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Nachruf Martin ReichertDer Perlenfinder

Unser Kollege Martin Reichert ist tot. Wir als oft auch freundschaftlich tief verbundene Kolleginnen* müssen gewahr werden, dass er nicht zurückkommt.

Er schrieb Texte von großer Martinhaftigkeit: Martin Reichert, hier auf einem Bild aus dem Jahr 2012 Foto: Wolfgang Borrs

Er hat sich, eben 50 geworden, am Freitag selbst aus dem Leben genommen, und nur er weiß genau, warum das als Akt für ihn überhaupt und tragischerweise infrage kam. Wir sind schockiert, wir weinen, wir trauern um einen liebenswürdigen Mann, der nicht nur im taz-Kosmos seit den frühesten Nullerjahren erheblich am Blühen und Gedeihen der taz beteiligt war, thematisch ohnehin, doch: Er war, soviel muss gesagt sein, den Menschen angenehm, er war in der taz nicht zufällig über etliche Jahre mit besten Abstimmungsergebnissen in den Redaktionsrat, die Instanz der innerredaktionellen Schlichtung, gewählt worden.

Martin Reichert kam in den neunziger Jahren nach Berlin, um an der Humboldt-Universität Kulturwissenschaften und Geschichte zu studieren, besser: „Gedöns für Orientierungslose“, wie er selbst in seiner smarten Art mal sagte. Es lief, ja, es musste auf den journalistischen Beruf hinauslaufen.

Viele seiner späteren Texte erwähnten immer wieder seinen Heimatort Wittlich zwischen Eifel und Mosel, wo er aufwuchs, eine „Variante der Hölle für jene, die nicht den Normen entsprachen“, also für einen wie ihn. Wobei er seine Herkunftsfamilie als Personen nie „verriet“, er liebte sie ja; er suchte über alle Jahre ein Einvernehmen mit ihnen, allerdings dies, wie er sagte, „zu den Bedingungen, dass ich immer wieder in meine Heimat Berlin zurückgehen kann – und ich mein Schwulsein nicht beschweigen muss“.

Die Möglichkeit der Provinz zu entkommen

Berlin – das war für ihn, neben seinem Lieblingskurzreiseziel Paris, die maximale Möglichkeit, der Provinz, der Enge und der Angst vor Missachtung zu entkommen. Wer ihn damals kennenlernte, erkannte, auch ohne von seiner Herkunft zu wissen, dass da einer aufblühte und in der Tat gedeihen wollte: Da war einer, der wie Zehntausende in Berlin metropoles Exil suchte, auf dem Weg zu Ruhm und Schönheit – und beides fand.

Seinen ersten Text schrieb er für Verlagsbeilagen der taz, ehe er in die Redaktion der Wochenendbeilage taz.mag fester einstieg, mit allen möglichen Sorten von Texten, zu gastronomischen Fragen, zu Erlebnissen als studijobbender Taxifahrer, auch zur damaligen Expo in Hannover, gewiss auch zu schwulen Fragen. Sein Stil war unmittelbar, sinnlich, bilderreich, immer.

Martin konnte aus dem drögsten (aber natürlich wichtigen) Thema noch Nektar quetschen. taz2/Medien, das Gesellschaftsressort der taz, 2003 begründet und zunächst innerhalb der taz hochumstritten, war er mit seinen Beiträgen einer der tonsetzenden Autorinnen*, vor allem mit seiner Kolumne „Landmänner“, in der er brandenburgischen Alltag zwischen Baumärkten, Straßensperrungen und Nachwendeerschütterungen schilderte, und das aus seiner Perspektive des schwulen Mannes, der dort in einem Haus mit einem anderen Mann lebte. Der Ort „Kremmen“ ist durch ihn beinahe berühmt geworden.

Nicht minder war er am Aufbau der Sonntaz beteiligt, der Wochenendausgabe, die die samstägliche Tageszeitung + taz.mag ablöste: Auf ihn konnte man, mit der, mal auch lustigen, hin und wieder ernsthaften Delikatesse seiner Textfähigkeiten, bauen, hieß es stets – und so war es auch.

Bücher für Generationen

Er hat schließlich erfolgreiche Bücher geschrieben, unter anderem 2011: „Wenn ich mal groß bin. Das Lebensabschnittsbuch für die Generation Umhängetasche“, schließlich 2018 „Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik“, das Standardwerk zur (überwiegend als „schwul“ markierten) Aidsepidemie seit den frühen achtziger Jahren.

