piwik no script img

Nach tödlichen Schüssen auf Lamin TourayKeine Verfahren gegen Polizisten

Die Staatsanwaltschaft Verden stellt die Ermittlungen gegen alle 14 Po­li­zis­t*in­nen ein – auch die gegen den suspendierten rassistischen Beamten.

Nach dem Tod von Lamin Touray am Karsamstag: Demonstrierende fordern Gerechtigkeit Foto: Michael Trammer

Ein gutes halbes Jahr nach den tödlichen Schüssen auf den 46-jährigen Gambier Lamin Touray hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen 14 Po­li­zis­t*in­nen eingestellt. Die 14 Einsatzkräfte seien in Lebensgefahr gewesen und hätten die Waffen als letztes Mittel eingesetzt, so die Begründung der Behörde. Die Schüsse seien gerechtfertigt gewesen, weil durch zwei Messerstiche in Richtung der Be­am­t*in­nen unmittelbare Lebensgefahr bestanden habe. „Um es milde zu sagen, finde ich das Vorgehen der Staatsanwaltschaft ungewöhnlich“, sagt Thomas Bliwier der taz dazu am Telefon. Der Anwalt vertritt Angehörige von Lamin Touray.

Seit Touray am Karsamstag auf der Terrasse seiner Wohnung im niedersächsischen Nienburg an der Weser von Po­li­zis­t*in­nen erschossen worden war, hatte die zuständige Staatsanwaltschaft Verden geprüft, ob es sich um Notwehr handelte. Wie umfangreich jedoch ermittelt, Zeu­g*in­nen gehört und Beweise gewürdigt wurden, kann Thomas Bliwier nicht sagen, weil er die Akte des Falls erst mit der Einstellung des Verfahrens am vergangenen Freitag erhalten habe.

Das sei bedenklich, denn so habe er vorab keine Möglichkeit gehabt, Anregungen einzubringen. Bliwier legte Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens gegen die Po­li­zis­t*in­nen ein. Schon allein, um Zeit zu haben, sich mit der Akte gründlich beschäftigen zu können, sagt er. Die Staatsanwaltschaft prüft nun, ob die Ermittlungen wieder aufgenommen werden müssen.

Im Obduktionsbericht steht, dass Touray acht Kugeln trafen, Herz und Leber wurden zerstört, zwei Kugeln waren tödlich. Das Niedersächsische Polizeigesetzes schreibt fest, dass Schusswaffen gegen Menschen nur als letztes Mittel eingesetzt werden dürfen, wenn also jemand in großer Gefahr ist. Mildere Mittel wie Ansprachen, Pfefferspray, der Einsatz eines Polizeihundes oder die Drohung mit der Waffe seien laut Staatsanwaltschaft bei dem Einsatz in Nienburg wirkungslos geblieben. Der Angreifer habe sich nicht beschwichtigen lassen.

Die Schüsse seien dann letztlich in einer „hochdynamischen Bedrohungslage“ gefallen. Das habe die Auswertung des Notrufs, Aufnahmen zweier Bodycams, ein waffentechnisches und ein rechtsmedizinisches Gutachten ergeben, so die Staatsanwaltschaft.

Schütze konnte nicht ermittelt werden

Im Falle der Polizistin, die bei dem Einsatz von einer Kugel oder einem Kugelfragment in den Oberschenkel getroffen und schwer verletzt worden war, wurde kein Projektil am Tatort gefunden. Es konnte daher auch nicht ermittelt werden, welcher Kollege oder welche Kollegin sie getroffen hat.

Die Ereignisse am Karsamstag in Nien­burg sorgten überregional für Aufregung, auch weil eine Nachbarin die letzten Sekunden im Leben von Lamin Touray gefilmt hat. In diesem Video ist auch die Schussabgabe dokumentiert. Zunächst sind zwei Schüsse zu hören, dann nach kurzer Pause fünf weitere und dann ein zeitlich abgesetzter weiterer Schuss. Die Szene zeigt einen undeutlichen Ausschnitt der Situation.

Anzahl und Abfolge der Schüsse sorgten dafür, dass der Niedersächsische Flüchtlingsrat, Hinterbliebene von Touray und Un­ter­stüt­ze­r*in­nen der Familie früh die Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Polizeieinsatzes stellten.

