Nach der Flugzeugkaperung in Belarus: Jenseits aller roten Linien
Das belarussische Volk ist in kollektiver Geiselhaft. Doch für die EU war erst eine Flugzeugentführung nötig, um das Land wieder auf die eigene Agenda zu setzen.
S pätestens seit der aberwitzigen Kaperung einer Ryanair-Maschine über Belarus, um eines regimekritischen Bloggers habhaft zu werden, müsste nun auch der/die Letzte verstanden haben: Der sogenannte belarussische Präsident Alexander Lukaschenko setzt immer noch einen drauf.
Jüngstes Beispiel dafür sind seine hanebüchenen Äußerungen, um diesen staatsterroristischen Akt zu rechtfertigen. Da ist von rechtmäßigem Handeln aus Sicherheitsgründen die Rede. Schuld sind, wie üblich, die inneren und äußeren Feinde von Belarus, die rote Linien sowie die Grenzen des gesunden Menschenverstandes und der menschlichen Moral überschritten hätten. Menschliche Moral, geht’s noch?
Was Lukaschenko unter „Moral“ versteht, ist bereits seit der gefälschten Präsidentenwahl im vergangenen August zu besichtigen. Moralisch ist offenbar nur, was seinem Machterhalt dient. Das ist gleichbedeutend mit einer Art Freifahrtschein, jede/n, der oder die sich tatsächlich oder vermeintlich in den Weg stellt, zu demütigen, zu foltern – ja notfalls sogar zu töten.
Um sich das täglich vor Augen zu führen, bedarf es lediglich der Lektüre einschlägiger Nachrichtenportale. Die kommen mit der Auflistung menschlicher Schicksale schon längst nicht mehr hinterher.
Fast ein wenig zynisch
Angesichts dieser kollektiven Geiselhaft eines ganzen Volkes – noch dazu quasi vor der Haustür Europas – muten die vielen anerkennenden Worte für die „schnelle und einmütige“ Reaktion der EU auf Lukaschenkos Flugzeugentführung fast ein wenig zynisch an. Denn offensichtlich bedurfte es erst der jüngsten Grenzüberschreitung, um Belarus wieder auf die Tagesordnung zu setzen, sich nicht in mäandernden Debatten zu verlieren, sondern weitere Strafmaßnahmen gegen Minsk zu verhängen.
Doch von deren möglichen Auswirkungen einmal abgesehen, ist Lukaschenkos jüngste Botschaft eindeutig: Für ihn gibt es überhaupt keine roten Linien mehr. Im Klartext heißt das: Der „Griff nach den Sternen“ dürfte nicht seine letzte Verzweiflungstat gewesen sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken