Nachfolge für 9-Euro-Ticket: Anschluss fast schon verpasst

Das 9-Euro-Ticket im ÖPNV ist populär. Es gibt Vorschläge für ähnlich preisgünstige Fahrkarten. Aber keiner kommt von Verkehrsminister Wissing.

Ein roter Regionalzug steht an einem Bahnsteig. Hinter ihm ist eine Wand zu sehen, auf die ein großes schwarzes S gesprayt ist

Über 20 Millionen Menschen haben das 9-Euro-Ticket in Deutschland bisher gekauft

Wer nach der enormen Resonanz auf das 9-Euro-Ticket auf ein attraktives Anschlussticket im September hofft, wird von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) ausgerechnet zur Halbzeit des einmaligen ÖPNV-Projekts enttäuscht: Im November würden belastbare Daten vorliegen, dann werde geprüft, wie es weitergehe, kündigte er in dieser Woche an.

Julia Verlinden, Grüne

„Wir wollen ein einfaches, günstiges Ticket und entschiedene Investitionen in den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs“

Sechs Wochen nach dem Start der 9-Euro-Tickets am 1. Juni ist die Diskussion über ein Anschlussprojekt voll entbrannt. Die Flatrate für den öffentlichen Nahverkehr in ganz Deutschland ist im Juni, Juli und August erhältlich, danach dürfte nach jetzigem Stand der alte Tarif­dschungel im ÖPNV mit hohen und regional sehr unterschiedlichen Preisen zurückkehren. Ist erst einmal wieder alles beim Alten, droht die jetzige Dynamik zu verpuffen.

Doch der Bundesverkehrsminister hat es offenbar nicht eilig. Die Grünen wollen das nicht hinnehmen. „Wir wollen für das 9-Euro-Ticket eine Anschlussregelung zum 1. September“, sagt die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Julia Verlinden der taz am Wochenende. „Hierüber wird es sicherlich noch Gespräche geben, Ende des Jahres oder Anfang nächsten Jahres kämen diese zu spät.“ Auf ein konkretes Modell wollen sich die Grünen nicht festlegen. „Wir wollen ein einfaches, günstiges Ticket und entschiedene Investitionen in den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs“, sagt Verlinden. Auch in der SPD fordern immer mehr Stimmen ein Anschlussprojekt.

Die Opposition macht Druck. „Das erfolgreiche 9-Euro-Ticket muss bis Ende des Jahres fortgeführt werden“, sagt Bernd Riexinger, Sprecher für nachhaltige Mobilität der Linksfraktion. „Als Anschlusslösung fordern wir die Einführung eines 1-Euro-Tagestickets und für bestimmte Gruppen wie Schüler, Azubis, Studierende und Menschen ohne eigenes Einkommen einen Nulltarif im ÖPNV.“ Sozialverbände und die Deutsche Umwelthilfe sind ebenfalls für die Einführung eines 365-Euro-Jahrestickets für den Nahverkehr, das bundesweit gültig ist. Dafür macht sich auch CSU-Chef Markus Söder stark.

Es gibt viele Vorschläge für ein Nachfolgeprojekt. Die Verbraucherzentralen etwa fordern ein 29-Euro-Monatsticket. Der Verband der Verkehrsunternehmen (VDV) ist für ein 69-Euro-Monatsticket für ganz Deutschland. Ab 2023 wären dafür zusätzliche 2 Milliarden Euro im Jahr erforderlich, beim 365-Euro-Jahresticket wären es etwa 4 Milliarden.

Änderungen im ÖPNV gehen nicht von heute auf morgen. „Wenn bis Ende dieses Monats keine Entscheidung über ein Anschlussmodell getroffen wird, wird es schwierig“, sagt ein Sprecher des VDV. Als Übergangslösung fordert der Verband deshalb eine zweimonatige Verlängerung des 9-Euro-Tickets. Dann hätten Bund und Länder genug Zeit, eine Lösung zu finden. Die Frage ist aber, ob die FDP das überhaupt will. Ein Anschlussprojekt zum 1. Januar müsste bereits im September beschlossen werden. Im November, wie dem Bundesverkehrsminister vorschwebt, ist es dafür zu spät.

Die abschließende Auswertung der Marktforschung zum 9-Euro-Ticket wird erst im Herbst vorliegen. Bund und Länder haben den VDV und die Deutsche Bahn mit der Marktforschung zu dem Projekt beauftragt, weil die bereits große Rahmenverträge mit Meinungsforschungsinstituten hatten. Dabei handelt es sich nicht um eine große wissenschaftliche Studie mit Untersuchung der Verkehrsströme, sondern um eine reine Befragung, etwa zur Nutzung auf dem Land oder zum Umstieg vom Auto auf Bus und Bahn. Der Abschlussbericht liegt zwar erst im Herbst vor, aber es gibt Zwischenergebnisse.

Fest steht, dass das 9-Euro-Tickets ungeheuer populär ist, 98 Prozent der Bür­ge­r:in­nen kennen es. Mehr als 20 Millionen haben es gekauft, für 10 Mil­lio­nen Stamm­kun­d:in­nen mit Abokarte gilt es automatisch. Die bekommen den Preis über 9 Euro erstattet, mitunter weit über 100 Euro im Monat. Durch das 9-Euro-Ticket haben in diesem Sommer viele Menschen, gerade Familien, die Möglichkeit zu Ausflügen, die für sie ansonsten unerschwinglich wären. Das 9-Euro-Ticket hat als Teil des Entlastungspakets, mit dem die Bundesregierung die steigenden Energiekosten abfedern will, den gewünschten Zweck erfüllt. Und nicht nur das. Gut jeder Fünfte hat laut den vorläufigen Ergebnissen der Marktforschung vor dem 9-Euro-Ticket den ÖPNV nicht genutzt – das sind rund 4 Millionen Menschen. Jede vierte Fahrt wäre ohne die günstige Fahrkarte nicht angetreten worden.

Nach Daten des Navigationsdienstleisters TomTom entlastet das 9-Euro-Ticket die Straßen. Das Unternehmen hat den Verkehr in 26 Städten analysiert. In 23, etwa in Hamburg oder Wiesbaden, gab es einen deutlichen Rückgang der Staus im Berufsverkehr. Auch eine Kalkulation der Umweltorganisation Greenpeace kommt zu dem Ergebnis, dass es eine Verlagerung vom Auto auf Busse und Bahnen gibt.

Vor Einführung des 9-Euro-Tickets vertrat die Nahverkehrsbranche den Standpunkt, dass zunächst der ÖPNV ausgebaut werden müsse und erst dann die Preise attraktiver werden sollten. Das hat sich geändert. „Wir wollen den Schwung neuer Fahrgäste mitnehmen, den wir jetzt bekommen haben“, sagt der VDV-Sprecher. Doch dazu brauchen die Unternehmen dringend mehr Geld. Denn die steigenden Energiepreise machen ihnen zu schaffen. Ohne zusätzliche Mittel für den ÖPNV und ohne Anschlussprojekt drohe den Fahrgästen in den kommenden Monaten ein dreifacher Schock: Am 1. September erleben sie durch die Rückkehr zu den alten Tarifen eine gefühlte Preiserhöhung, viele Verkehrsbetriebe dünnen aus Geldnot ihr Angebot aus und mit dem nächsten Fahrplanwechsel oder zum Jahreswechsel müssen sie mehr zahlen.

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