Touryas Freundin sagte wenige Tage nach der Tat im Gespräch mit der taz, sie habe den Notruf gewählt, da ihr Freund sich in einem psychischen Ausnahmezustand befunden habe. Bereits am Abend vor den tödlichen Schüssen habe sie versucht, Hilfe für ihren Freund zu rufen – erfolglos. Am Morgen des Karsamstags dann wählte Tourays Freundin erneut den Notruf. Damit begann der tödlich endende Polizeieinsatz.

Als die Po­li­zis­t*in­nen eintrafen, traten sie die Tür zu Tourays Wohnung auf und die Lage eskalierte immer weiter. Vor Ort habe die Freundin angeboten, so schildert sie es der taz, ihren Freund zu beruhigen und ihn zur Aufgabe zu überreden. Das habe man ihr aber nicht gestattet und stattdessen einen Hund eingesetzt. Kurz darauf fielen die Schüsse auf der Terrasse, wohin Touray mit einem Messer in der Hand geflohen war. „Statt zu helfen, haben sie ihn wie ein Tier im Wald erschossen“, sagte Tourays Freundin. Zur Einstellung des Verfahrens gegen die Po­li­zis­t*in­nen will sie sich nicht äußern.

Recherchen der taz hatten ergeben, dass einer der beiden Diensthundeführer, die an dem Einsatz beteiligt war, auf seinen zwei Facebook-Profilen allerlei extrem rechte Inhalte und Verschwörungsideologien verbreitete. Kurz nach dem tödlichen Einsatz postete er etwa ein Video, in dem es heißt: „Man flutet unser Land mit kulturfremden Menschen.“ Gegen den Diensthundeführer wird seither disziplinarrechtlich ermittelt und dessen Verfassungstreue wird geprüft. Er ist vom Dienst freigestellt.

Hierzu möchte ich deutlich sagen, dass wir den Vorwurf von einigen Seiten widerlegen können, dass unterstellte Rassismus- oder Diskriminierungsthemen hier in irgendeiner Form eine Rolle gespielt haben

Tanja Wulff-Bruhn, Präsidentin der Polizeidirektion Göttingen

Die Präsidentin der Polizeidirektion Göttingen, Tanja Wulff-Bruhn, der die Dienstelle in Nienburg unterstellt ist, äußerte sich erleichtert zu Einstellung des Verfahrens gegen die Po­li­zis­t*in­nen und betonte, es gebe keinerlei Zusammenhang zwischen den möglichen verfassungsfeindlichen Einstellungen des Hundeführers und dem Einsatzverlauf. „Hierzu möchte ich deutlich betonen, dass wir den Vorwurf von einigen Seiten widerlegen können, dass unterstellte Rassismus- oder Diskriminierungsthemen hier in irgendeiner Form eine Rolle gespielt haben“, so Wulff-Bruhn.

Aber die Posts des Diensthundeführers bleiben trotzdem. Und dann sind da noch die Ergebnisse einer aktuellen Studie der Polizeiakademie Niedersachsen zu strukturellem Rassismus. Ein Jahr lang wurden Einsatzkräfte in ihrem Alltag begleitet und es zeigte sich, dass Po­li­zis­t*in­nen sich gegenüber bestimmten Personengruppen „grundsätzlich machtbetont verhalten“. Der Verdacht, dass rassistische oder rechtsextreme Einstellungen das Verhalten der Po­li­zis­t:in­nen und den Verlauf des Geschehens in Nienburg beeinflusst haben könnten, lasse sich also nicht pauschal von der Hand weisen, heißt es vom Flüchtlingsrat Niedersachsen. Der gesamte Fall müsse aufgeklärt werden.

Bereits kurz nach Tourays Tod demonstrierten Angehörige und Un­ter­stüt­ze­r*in­nen in Nienburg. Angeführt von seiner Mutter und Schwester. Unter Tränen richteten sie sich an die Behörden, forderten lückenlose Aufklärung.

Vorgehen der Polizei muss geprüft werden

Vor allem die Schilderungen von Tourays Freundin gegenüber der taz sowie die eines Augenzeugen, der angab, die Polizei habe nicht deeskalierend gewirkt, sondern die Stimmung erst zum Kippen gebracht, haben Fragen aufgeworfen. Eine ist, wieso es 14 Po­li­zis­t*in­nen in einem mehrere Stunden andauernden Einsatz nicht gelungen ist, den offenbar verwirrten Touray zu beruhigen und sich dabei selbst nicht in Gefahr zu bringen.

