Nach dem Terror von Orlando: Habt ihr uns wirklich lieb?
Die Zeiten für Minderheiten sind nie wirklich gut. Aber das Massaker von Orlando fällt in eine Phase, in der in der Community wieder Ängste wachsen.
So lange ist es noch nicht her, Anfang der Neunziger trug sich diese Szene zu. „Man müsste ihnen glühende Eisenstangen in den Arsch rammen“, sagte der blonde junge Mann und zündete sich eine Zigarette an.
Es war ein Sommerabend in einer mittleren deutschen Stadt, und der blonde junge Mann trug unglaublich kurze Hosen, die seine muskulösen Oberschenkel zur Geltung kommen ließen. Mit „ihnen“ meinte der blonde Schöne Homosexuelle. Es handelte sich um einen Ausbruch von Homophobie, wie er im Lehrbuch steht.
Zu dritt hatten wir dort herumgestanden, drei Männer, die einander flüchtig kannten. Ohne irgendeinen Anlass hatte der Blonde seinen Gewaltfantasien freien Lauf gelassen. Der Dritte im Bunde, ein Psychologiestudent, zwinkerte mir amüsiert zu – er hatte das Problem souverän durchschaut: eigenes, verdrängtes homosexuelles Begehren, das in blinde Aggression umschlug.
Was nun beide nicht wussten: Ich war auch einer von denen, die mit der Eisenstange penetriert werden sollten, traute mich zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht, dies mir selbst oder gar meiner Familie oder meinen Freunden einzugestehen. Da war nur ein Gefühl von Scham und Schuld, eine dunkle Kraft ganz fern der Liebe, vor allem der Selbstliebe. Und: Angst.
Kampf um die Deutungshoheit
In der Woche nach dem Anschlag auf den LGBTTIQ*-Club Pulse in Orlando herrschte ein Durcheinander der Gefühle. Es gab Betroffene, Wütende, Abgestumpfte und auch solche, die angesichts des unerfreulichen Weltgeschehens lieber Fußball schauen wollten. Es gab einen Kampf um die Deutungshoheit: War es ein homophober, ein islamistischer, ein terroristischer oder einfach nur ein weiterer Anschlag eines Irren, der sich problemlos in den USA Waffen kaufen konnte?
Und dann gab es noch eine Debatte über Trauerkultur in Deutschland, die nach fast einer Woche ein halbwegs gutes Ende gefunden hat: Nach Paris, New York und Bielefeld wird nun auch das Wahrzeichen der deutschen Hauptstadt, das Brandenburger Tor, in den Farben des Regenbogens angestrahlt.
Stefan Bothe ist Talkshow-Stammgast. Anne Will, Plasberg, Gottschalk – Bothe ist immer dabei. Wir haben ihn für die taz.am wochenende vom 18./19. Juni begleitet und einen Ort des diskursiven Miteinanders erkundet. Außerdem: Noch fünf Tage, dann stimmen die Briten über die Zukunft in der EU ab. Gehen oder bleiben? Unser Autor untersucht die Gemütslage. Und: Bald will der Berliner Senat Bierbikes verbieten. Ist es wirklich so schlimm? Höchste Zeit, einmal mitzufahren. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Sogar die Bundeskanzlerin konnte sich am Freitag dazu durchringen, die Worte „Schwule und Lesben“ im Zusammenhang mit Orlando doch noch in den Mund zu nehmen, nachdem sie kritisiert worden war: Nörgeln und nerven musste die LGBTTIQ*-Community in Deutschland, damit jemand mal kurz das Licht anknipst und ihren Namen nennt, und am Ende fühlt es sich dann an wie ein Liebesbekenntnis, das man erbetteln musste oder gar mithilfe moralischer Daumenschrauben erpresst hat. Habt ihr uns auch wirklich lieb?
Solidarität zu bekunden kostet eigentlich nichts, aber es gibt eben Menschen, die nichts zu verschenken haben.
Ernst genommen werden
In Großbritannien ließ sich der Thronfolger in der Woche nach Orlando für den Titel des Schwulenmagazins Advocate ablichten, um seine Solidarität zu demonstrieren. Freiwillig. In den USA war es für Barack Obama ganz normal, spontan diesen Satz zu sagen: „This is an especially heartbreaking day for our friends and fellow Americans who are lesbian, gay, bisexual or transgender.“
Kleine Gesten, große Wirkung. Das Gefühl, nicht alleine zu sein, ernst genommen und notfalls auch beschützt zu werden hilft gegen Angst. Fast alle Minderheiten haben in ihrem Leben Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen gemacht, auch wenn sie meist darüber schweigen. In der Öffentlichkeit mag der Eindruck entstehen, dass Homosexuellenverbände und AktivistInnen überproportional nerven, Homophobie hier, Rassismus und Sexismus dort. LGBTTIQ* – allein schon diese Wort- und Buchstabenungetüme, ein Getrommel, ein Gewese. Im Alltag jedoch wird man wenigen queeren Menschen begegnen, die über diese Erfahrungen und Ängste sprechen. Sogar untereinander sind sie weitgehend tabu.
