Nach dem Anschlag in Hanau: Absage an Hessen
Die Angehörigen und Überlebenden von Hanau legen Beschwerde gegen Hessen ein. Sie werfen den Behörden Uneinsichtigkeit und mangelnde Aufklärung vor.
Es war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der im vergangenen Jahr eine „lückenlose Aufklärung“ der rassistischen Morde in Hanau forderte. Doch es sind wieder die Familien der neun Opfer und die Überlebenden des Anschlags selbst, die diese Aufklärung weiter antreiben müssen, damit sie nicht in Vergessenheit gerät. Denn zu viele Fragen sind immer noch offen. Eine ganz zentrale lautet: Warum wurde die Tat von den Sicherheitsbehörden nicht verhindert?
Diese Frage liegt nun auch der Dienstaufsichtsbeschwerde zugrunde, die die Familien an diesem Montag gegen das Land Hessen erhoben haben. In einem Schreiben ihrer Anwälte an das hessische Innenministerium werden die polizeilichen Versäumnisse detailliert aufgelistet, welche die Tat nicht nur nicht verhindert, sondern teilweise auch begünstigt haben: Der unterbesetzte Polizeinotruf etwa, den Vili Viorel Păun dreimal angerufen und nicht erreicht hatte, bevor er den Täter selbst verfolgte und von diesem erschossen wurde.
Der verschlossene Notausgang der Arena Bar, von dem die Behörden wussten und durch den sich mehrere Menschen hätten retten können. Die Videoaufzeichnung aus dem Arena Kiosk nebenan, welche zeigt, dass die eintreffenden Polizisten die Vitalfunktionen des anscheinend zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Ferhat Unvar nicht überprüften, sondern einfach über seinen Körper hinwegstiegen. Hinzu kommt die Verletzung des Totenfürsorgerechts der Familien, die ihre toten Angehörigen weder vor der Obduktion sehen durften noch darüber informiert wurden, wo die Leichname sich befanden und dass diese obduziert werden würden.
Seit dem 19. Februar 2020 hatten die Angehörigen und Überlebenden von Hanau weder Zeit zu trauern noch sich von der Tat zu erholen. Unermüdlich organisieren sie Proteste, sprechen mit der Presse, betreiben selbst die Ermittlungsarbeit, die eigentlich die hessischen Behörden leisten sollten. Es ist unvorstellbar, dass neben so viel aktivistischer Arbeit, diesem Trauma und dann noch der globalen Pandemie irgendwer von diesen Menschen imstande ist, sich auch noch auf eine Lohnarbeit zu konzentrieren. Deshalb fordern ihre Anwälte in dem Schreiben an das hessische Innenministerium einen Ausgleich für materielle Schäden, die entstanden sind.
Ein Versuch, sich aus der Verantwortung zu ziehen
Doch es ist auch von „immateriellen Schäden“ die Rede. Und deren Ausgleich wird wohl den mühsameren Prozess darstellen. In einem disziplinarrechtlichen Verfahren könnte der hessische Innenminister Peter Beuth nun die dargelegten Versäumnisse aufarbeiten und Maßnahmen gegen einzelne verantwortliche Beamte einleiten. Verpflichtet ist er dazu noch nicht. Letztes Jahr lobte Beuth die „exzellente Aufklärungsarbeit“ der hessischen Polizei in dieser Sache.
Man ahnt es: Wer das Behördenversagen im Fall Hanau mit solchen Worten umschreibt, der hat kein besonderes Interesse daran, die Fehler in den eigenen Strukturen aufzuklären. Jedenfalls haben die Anwälte ihm eine Frist bis zum 23. April gesetzt. Sollte das Innenministerium den Forderungen bis dahin nicht nachkommen, erwägt man, eine Amtshaftungsklage beim zuständigen Gericht einzureichen.
Doch ungeachtet der Konsequenzen, die aus der Dienstaufsichtsbeschwerde folgen oder nicht folgen werden: Dieser Schritt der Familien und Überlebenden ist auch als eine Art Absage zu lesen. Eine Absage an das Land Hessen, welches sich mit dem Fokus auf den Einzeltäter aus der eigenen Verantwortung zu ziehen versucht. Und eine Absage an den Glauben, dass mit groß inszenierten Gedenkfeiern und Kranzniederlegungen die Opfer ausreichend gewürdigt worden seien. Die einzig akzeptable Würdigung dagegen – so betonen es die Angehörigen immer wieder – wäre, dafür Sorge zu tragen, dass sich Hanau nicht wiederholen kann. Und solange die Behörden ihre Fehler nicht sehen und aufarbeiten, wollen sie auch nicht aus ihnen lernen.
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