Das polizeiliche Vorgehen in derartigen Situationen müsse einer grundsätzlichen Revision unterzogen werden. „Polizeibeamt:innen müssen in solchen Einsätzen deeskalierend wirken und dafür auch entsprechend geschult werden“, sagt Muzaffer Öztürkyilmaz vom Flüchtlingsrat Niedersachsen. „Wenn man auf die tödlichen Polizeieinsätze in Niedersachsen blickt, hat es den Anschein, dass überhaupt keine Konsequenzen aus solch tragisch verlaufenen Vorfällen gezogen werden.“

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

18 Kommentare

 / 
  • In welcher Zeit sollen die den da sein? Nach frühestens 2 Stunden oder wie stellen Sie sich das vor? Sollte in jeder Wache ein Psychologe sitzen oder in jeder 25ten?



    Welche Sprachen sollte er alle beherrschen? ....



    Außerdem, wer würde freiwillig in eine solche Situation gehen bei der relativ bescheidenen Besoldung als Beamter gegenüber einer eigenen Praxis mit Privatpatienten.



    P.S. Niemand muss mit einer Waffe rumlaufen.

    • @Reinero66:

      Der Mann ist nicht mit einer Waffe herumgelaufen.



      Er befand sich in seiner Wohnung. Die Polizei hat die Tür zu seiner Wohnung eingetreten und ihn offensichtlich bedrängt.



      Es bestand vor dem aggressiven Eingreifen der Polizei keinerlei Gefahr für niemanden. Die Freundin des letztendlich Getöteten hatte um Hilfe für ihn gebeten, weil er in einem psychischen Ausnahmezustand war.



      Meiner Ansicht nach haben sich die PolizistInnen durch ihr eigenes Vorgehen erst selbst in die vermeintliche Notwehrsituation gebracht.



      Vor dem Eintreten der Haustür wäre es sicher möglich gewesen, auf fachliche Unterstützung zu warten.



      Aber ich fürchte, die haben den Menschen nicht als hilfebedürftig gesehen, sondern wollten nur, ganz offensichtlich um jeden Preis, "Ordnung schaffen".



      Hier kann man durchaus mit Schulungen erreichen, dass ein solcher Tunnelblick gar nicht erst entsteht, sondern die Interessen aller Beteiligten an körperlicher Unversehrtheit gewahrt bleiben.

  • Nach dem Video, das kursierte, war das zu erwarten.

    Es unterstützte nicht die Sichtweise der Freundin.

  • @PEERTUBA

    Dann ist wohl besser, die Polizei bleibt weg?

    Ihrer Aussage nach macht die Polizei ihren Job schlechter, als irgendwelche Nachbar*innen "mit Stangen, Schaufeln und Stühlen"?

  • Hier vermischt der Autor doch einiges.

    Wenn der bzw. die Schützen nicht ermittelt werden können, dann ist das Verfahren einzustellen. Im übrigen ist eine Notwehrlage recht naheliegend.

    Für das Strafverfahren ist es dann auch vollkommen egal, ob es angeblich irgendwelche Tendenzen gibt, wer welche Hautfarbe hat und ob die Situation politische Konsequenzen nach sich zieht oder auch nicht.

  • Liebe taz, bitte hört mal mit den geschwurbel auf, lest die Akte und betreibt Journalismus. Immer das aufgreifen von Mutmaßungen von Dritten bringen nichts.

    Und akzeptiert endlich, dass Messer hochgefährlich sind und nicht der „kleine“ Bruder der Schusswaffe. Und ja, die werden häufig in psychischen Ausnahmesituationen genutzt. Aber wenn mit dem Rumhantiert wird, wird auch geschossen…

  • 6G
    611245 (Profil gelöscht)

    Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus. Ahja.



    Noch gar nicht so lange her, da wurde Emra I. in München erschossen. Noch erinnerlich? www.tagesschau.de/...-muenchen-102.html

    Das hat nix mit Rassismus, sondern einfach mit der Bedrohungslage zu tun.



    In Essen gestern hatten alle Beteiligten Glück, dass arabische Anwohner den syrischen Täter mit Stangen, Schaufeln und Stühlen isolieren und in die Ecke treiben konnten.



    Wäre der mit seiner Machete auf die zwei Polizisten oder eben die Anwohner losgegangen, bliebe nichts als der Schusswaffengebrauch.

