Nach dem Abzug aus Afghanistan: Wahnsinniger Hochmut
Die Aufarbeitung des Militäreinsatzes in Afghanistan wird gemieden wie ein heißes Eisen. Grund dafür ist die Angst vor bitteren Erkenntnissen.
W ie konnte es geschehen, dass wir Afghanistan so schnell wieder vergessen haben. Nicht das Land, das hat uns nie besonders interessiert, sondern den Krieg, an dem wir 20 Jahre lang beteiligt waren. Wie kann es sein, dass all jene, die militärische Interventionen für notwendig erachten, für ein legitimes Instrument der Außenpolitik, jetzt nicht hinterfragen, wie Hunderttausende Menschen sterben konnten und weit mehr als eine Billion Dollar ausgegeben wurde, mit dem Resultat, dass erneut die Taliban regieren.
Wie kann es sein, dass wir als angeblich rationale, zivilisierte Gesellschaft nun unsere Annahmen und Wertigkeiten nicht einer grundsätzlichen Kritik unterziehen? Die Antwort liegt auf der Hand: Eine solche Auseinandersetzung würde unsere Blindheit offenbaren, das ganze Ausmaß einer Tragödie, die an erster Stelle darin besteht, dass der „Westen“ oder die „USA und ihre Lakaien“ Afghanistan umfassend neu gestalten wollten, erschaffen im eigenen Bild, nach unserem Gleichnis.
Sich dem Fiasko des Einsatzes zu stellen würde bedeuten, sich kritisch mit der eigenen ideologischen Anmaßung zu beschäftigen, was Fortschritt heißt und wie er erzielt werden kann. Jetzt wissen wir zumindest eines: nicht auf diesem ruinös destruktiven Weg. Wenn zukünftige Generationen auf diese Epoche zurückblicken, werden sie den gewaltigen Wahn westlicher Allmachtsfantasien klarer erkennen.
Um solche Katastrophen in Zukunft zu verhindern, ist es notwendig, einige der größten Fehler zu benennen, die eigentlich keine Fehler sind, sondern unserer politischen DNA seit dem Imperialismus eingeschrieben.
ist Schriftsteller, Weltensammler und Autor zahlreicher Bücher. Im August 2020 erschien sein neuer Roman „Doppelte Spur“ bei S. Fischer.
1. Als wäre das Präsidialsystem der Demokratie letzter Schluss, wurden gleich nach der Vertreibung der Taliban ein zentralistisches System und ein Staatsoberhaupt mit zu viel Macht installiert. Anstatt mit Blick auf die regionalen Unterschiede im Land eine Demokratisierung von unten zu fördern, lokal und kommunal, unter Berücksichtigung gewachsener Strukturen und mit Einbindung aller Menschen in einem Prozess der selbst gestalteten Ermächtigung.
2. Obwohl das ursprüngliche Ziel des militärischen Einsatzes die Vernichtung von al-Qaida war und große Teile der Taliban mit dieser Terrororganisation nichts zu tun hatten, wurden die Taliban von Anfang an dämonisiert und zu keiner der vermeintlich inklusiven Konferenzen eingeladen. 19 Jahre lang wurde weiter Krieg geführt, obwohl der ursprüngliche Kriegsgrund weggefallen war, gegen Kräfte, die keine Möglichkeit hatten, sich in eine pluralistischere Gesellschaft einzubringen.
3. Korruption und Gewalt. Nur eine Zahl sei genannt: Laut einer Studie der UNO zahlten Afghaninnen schon im Jahre 2010 Bestechungsgelder in Höhe von 2,5 Milliarden Dollar an Soldaten, Richter und Beamte, sogar an Lehrer und Ärzte. Unter den Taliban durften die Menschen wenig, unter der neuen Regierung mussten sie blechen. Zudem waren unter den einheimischen Verbündeten der internationalen Menschenrechtsmissionare jene brutalen Warlords, die das Land zuvor zugrunde gerichtet hatten.
4. Lügenschützenhilfe. Von Anfang wurde dieser Angriffskrieg (Pardon: „die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe“) begleitet von euphemistischen Exzessen. Je düsterer die Lage, desto mehr musste rhetorisch aufgerüstet werden. Auf der einen Seite die teuflischen Taliban, die unsere Zivilisation gefährden, auf der anderen die phänomenalen Fortschritte, für deren Absicherung es halt noch ein wenig Gewalt braucht.
Ein propagandistisches Schneeballsystem, das zusammenbrechen musste, spätestens als die Zahl der Nato-Soldaten im Land die 100.000 überstieg, als sich Selbstmordattentate häuften, Drohnen Kinder zerfetzten und Bomben Hochzeiten in Beerdigungen verwandelten. Die mediale Berichterstattung fokussierte sich zuletzt auf das schlechte Management der Götterdämmerung.
Als hätte sich bei einem geordneten Rückzug mit würdevollem Schutz für all die Afghaninnen, die gefährdet waren und es weiterhin sind, die Frage nach dem Unsinn des ganzen Unterfangens erübrigt. Anstatt unser Versagen anzuerkennen (natürlich vor allem jenes der USA, aber wie der Volksmund sagt: mitgefangen, mitgehangen), ist es simpel und billig zu behaupten, die Menschen in Afghanistan seien zu rückständig oder zu muslimisch oder zu tribalistisch gewesen.
Anstatt zu fragen, ob die Unbelehrbaren nicht eher im „Westen“ als im Hindukusch sitzen und ob es nicht gute Gründe gibt, Geschenke abzulehnen, die mit Gewalt verteilt werden, beharren viele darauf, Afghanistan wäre einfach nicht bereit gewesen, von uns gerettet zu werden. Wir haben als Gesellschaft viel zu wenig diskutiert, was wir in Afghanistan eigentlich tun (nein, nicht Schulen bauen, die fehlen auch im Kongo und in Papua-Neuguinea, wenn ich es mir recht überlege, fehlen die vielerorts).
Und ob wir durch unser Eingreifen nicht zu einer Spirale der Gewalt beitragen, die das Land inzwischen völlig traumatisiert hat. Zu selten haben wir protestiert gegen das, was in unserem Namen und mit unseren Steuergeldern dort geschieht. Wie immer wir es drehen und wenden, der Krieg in Afghanistan hat bewiesen, dass die demokratische Kontrolle über kriegerische Einsätze bei uns viel zu schwach ausgebildet ist.
Was wäre geschehen, wenn wir der afghanischen Historie mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätten? Wenn wir akzeptiert hätten, dass es verschiedene Formen der Ordnung gibt (wieso Polizei, wenn der Dorfälteste den Konflikt besser lösen kann)? Wenn wir eingesehen hätten, dass Demut besser ist als Arroganz, Zuhören besser als Belehren? Und dass Geld manchmal noch größere Probleme schafft? Wir sollten nun trauern, um all die Opfer, aber auch nachdenken, über unsere demokratieuntaugliche Hybris.
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