Das taz-Archiv ist voller Perlen aus seiner Feder, sein Journalismus, so liest es sich besonders für frühe Texte, lebte von Recherche und Struktur ohnehin, aber besonders wurden seine Texte durch emotionale – nie sentimentale! – Unmittelbarkeit: Da berichtete einer aus dem Leben, das nicht zuvor von Nachrichtenagenturen gefiltert worden war. Für seine 2006 im taz.mag erschienene Reportage „Adieu, Habibi“, eine Geschichte über den queeren Underground in der libanesischen Hauptstadt Beirut, bekam er den Felix-Rexhausen-Preis zuerkannt.

Vor einigen Jahren, nach einer schweren gesundheitlichen Krise, mit der Einsicht, dass ein Nachtleben seine dauernden Reize hat, aber oft nicht gut mit Gesundheit und Wohlbefinden im Einklang zu bringen ist, lernte er den Mann seines Lebens kennen, den aus Slowenien stammenden Boštjan, ein Medienkünstler, Dozent und Kurator.

Beide rechneten nicht mit mehr als Flüchtigkeit, aber sie ‚erkannten‘ sich – und bauten zwei Nester mit- und füreinander auf – in Berlins Neukölln wie auch an der slowenischen Mittelmeerküste im Städtchen Koper, dort auch sein Corona-Homeofficehauptquartier. Hieraus entsprang auch Martins Kompetenz, über die Verwerfungen in seiner nun zweiten Heimat, um rechtspopulistische Politiken für uns zu berichten.

Ein Altar des Respektes und des Dankes

Manche guckten ihn nicht genau an, sagten über ihn: ach, ein ganz Lieber. Martin hätte diese Charakterisierung nicht als Rufschädigung empfunden. Wahr ist zugleich, dass er als Redaktionsrat in den frühen Zehnerjahren mächtig und mit kühler Präzision die Verwerfungen in der Redaktion ins Friedensmögliche moderierte: Wer sich damals falsch mit ihm anlegte, konnte es mit unhintergehbarer Konsequenz zu tun bekommen. Kolleginnen*, die damals von seinem Engagement profitierten, bauten ihm schon damals einen Altar des Respekts und des Danks.

Im Winter bekam er das Angebot, zum Spiegel zu gehen, in das Kulturressort. Er war, wie zu seinen taz-Anfangszeiten, unsicher, ob er den Druck aushalten könne. Und alle Freundinnen* ermutigten ihn: Wer, wenn nicht Du?

Er schrieb einige Texte, wie immer von größter Martinhaftigkeit.

Eigentlich ging das Leben so weiter, gut und zugewandt. Wir trafen uns zufällig beim Griechen um die Ecke, wollen wir nicht wirklich uns mal echt verabreden? Wie das so ist in der Metropole: Das klappt, aber nicht so oft, dieses Treffen ohne Eile und Hast.

Sein geliebter Mann Boštjan informierte vor kurzer Zeit, seinem Martin gehe es nicht so gut … Am Freitag war für Martin Reichert das Leben, sein Leben für das, was ihn bedrängte, nicht mehr aushaltbar.

Hätten wir etwas merken müssen? Und was genau? Er hinterlässt trauernde Freundinnen* und Angehörige. Und seinen Mann Boštjan, für den gerade die ganze Welt eingestürzt ist.

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15 Kommentare

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  • Ich erfahre erst jetzt von seinem Tod...wie oft war er bei mir, half mir in meinen Anfangsjahren in Berlin mit der Stadt warm zu werden, wir verbrachten Sylvester miteinander und so manchen Abend in der Oranienstraße und IMMER schätzte ich an ihm seinen subtilen, feinen Humor und er an mir wohl meine Direktheit....ja...und wir verloren uns aus den Augen vor einigen Jahren..dabei hatten wir u.a. die gemeinsame Liebe zu Beirut.



    Ach Martin, Mensch, ich werde dich EHRLICH vermissen!!!

  • Ich bin eigentlich stiller Mitleser auf taz.de, habe mich aber für diesen Kommentar registriert.

    Ich habe deine Beiträge immer gern gelesen, Martin. Vielen Dank dafür!

    Mein Beileid an Bostjan, seine Freunde und seine Kollegen.

  • Wie traurig! Was ist da geschehen? Wir werden es wohl nie erfahren.



    Seine Texte haben mich berührt. Sein Weggehen rührt mich auch.



    Ruhe in Frieden! Auch wenn ich Dich nie kennenlernen durfte.

  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)

    Der Auch-Pfälzer Arno Frank hat bei spiegel.de einen schönen Nachruf geschrieben:



    www.spiegel.de/kul...-a6ff-41d56a0a60f4



    Trauer. Im Mai.



    „Melancholie und Freude sind wohl Schwestern



    Und aus den Zweigen fällt verblühter Schnee....“



    (Erich Kästner)

    • @95820 (Profil gelöscht):

      Danke & anschließe mich



      Quel homme

  • Oh, Mensch, einer meiner liebsten taz-Autoren, vielleicht auch, weil er, aus der meiner Mittelgebirgsheimat benachbarten Eifel stammend und als schwuler Mann in die Großstadt "ausgewandert", mich immer an einen meiner besten Schulfreunde erinnert hat - vor 30 Jahren war schwules Leben im ländlichen RLP nahezu undenkbar.

    Die ganz persönliche Tragik des eigenen Lebens, die geliebte Menschen diese letzte Schwelle überschreiten lässt, bleibt, wörtlich, unfassbar.

    Danke, Jan Feddersen, für diesen liebevollen und aufrichtigen Nachruf, dieses persönliche Adieu.

  • Obwohl ich den Autor nicht kannte, möchte ich anregen, seine Herkunft nicht in die "Pfalz" zu verlegen. Wittlich liegt in der Wittlicher Senke, durch welche die Lieser fließt, die in die Mosel mündet. Das ist der andere Teil von Rheinland-Pfalz. Man spricht doch auch anders als in der Pfalz. Aber nichtsdestotrotz herzlichen Dank für den Nachruf, den ich mit Gewinn gelesen habe: R. I.P. Martin Reichert.

    • @Dr. Hannes Platz:

      Klar - die Pälzer inne Palz & die Saarländer inne Saar.



      Aber in Wittlich - eben auch nicht alles Mosel - was rollt!



      “1912 wurde in Wittlich das erste deutsche Jugendgefängnis errichtet, das auch heute an die Justizvollzugsanstalt Wittlich angrenzt.“



      & Däh



      “Am 9. November 1974 starb der RAF-Terrorist Holger Meins in der Wittlicher Justizvollzugsanstalt an den Folgen eines Hungerstreiks.“



      & Rudi Dutschke - ✊ -



      “Holger - Der Kampf geht weiter!“



      encrypted-tbn0.gst...Aqrkbp4gg&usqp=CAU



      &



      de.wikipedia.org/wiki/Wittlich

  • Ach, Martin, wie traurig! Ich weiß noch wie heute, wie wir in Deinen frühen taz-Jahren erst gute Paris-Adressen ausgetauscht haben, dann gemeinsam über die zu kühle Nordseite unseres Mietshauses gelacht haben mit den Balkonen raus zum Landwehrkanal, später genau dort manchmal saßen, in Decken gehüllt, weil nur von meinem aus der Sonnenuntergang zu sehen ist, und dabei Welten geteilt haben: "anecdotes de Paris" gegen Jargon für meine Untertitelung von Kinofilmen mit LGBTI*-Hintergrund, Begriffe, die außerhalb der Kreise nicht weit verbreitet waren, dazu gerne Salat und Dessert und Bier oder Wein, Methode "auberge espagnole". Nach Deinem Wegzug in eine andere Neukölln Straße hatten wir nur noch flüchtigen Kontakt, wussten aber, was der andere macht. Deine wohlwollende Freundlichkeit wird jetzt auch mir fehlen. Mach' es gut — dort, wo Du jetzt bist! C.

  • Ein toller Journalist! Ich werde seine klugen Texte vermissen.

  • Martin Reichert verdanke ich viel, zum Beispiel kannte ich Boris Pahor nicht und über Triest wusste ich nicht, wie stark es eine Vielvölkerstadt war bzw. Slowen*innen dort in der Mehrheit waren. Es hat mich einerseits beschämt, dieses alles nicht zu wissen, aber andererseits habe ich mich durch die Artikel so sehr beREICHERTt gefühlt und war dankbar.

    taz.de/Autor-Boris...schismus/!5548913/

    taz.de/Nachruf-auf...is-Pahor/!5857559/

    Wie gerne hätte ich noch mehr von Martin Reichert gelesen, ,,notfalls" auch als Spiegel-Journalist...

    Danke für diesen sehr einfühlsamen Nachruf.

    Mein Beileid (an Herrn Bostjan; an die TAZ)

    aber eigentlich fehlen mir die Worte.

  • Oh Mann, was fuer ein Schock! Martin Reicherts Texte habe ich immer mit Genuss und Gewinn gelesen. Bostjan, und ebenso der Familie und den Freund:innen und Kolleg:innen wünsche ich die notwendige Kraft, diesen plötzlichen Verlust zu ueberstehen.

    • @Volker Scheunert:

      Ich schließe mich an.

      • @Jim Hawkins:

        anschließe mich

      • @Jim Hawkins:

        anschließe mich