    • @611245 (Profil gelöscht):

      Würde dem Teil hier schon Bedeutung beimessen:

      Vor allem die Schilderungen von Tourays Freundin gegenüber der taz sowie die eines Augenzeugen, der angab, die Polizei habe nicht deeskalierend gewirkt, sondern die Stimmung erst zum Kippen gebracht, haben Fragen aufgeworfen. Eine ist, wieso es 14 Po­li­zis­t*in­nen in einem mehrere Stunden andauernden Einsatz nicht gelungen ist, den offenbar verwirrten Touray zu beruhigen und sich dabei selbst nicht in Gefahr zu bringen.

      Sie können evtl. auch nochmal das verlinkte Interview taz.de/Kriminologe...schuesse/!6000538/ lesen. Das sieht m.e. nach insgesamt nach einem vermeidbaren Toten aus, der aber Aufgrund unzureichender Ausbildung und vermeidbarer Eskalation erschossen wurde. Und so etwas wie Rassismus kann da auch mit eine Rolle gespielt haben.

      Finde es auch ziemlich unpassend bis geschmacklos, wie sie den Fall hier mit dem eines ihren Artikels nach „versuchten Terroranschlag eines mutmaßlichen Islamisten“ in München und der Tat bzw. den Taten in Essen, welche ich erstmal im Bereich Femizid „Versuch“ verorten würde, vergleichen bzw. in Zusammenhang bringen.

    • @611245 (Profil gelöscht):

      Was hat das mit der hier geschilderten Situation zu tun? Hier ging es nicht um einen Täter, der auf andere losgegangen ist, sondern um jemanden in einer psychischen Krise, dessen Freundin Hilfe für ihn gerufen hat. In einem anderen Fall soll Schusswaffengebrauch unausweichlich gewesen sein und deshalb in allen anderen Fällen auch? Der Täter in Essen war hochaggressiv und konnte ohne Schusswaffengebrauch überwältigt werden. Ich kann ihrer Arfumentation nicht folgen.

  • Warum werden keine Psychologen/Psychiater bei solchen Einsätzen hinzugezogen?

    • @pablo:

      Was hätte ein Psychologe vor Ort denn eruieren können? Dass der Herr offensichtlich nicht zurechenbar war ist ja den Polizisten vor Ort anscheinend auch aufgefallen. Wenn so eine Situation kocht hilft Ihnen kein Psychologe der Welt die magischen Worte zu finden oder das Leiden durch Handauflegen zu beschwichtigen.

      • @Ashenvale:

        Direkt die Tür einzutreten war der Zurechnungsfähigkeit sicherlich sehr förderlich.

    • @pablo:

      Das ist Aufgabe des zuständigen Gesundheitsamtes. Dafür beschäftigen sie solche Leute.

      Sobald da jemand aber ein Messer in der Hand hat, ziehen die sich zurück.

      Dann wollen die auch, dass die Polizei sich kümmert.

    • @pablo:

      Mildere Mittel wie Ansprachen, Pfefferspray, der Einsatz eines Polizeihundes oder die Drohung mit der Waffe seien laut Staatsanwaltschaft bei dem Einsatz in Nienburg wirkungslos geblieben. Der Angreifer habe sich nicht beschwichtigen lassen.

    • @pablo:

      Weil Psychologen für solche Einsätze nicht verfügbar sind. Weil Sie auch nicht wollen, dass ein mit einem Messer bewaffneter extrem gefährlicher Mensch in Ihrer Nähe lediglich von einem Psychologen behandelt wird. Weil es sein kann, dass der Psychologe keinen Erfolg hat und am Ende mehrere Menschen tot oder schwer verletzt sind.

      War da grade nicht wieder einer mit einer Machete unterwegs?

      Wenn mir so einer begegnet, dann ist es mir sehr recht, wenn mich ein Polizist mit einer Schusswaffe davor beschützt, dass mir ein Arm oder der Kopf abgehackt wird. Ob der psychisch labil war ist mir dabei reichlich egal.

    • @pablo:

      Sinnvolle Idee. Es gibt aber wohl zuwenige Fachpersonen, die als Notfalleinsatz verfügbar sind.

      • @aujau:

        Bräuchte es noch nichtmal.



        Entsprechend geschultes Personal seitens der Polizei würde vollkommen reichen, dass dies in der Ausbildung der Polizisten*innen leider stark vernachlässigt wird, ist ja ein offenes Geheimnis und ein Missstand der schnellstens behoben gehört.