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Nach rassistischem Attentat in HanauDie Routine

Für viele war es nur ein weiterer Skandal. Unsere Autorin denkt seit dem rassistischen Attentat in Hanau an jedem 19. des Monats an die Opfer.

Erinnerung im Stadtbild: Plakate mit Gesichtern der Opfer des Attentats in Hanau Foto: Petra Schrott

R outinen gelten als gesund. Zu Beginn der Pandemie habe ich gelesen, dass es besonders wichtig sei, sich neue Routinen zu schaffen, wenn die alten wegbrechen. Eine neue Routine ist, dass jetzt häufiger Wespen Zuflucht in meiner Wohnung suchen und ich sie lasse. Sie sind meistens sehr schwach und kommen bei mir vorbei, um zu sterben. Wespen gehören eigentlich zu den Top Drei der Lebewesen, die ich verfluche. Aber die, die jetzt zum Sterben vorbeikommen – mit denen habe ich Mitleid.

Im Gegenzug bemerke ich, dass häufiger Arschlochmenschen aus ihren Wohnungen nach draußen gehen. Es heißt, dass sie nach draußen gehen, um zu demonstrieren. Sie demonstrieren hauptsächlich Arschlochtum. Manche tragen einen gekreuzigten Jesus mit sich herum, manche tragen Herzchenluftballons, manche tragen Hoodies mit Sophie-Scholl-Aufdruck, manche tragen abgeklebte Tattoos. Maske tragen sie nicht. In der Regel habe ich Mitgefühl mit Menschen, aber für diese Leute habe ich nur Verachtung.

Es gibt Tage, da kann ich Routine, und welche, da kriege ich nichts hin. Morgens eine Runde raus, um einen Arbeitsweg zu suggerieren. Mittags weg vom Bildschirm. Meine zuverlässigste Routine ist die Neunzehn. Sie kommt von allein, an jedem 19. des Monats, pünktlicher als meine Periode. Manchmal schließe ich den Briefkasten auf und sie klemmt zwischen der Zeitung und dem Flyer einer Entrümpelungsfirma. Manchmal türmt sie sich vor meiner Haustür auf wie ein überdimensionaler Laubhügel. Oder sie leuchtet auf dem Handydisplay. An jedem 19. denke ich an Hanau.

Als hätte ich Kreuzchen im Kalender gemacht, habe ich aber nicht. Mein Kalender ist seit dem Frühling ein Souvenir von anderswo. Ich frage mich, ob bei der Bundeskanzlerin irgendwo ein Post-it rumfliegt, auf dem steht „noch mal was zu Hanau sagen“. Ob es ihr ein schlechtes Gewissen macht. Weil es ja eine Zäsur war, aber dann waren so viele andere Zäsuren, dass wir mittlerweile ein paar Meter näher Richtung Meeresspiegel abgesackt sind. Wie tief kann man schneiden, bis man auf der anderen Seite herauskommt?

Alles bloß Routine

Unsere Augen sind müde von 18 Stunden Bildschirmzeit. Routine ist auch, sich zu erinnern, dass es anderen schlechter geht. Manchmal denken wir, wir nehmen uns zu wichtig, aber man muss sich selbst wichtig nehmen, wenn kaum jemand anders es tut. Es ist nicht fair, dass sie die Neunzehn wie eine von vielen in einer Reihe aufstellen, und es ist ein Skandal, dass sich keine:r die Zeit nimmt für eine Anamnese. Bloß sind Skandale jetzt auch Routine, deshalb wirken sie nicht.

Wir sehen derweil zu, wie immer mehr Beulen entstehen. Wir haben gelernt, dass in einer Pandemie Arschlochtum demonstriert werden darf, aber man sich nach rassistischen Morden nicht zum Mahnen und Gedenken versammeln kann. Diagnose: gesellschaftliche Langzeitschäden. Immer der Neunzehnte, Routine.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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