ihr in „Orphée“ eine Chance gab), Boris Vian, Jacques Brel, Leo Ferré oder George Brassens, später Jacques Prévert, François Mauriac oder Albert Camus. Das Gegenteil mag richtiger sein: Die Gréco war immer auch eine Interpretin ihrer Zeit, eine, die sich Texte und Gelegenheiten antragen ließ, um sie für sich selbst als passend zu erwägen.
Sicher ist: Sie kannte, wen man in den hipsterischen Zirkeln eben so kennen musste. Ja, sie kannte die Prominentesten unter ihnen, die kommenden Diskurs- und Künstlerkönige, die damals noch eine Bohème im besten metropol-bürgerlichen Paris verkörperten. Sie hielt sich in den richtigen Kneipen und Bars auf, sie mochte das Jazzige, das Gegenteil des Pariser Gossenlieds, wie es Édith Piaf zum Weltruhm trug.
Gréco hat als Legende überlebt
Die Geister der wichtigen Männer wie Sartre mögen gewichtiger für das Denken gewesen sein – sie hat sie als Legende alle überlebt, weil sie diese Coolness der Zeit ihrer jungerwachsenen Jahre ins scheinbar Ewige weitertrug. Eine Frau, die sich selbst zu bestimmen suchte und dies, als berufstätige Frau, als die sie sich eben auch sah, auch schaffte. Verheiratet mehrfach, auch viele Jahre mit ihrem Lebensfreund Michel Piccoli, war sie eine, die sich das Aussuchen nicht nur leisten konnte, sondern auch wollte.
Die Gréco, geboren in Montpellier, Kind einer Mutter, die in der Résistance kämpfte und im KZ Ravensbrück interniert war, als sie gefasst wurde, diese Gréco hatte, selbst einmal von der Gestapo festgenommen, wie so viele junge bürgerlich orientierte Junge im Frankreich der Nachnazijahre keinen Plan. Aber sie wollte irgendwie über die Runden kommen. War im Übrigen auf eine absolut distinguierte Weise attraktiv – und verstand sich, so sagte sie in Interviews immer wieder, keineswegs als Objekt amouröser Angelegenheiten.
Sie habe immer selbstbestimmt gelebt und sich ihre Amouren selbst ausgesucht, aus dem Moment heraus – und erwartete keine Treue fürs Leben.
Überhaupt das Leben: Das sei im Heute wichtig, das Sterben sei sowieso garantiert, vom Tag nach der Geburt an. Sie wurde, ohne je einen formidablen Nummer-1-Hit gehabt zu haben, zu einer der wichtigsten Künstlerinnenfiguren der Nachkriegszeit. Lieder wie „Déshabillez-moi“, „Les feuilles mortes“, „Accordeon“ – und in den Siebzigern das dem Kampf gegen die griechische Militärdiktatur gewidmete „Mon fils, chante!“ segelten scharf am Wind des Zeitgeistes.
Trauer, Melancholie, Ekstase
Letzteres Chanson, wie alle stets im langen dunklen, schwarzen Kleid vorgetragen, ein pompöses Klein-Epos, sonst stets Texte, die die Liebe und all ihre Schattierungen erörterten, Stimmungen, Atmosphären des Privaten, des Existenziellen – Trauer, Melancholie, Freude, ja, Ekstase, doch ohne den für ihr bürgerliches Publikum so abträglichen Touch des Vulgären. Die Gréco fühlte sich gar nicht beleidigt oder herabgesetzt, nannte man sie eine „Muse“ vieler Männer.
Sie sei eine Projektionsfläche, in die jeder und jede hinein spiegeln könne, was er oder sie wolle – sie sei ein Medium, das auf der Bühne steht und den Applaus, die Spannung vor dem ersten Ton genießt. Sie trat noch vor wenigen Jahren zur große Gala in Paris auf, fast neunzigjährig. In Deutschland war sie dann und wann zu Gast, noch vor einer Dekade in Berlin, in Stuttgart, in Pirmasens.
Im Kreis ihrer Familie ist sie am Mittwoch in ihrem Haus in Ramatuelle im Alter von 93 Jahren gestorben. Nicht nur Frankreich trauert um sie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken