Nach dem Brexit-Referendum: They'll leave
Schottland und Nordirland stimmen deutlich für den Verbleib in der EU, England und Wales dagegen. David Cameron kündigt seinen Rücktritt an.
„Eine Überraschung“ nannte die Vorsitzende der offiziellen Austrittskampagne, die deutschstämmige Labour-Abgeordnete Gisela Stuart, das Ergebnis in Manchester am frühen Morgen und rief zur Ruhe auf. Es sei ein Votum gegen den Mangel an Demokratie in der EU, nicht gegen Europa. Das sei nun der Beginn eines Prozesses zum Austritt.
Es war ein Versuch der Mäßigung, nachdem als erster Nigel Farage, Führer der rechtspopulistischen United Kingdom Independence Party (UKIP), im Morgengrauen eine Siegesrede gehalten hatte, als erst zwei Drittel der Ergebnisse bekannt waren. „Dies wird ein Sieg für richtige Menschen sein“, sagte er, „für normale Menschen, für anständige Menschen“. Man habe lange gekämpft, „gegen die Multis, gegen Big Business, gegen Lügen und Korruption“.
In einer weiteren Erklärung nach Verkündung des offiziellen Ergebnisses erklärte Farage am Morgen vor dem Parlamentsgebäude, Großbritannien habe sich von einer gescheiterten Union befreit und dieser Brexit-Erfolg sei beispielhaft für andere europäische Länder, deren Bürger ebenfalls den Austritt wünschten. Europas Zukunft liege in einer „Zusammenarbeit zwischen souveränen Nationalstaaten“, so der UKIP-Chef. Farage forderte einen Rücktritt des konservativen Premierministers David Camerons zugunsten einer „Brexit-Regierung“ und die Einrichtung des 23. Juni als öffentlicher Feiertag in Großbritannien, „Independence Day“.
Corbyn respektiert Ergebnis
EU-Befürworter sprachen von einer Katastrophe für Großbritannien und für die EU. Die einzige grüne Parlamentsabgeordnete Caroline Lucas sagte, sie habe jetzt ein „gebrochenes Herz“. Labour-Führer Jeremy Corbyn erklärte am Morgen: „Das britische Volk hat seine Entscheidung gefällt und sie muss respektiert werden“. Er führte den Brexit-Sieg darauf zurück, dass „viele Gemeinschaften die Schnauze voll haben, von Kürzungen und ökonomischer Marginalisierung“.
Premierminister David Cameron trat nach etwas Bedenkzeit und einem Besuch bei der Queen gemeinsam mit seiner Ehefrau vor die Presse in Downing Street und kündigte seinen Rücktritt bis Oktober an. Das Land brauche eine „frische Führung“, um es in die Richtung zu steuern, die das Volk bestimmt habe, sagte der Regierungschef. Die Briten seien seiner Empfehlung nicht gefolgt, aber ihr Wille müsse respektiert werden, sagte Cameron und betonte, er sei „sehr stolz und geehrt“, Großritannien sechs Jahre lang geführt zu haben.
Die konservative Partei soll nun bis zu ihrem nächsten regulären Parteitag einen neuen Führer bestimmen, der dann auch die Austrittsverhandlungen mit der EU führt. Cameron machte damit auch klar, dass er nicht – anders als vor dem Referendum angekündigt – sofort die Austrittsklausel der EU-Verträge aktivieren wird, die eine zweijährige Frist für Austrittsverhandlungen setzt. Auch das soll erst ein neuer Premier machen.
Die Finanzmärkte in Asien reagierten noch in der Nacht mit scharfen Abwertungen des britischen Pfundes und des Euro gegenüber dem US-Dollar, da nun eine jahrelange Zeit ökonomischer und politischer Unsicherheit erwartet wird. Das Pfund fiel zeitweise auf den tiefsten Stand gegenüber dem Dollar seit 1985.
Die niederländische Rechte verlangt ein eigenes EU-Referendum. In Schottland erklärte die Premierministerin der Regionalregierung, Nicola Sturgeon von der Scottish National Party (SNP), die Schotten hätten sich für die EU ausgesprochen; ihr Umfeld stellte einen neuen Anlauf für ein Unabhängigkeitsreferendum in Schottland in Aussicht. In Nordirland verlangte die katholisch-republikanische Sinn Fein, politischer Flügel der einstigen Terrororganisation IRA, ein irlandweites Referendum über die Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik Irland.
London stimmt klar pro-EU
Das Referendum zeigt eine klare regionale Spaltung des Vereinigten Königreiches. Schottland und Nordirland stimmten für den Verbleib in der EU, England und Wales dagegen. In Schottland beträgt die EU-Mehrheit 62 Prozent, in Nordirland 56 Prozent: Die Austrittsbefürworter holten in Wales demgegenüber 52 Prozent und in England 53 Prozent.
Von allen englischen Regionen stimmte lediglich London für die EU, mit 60 gegen 40 Prozent. Die höchsten Mehrheiten, mit fast 80 Prozent, gab es in Lambeth und Hackney, zwei der ärmsten Bezirke mit hohen Migrantenanteilen. Außenbezirke mit der durch Gentrifizierung aus der Stadt verdrängten weißen unteren Mittelschicht stimmten demgegenüber mit bis zu 70 Prozent gegen die EU. Pro-EU-Mehrheiten gab es auch in den reicheren ländlichen Gebieten des Londoner Speckgürtels oder der Cotswolds, wo Premier Cameron seinen Wahlkreis hat und die Geldelite lebt, sowie vielen Großstädten wie Oxford, Bristol oder Liverpool.
Für den Austritt stimmten vor allem die ökonomisch abgehängten ehemaligen Industrieregionen in Nordengland und den Midlands sowie die ländlichen Regionen Englands, vor allem im Osten, teils mit mehr als zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen. Das war erwartet worden, nicht aber die außerordentlich hohe Wahlbeteiligung von 72 Prozent, die bei Parlamentswahlen zuletzt vor 24 Jahren erreicht wurde. In vielen der Brexit-Regionen gehen viele Wahlberechtigte bei Parlamentswahlen normalerweise nicht zur Wahl, weil sie in sicheren Labour-Wahlkreisen leben und ihre Stimme keinen Einfluss auf die Sitzverteilung hat – bei einer Volksabstimmung ist das anders.
Überrraschend für viele Meinungsforscher war, dass Wales mehrheitlich für den Austritt stimmte. Auch Austrittsmehrheiten in einzelnen Großstädten wie Birmingham und Sheffield waren nicht unbedingt erwartet worden.
Das Ergebnis widerspricht den meisten Umfragen; vor allem in den letzten Tagen war von Seiten der EU-Befürworter das Gefühl verbreitet worden, man habe den Brexit-Elan der Vorwoche gebrochen und steuere auf einen sicheren Sieg für den Status quo zu. Aber schon mit den ersten Ergebnissen wurde deutlich, dass es anders ausgehen könnte – und im Laufe der Nacht verstärkte sich dieser Trend immer mehr.
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