Erfolgreich und muskulös
Ich erinnere mich an eine gemütliche Runde, ein paar Jahre erst ist das her: Großstadtschwule unter sich, alle irgendwie erfolgreich, gut aussehend und muskulös. Plötzlich fingen sie an, erstmals zu erzählen, nach Jahren der Vertrautheit: von den Demütigungen, Überfällen und Ohrfeigen. Vom Angespuckt- und Angezischtwerden auf offener Straße. Sie erzählten von Angst und Scham, nur einen Abend lang.
Es ist nicht cool, Opfer zu sein. Es passt auch nicht zur mühsam errungenen, stolzen Selbsterzählung, dem Facebook-Ich, das gerade vom Flughafen kommt und nach dem Gym noch in den Club will. Auch möchte man sein heterosexuelles Gegenüber nicht ständig kompromittieren, gar auf die Anklagebank setzen. Wer von einem kollektiven „Wir“ erzählt, schafft auch ein „Ihr“. Schafft Distanz, obwohl man doch dazugehören will. Ein Widerspruch, der sich schwer auflösen lässt.
Und dann sind da plötzlich die Bilder aus Orlando, die sich für viele von uns anfühlen wie ein wahr gewordener Albtraum. Glühende Eisenstangen. In der US-Serie „Queer as Folk“, der ersten wichtigen Mainstreamsendung, die in den Nullerjahren den Alltag von Schwulen und Lesben thematisierte, gab es einen Anschlag auf das Babylon, einen Gayclub. Es gab viele Tote, aber wer die Bombe gelegt hatte, weiß ich gar nicht mehr. Evangelikale? Islamisten? Konservative Katholiken? Orthodoxe Juden? Russische Nationalisten? Neonazis? War es ein Vater, der seinem schwulen Sohn nach dem Leben trachtete? Oder ein verhinderter Homosexueller, der seinen Selbsthass mit christlichem Fundamentalismus bemäntelte, um möglichst viele Sünder ins Jenseits zu befördern?
Es gibt so viele Menschen, die LGBTTIQ* hassen, und so viele Institutionen, die diesen Hass noch immer befördern. Aber ich habe nun extra noch mal nachgeschaut: Wer die Bombe im Babylon gelegt hat, wird in der Serie gar nicht klar. Vielleicht hat man die Frage der Täterschaft mit Absicht im Vagen belassen, um hässliche, wiederum ausgrenzende Debatten und Instrumentalisierungen zu vermeiden.
Alarmierender Anstieg von Homophobie
Die Zeiten für Minderheiten sind eigentlich nie wirklich gut, aber das Massaker von Orlando fällt in eine Zeit, in der vielerorts Ängste wachsen. Auch in Deutschland gibt es einen Rechtsruck, nicht wenige queere Menschen fürchten, dass ihre Anliegen in Zukunft geopfert werden, um Druck aus dem Kessel zu nehmen. Manche dieser Befürchtungen mögen überspannt wirken, aber einige dieser Menschen haben auch ein unschöne Geschichte hinter sich. Der Paragraf 175 – für die Homosexuellen war die Nazizeit erst 1969 beendet. Aids – eine Epidemie, deren Erleben manche der Schwulen, die sie überlebt haben, mit einer Art Krieg vergleichen.
Angst ist kein guter Ratgeber. Sich beleidigt oder furchtsam in eine Schneckenhaus zurückzuziehen wird die Probleme nicht lösen. Gerade erst wurde in der Leipziger Studie „Die enthemmte Mitte“ ein alarmierender Anstieg von Homophobie festgestellt. Die Studie ist umstritten, so wie fast alle Studien. Aber auch ohne sie kann man wissen, dass es in diesem Land wieder salonfähig geworden ist, über Minderheiten „endlich mal zu sagen“, was man denkt. Und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat gerade entschieden, dass es keineswegs ein „Menschenrecht auf die Homo-Ehe“ gibt, also kein einklagbares Recht auf eine Eheschließung.
Der LGBTTIQ*-Community wird es auch in Zukunft nicht erspart bleiben, zu nörgeln und zu nerven – also ihre Interessen als Minderheit zu vertreten. Wenn ich die eingangs erwähnte Sommerabendszene heute erleben würde, dann hätte ich ganz sicher einen Spruch auf den Lippen, um den Blonden in seine Schranken zu weisen. Aber, wie sich zeigt: Stärkeres Selbstbewusstsein von Einzelnen reicht nicht. Auch der Psychologiestudent darf Homophobie nicht schweigend hinnehmen.
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